Verschwundene Orte in Tschechien

Vernerice / Wernstadt (Foto: www.zanikleobce.cz)
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In einer Datenbank im Internet sind über 1300 Orte in Tschechien verzeichnet, die ganz oder teilweise verschwunden sind. In den Grenzgebieten der böhmischen Länder, den ehemaligen Sudetengebieten, sind nach 1945 hunderte Ortschaften verschwunden, weil die deutschen Bewohner aus ihnen vertrieben wurden. Andere Dörfer wurden in den fünfziger Jahren aufgelöst, weil sie zu dicht an der Staatsgrenze lagen. In unserem heutigen Geschichtskapitel geht es um verschwundenen Orten in Tschechien.

Zanikleobce.cz. Hinter dieser Internetadresse verbirgt sich eine umfassende und ständig wachsende Datenbank, die dem Benutzer Informationen über verschwundene Orte in Tschechien bietet. Neben statistischen Übersichten und Karten gibt es dort zahlreiche Postkarten und Fotos. Diese zeigen viele Orte in ihrem ursprünglichen und in ihrem heutigen Zustand. Pavel Beran ist der Initiator dieses Projekts:

"Die Internetseite zanikleobce.cz. zielt darauf ab, verschwundene Siedlungen in Tschechien zu kartieren. Ursprünglich bezog sich das nur auf das Grenzgebiet und auf Nordböhmen. Schrittweise wurden der Böhmerwald und weitere Gebiete einbezogen. Heute sammeln wir Informationen über das ganze tschechische Gebiet. Am Anfang haben wir uns auch nur auf verschwundene Städte, Dörfer und Gemeinden konzentriert. Mittlerweile sammeln wir aber auch Informationen über verschwundene Objekte, wie zum Beispiel, Kirchen, Fabriken, Mühlen, Schlösser und ähnliches", so Beran.

In der Datenbank sind mittlerweile über 1300 ganz oder zum Teil verschwundene Orte verzeichnet. Warum sind diese Orte verschwunden?

"Den größten Raum nehmen Orte und Objekte ein, die als Folge der Aussiedlung der deutschen Bevölkerung allmählich verschwanden. Ein weiterer wichtiger Grund für die Auflösung von Ortschaften war die Einrichtung von so genannten Grenzschutzzonen. Auch durch die industrielle Entwicklung mussten Ortschaften weichen, so zum Beispiel durch die Ausweitung der Kohleförderung oder der Bau von Wasserwerken und Talsperren. Als letzter wichtiger Grund ist die Einrichtung von Militärübungsgeländen zu nennen."

Die meisten verschwundenen Orte befanden sich in den ehemaligen Sudetengebieten. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Deutschen vertrieben und die freigewordenen Gebiete mit Tschechen wiederbesiedelt. Die etwa 1,7 Millionen Neusiedler reichten aber nicht aus, um alle Häuser, Dörfer und Städte ausreichend zu besiedeln. Tausende von Fabriken und Betrieben wurden wegen Arbeitskräftemangel geschlossen oder verlegt, Bauernhöfe aufgelöst, landwirtschaftliche Flächen aufgeforstet. Die Menschen, die neu in die Grenzgebiete kamen, ließen sich vorzugsweise in landwirtschaftlich attraktiven Gebieten oder in den Städten nieder. Hunderte von Siedlungen und Dörfern waren in der Folge nur noch sehr spärlich oder gar nicht mehr bewohnt. Die Stadt und der Bezirk Decin / Tetschen liegen in Nordböhmen. Auch Decin wurde Schauplatz dieser umfassenden Bevölkerungsverschiebungen. Über verschwundene Orte in Decin sprach ich mit dem stellvertretenden Direktor des Bezirksarchivs in Decin Petr Joza auf dem Hof des Deciner Schlosses:

Welche Auswirkungen hatten die Aussiedlung der Deutschen und die Wiederbesiedlung in Decin?

"Man muss sich das so vorstellen: Bereits im Herbst 1945 beklagt sich die Stadtverwaltung, dass es hier in der Stadt Wohnungsnot gibt. Das ist eigentlich immer so geblieben. Aber die umliegenden Orte waren menschenleer. Das heißt, die Besiedlung ist eigentlich nie vollendet worden. Im Jahr 1949 wurden die kleineren Häuser mit bis zu drei Wohnungen an Privatleute verkauft, für ziemlich kleines Geld. Aber in den kleineren Orten war das nicht möglich, weil es da keine Arbeit gab. Die Strukturen, wie sie vor 1945 waren, waren total zerstört. Die Firmen, die Arbeit angeboten hatten, waren meistens mittlerweile liquidiert.

Ich habe das am Beispiel von Wernstadt studiert, das heutige Vernerice. Das liegt im böhmischen Mittelgebirge. Das war eine kleine Stadt, aber mit mehreren Fabriken, mit eigener Brauerei und mehreren Mühlen, mit Landwirtschaft drum herum. Innerhalb von vier fünf Jahren nach Kriegsende war es ein Ort, wo keiner leben wollte, wo es fast keine Industrie mehr gab. Wenn Sie heute dorthin fahren, dann stellen Sie fest, dass sich die Stadt bis heute nicht davon erholt hat. Es gibt nach wie vor Ruinen und auf dem Marktplatz sind Lücken in den Häuserreihen. Ich glaube, erst jetzt kommt die Zeit, wo solche Orte wieder belebt werden und neue Leute kommen beziehungsweise sich die Nachkommen der ersten Siedler dort heimisch fühlen und dort etwas leisten wollen."

Das grundsätzliche Problem war ja, dass mehr Menschen die Grenzgebiete verlassen hatten, als Neusiedler kamen!

"Natürlich, das ist ganz logisch, wenn man drei Millionen Menschen aus einem Land wie die Tschechoslowakei von einem Tag auf den anderen rausschmeißen will, wenn man das so sagen kann, dann kann man die nicht ersetzen. Jedenfalls nicht mit den Mitteln, die im Staat vorhanden waren. Es wurde versucht, so genannte Auslandstschechen zurückzuholen, zum Teil aus Russland, aus Wolhynien, zum Teil auch aus Deutschland. Es gab viele Tschechen, die seit zwei Generationen in Deutschland gearbeitet haben. Ein Großvater von mir ist im Ruhrgebiet geboren, meine Mutter auch, aber der Urgroßvater war ein Tscheche, der da als Bergarbeiter hingekommen ist. Diese Leute konnten zum Teil gar kein Tschechisch. Meine Mutter kam als Kind und konnte kein Wort Tschechisch und ihre Mutter auch nicht. Aber solche Leute wurden dann zurückgeholt, als Tschechen, um die Löcher hier zu stopfen. Das hat aber nicht gereicht und das Ergebnis war der Rückgang der Zahl bewohnter Häuser in fast allen Orten, ausgenommen große Städte, wo wirklich die Leute nach wie vor gelebt haben.

Fast alle Orte im Sudetengebiet haben nach Kriegsende einige Häuser verloren und nur der Prozentsatz ist unterschiedlich, je nach Lage und je nach Bedeutung des einzelnen Ortes. In Herrnskretschen / Hrensko wurde zum Beispiel sehr wenig abgerissen. Das ist ein Luftkurort und das haben sich die Treuhandverwalter natürlich sofort 1945 gedrängt, um irgendein Hotel oder eine Pension zu bekommen. Da wurden keine flächendeckenden Demolierungen vorgenommen. Aber kleinere landwirtschaftliche Orte wie Reichen bei Wernstadt / Vernerice, das heutige Rychnov u Verne"ic, die wurden so gut wie vollständig platt gemacht. Da wollte keiner wohnen, es ist auch keiner hingezogen. Reichen ist sogar ein Sonderfall. Als nach 1949 die LPGs gegründet wurden, die Produktionsgenossenschaften, hat man denen, die nicht freiwillig in die LPG eintreten wollten, damit gedroht, wie würden nach Reichen ausgesiedelt. Da wollte wirklich keiner leben. Und so ist die Marktgemeinde Reichen, die mehrere Tausend Einwohner hatte, zu einem Ort mit 18 Häusern geschrumpft, wie es heute ist. Es gibt noch das Pfarrhaus, es gibt noch eine Scheune und einige wenige Häuser und dazu natürlich Wochenendhäuser, die in den 70er und 80er Jahren entstanden sind. Sonst ist nichts mehr da."

Es gibt ja auch Orte, die ganz verschwunden sind!

"Natürlich, das hat aber immer unterschiedliche Gründe gehabt. Es gab Orte, die lagen ziemlich dicht an der Grenze und auch in den fünfziger Jahren hat man eigentlich nicht unterschieden, ob es West- oder Ostdeutschland war. Es gab Grenzstreifen, Grenzsperren, Stacheldraht und die Bewachung war im Böhmerwald gegen Bayern genauso wie hier gegen Sachsen. In diesem Grenzstreifen durften natürlich keine Häuser stehen. Im Landkreis Decin / Tetschen hat das die Orte Eiland / Ostrov, Raiza / Rajec bei Tisa / Tissa und Niedergrund / Dolni Zleb betroffen. Da wurde wirklich ein Strich auf der Karte gezogen und die Häuser, die jenseits dieses Strichs lagen wurden planiert, demoliert, ganz planmäßig. Das hat das Militär gemacht, im Rahmen von Übungen. Die haben Häuser zerlegt auf Balken und Ziegel. In Dolni Zleb haben sie sogar Schiffe aufgestellt, direkt an den Häusern und das Baumaterial stromaufwärts gezogen und dann auf Güterwagen umgeladen und dann in die Slowakei geschickt. Aus diesem Material wurden in der Slowakei Fabriken und Wohnhäuser gebaut. Dadurch ist eigentlich die Industrialisierung der Slowakei erst angekurbelt worden. Es wurden auf gleiche Weise auch ganze Fabriken aus dem Sudetengebiet in die Slowakei verlegt."

Gibt es auch Orte, die sich Schritt für Schritt aufgelöst haben?

"Ja. Es ist eigentlich so gelaufen, dass die Häuser leer blieben und nach und nach zerfielen. Das ist zum Beispiel bei Schneppendorf der Fall. Es hieß dann nach dem Krieg eine Zeit lang Slukova, das ist bei Vernerice / Wernstadt, also in einem Gebiet, in dem nach dem Krieg keiner wohnen wollte. Das war ein Bauerndorf entlang einer Straße lag. Von dem Ort stehen nur noch zwei Häuser und die Hälfte des Kriegerdenkmals. Sonst ist nichts mehr da. Nicht einmal die Ruinen finden Sie noch. Die zwei Häuser werden als Wochenendhäuser benutzt und ich glaube, noch nicht einmal die sind vollständig. Ich glaube, die sind aus alten Ruinen zu Wochenendhäusern aufgebaut worden. Ansonsten ist der Ort komplett leer.

Man hat dann in den sechziger Jahren die Ruinen überall planmäßig beseitigt. Es gab sogar eine Vorschrift, nach der die Grundmauern noch dreißig Zentimeter unter der Erde entfernt werden mussten, was natürlich sehr selten geschah, weil es zu viele leer stehende Häuser und Ruinen im Grenzgebiet gab."

Aber nicht alle Orte, die heute manchmal als verschwunden gelten, sind auch wirklich verschwunden?

"Genauso ist es. Es werden auch Orte als verschwunden genannt, die als selbstständige Orte aufgelöst und eingemeindet wurden. Das ist zum Beispiel bei Philippenau bei Alt-Ohlisch der Fall. Das wird in den Lexika als verschwunden bezeichnet, aber der Ort ist nach wie vor da. Es wird dort sogar wieder gebaut. Der Ort Philippenau wurde als solcher aber im Lexikon gestrichen und zu Alt-Ohlisch / Stara Oleska bei Böhmisch Kamnitz / Ceska Kamenice eingemeindet. Die Häuser wurden auch alle umnummeriert. Für einen nicht Ortskundigen ist es ein Beweis, dass es diesen Ort nicht mehr gibt, aber die Häuser sind nach wie vor da, wo sie immer waren.

Und hier bei Chomutov / Komotau, Kadan / Kaaden und Most / Brüx sind durch die Kohleförderung viele Orte verschwunden. Dann gibt es noch das Militärsperrgebiet bei Duppau / Doupov. Da ist eigentlich nach dem Kriegs ein ganzer Gerichtsbezirk platt gemacht worden. Der wurde nicht mehr besiedelt beziehungsweise, die Tschechen, die gekommen waren, wurden gleich wieder umgesiedelt und bekamen andere Häuser zugeteilt. Die leeren Häuser dienten dann als Zielscheiben für Panzer. Das gleiche gab es glaube ich auch bei Wischau / Vyskov in Mähren."

Die Datenbank über die verschwundenen Orte und Objekte in Tschechien wird weiter wachsen. Eine genaue Zahl, wie viele Dörfer und Gemeinden als Folge der Vertreibung, durch Grenzsicherungsmaßnahmen oder Industrieprojekte insgesamt in Tschechien verschwunden sind, gibt es bis heute noch nicht. Das könnte sich aber bald ändern.