Senkgrube und Sentinel - mit dem Prager Müll durch die Jahrhunderte

Foto: www.psas.cz

Kartoffelschalen, die leere Milchtüte und das Wurstpapier vom letzten Abendbrot - alles, was ausgedient hat und unbrauchbar geworden ist, landet heute mit einem Griff im Mülleimer und verschwindet mit der nächsten Müllabfuhr für immer aus unserem Gesichtskreis. Das ist so bequem und selbstverständlich, dass man leicht vergisst, dass das nicht immer so war. Thomas Kirschner hat sich für die "Kapitel aus der Tschechischen Geschichte" auf die Spuren des Prager Mülls in den vergangenen Jahrhunderten gemacht.

Möglichst weit weg mit dem stinkenden Müll - was wir und heute alle wünschen, war in früheren Jahrhunderten keineswegs selbstverständlich. Allerdings haben die Menschen im mittelalterlichen Prag nach heutigen Maßstäben nur sehr wenig Abfall produziert, erklärt Tomas Dvorak vom Prager Stadtmuseum:

"Was man verbrennen konnte, hat man verbrannt; um die Essensreste haben sich die Schweine gekümmert, die frei auf den Straßen herumgelaufen sind, und ansonsten haben sich die Menschen im Mittelalter nicht viel um ihre Abfälle geschert - das wurde einfach da hingeworfen, wo gerade Platz war: auf die Straßen, die damals noch nicht gepflastert waren, oder in irgendeine Ecke, wo sich die Abfälle dann irgendwann in den lehmigen Boden getreten haben und verschwunden sind."

Prag 1600
Überall im mittelalterlichen Prag türmte sich so der Unrat auf. Die Ermordung des Hussitenpredigers Jan Zelivsky, so wird berichtet, sei dem Volk von einem Misthaufen vor dem Rathaus der Prager Altstadt aus verkündet worden, der besseren Hörbarkeit wegen. Im gleichen Jahr, 1422, wurden die Prager Senkgruben und Müllgräben dann zum ersten Mal systematisch gereinigt - allerdings nicht aus hygienischen Gründen, sondern um die Unrat-Fässer aus Prag hinter die Mauern der belagerten Burg Karlstejn zu schleudern. Immer wieder gibt es Beschwerden, dass Nachttöpfe einfach aus dem Fenster geleert werden. Im Jahre 1566 trifft ein solcher Guss den Stadtältesten Jan Petracek. An den Missständen ändert auch das nichts. Die Abfälle auf den Gassen wurden nur gelegentlich zusammengekehrt, berichtet Tomas Dvorak:

"Die Straßen wurden meist nur vor Feiertagen aufgeräumt. Das war eine niedrige Arbeit, die oft von Gefangenen gemacht wurde. Der Kehricht ist dann wohl in der Moldau gelandet, das war auch ein beliebter Platz für Unrat."

Unter den Sträflingen in der Prager Müllabfuhr war auch der italienische Bildhauer Spinettio, der 1748 wegen versuchtem Mord zum Tode verurteilt worden war. Unter dem Galgen wurde ihm zur Wahl gestellt, stattdessen für drei Jahre die Straßen zu reinigen und die Senkgruben auszuleeren.

Die Unrathaufen und Müllgräben in der Stadt waren Brutstätten für Krankheiten und Epidemien. Bereits im 14. Jahrhundert hatte König Johann von Luxemburg, der Vater Karls. IV., den Pragern ein Stück Moldauufer vor der Stadt als Müllabladeplatz geschenkt. Der mittelalterliche Umgang mit Abfällen endete aber erst im fortschreitenden 19. Jahrhundert, als die Straßen allmählich gepflastert wurden und die Stadtvertreter strengere sanitäre Maßnahmen durchgesetzt haben:

"Bemühungen um eine Regulierung gab es schon länger - wir haben Belege, dass Strafen für das Wegwerfen von Abfällen verhängt worden sind, und bestimmte Vorschriften gab es auch schon in den 1830er Jahren. Der wirkliche Umbruch fällt aber erst in das Jahr 1850, als die Stadt Prag die Stadtreinigung und die Abfuhr des Mülls aus den Haushalten unter die eigene Regie genommen hat. Dazu sind zunächst drei Sammelhöfe eingerichtet worden, je einer in der Neustadt, auf der Kleinseite und in der Altstadt; später kamen noch weitere in Holesovice und Liben dazu. Hier waren Straßenkehrer beschäftigt, Mistkutscher und so genannte ´karkari´, also Straßenfeger mit eigenem Wagen. Und die haben sowohl die Stadtreinigung wie auch die Müllabfuhr übernommen."

Es beginnt das Zeitalter der Stadthygiene. Neben dem Ausbau der Wasserleitungen und der Kanalisation - 1828 maß das Prager Kanalnetz immerhin schon 44 Kilometer - war die kommunale Stadtreinigung das dritte wichtige Instrument zur Verbesserung der sanitären Verhältnisse in der schnell wachsenden Stadt.

"Die Müllabfuhr ging so vor sich, dass ein Pferdewagen durch die Gassen fuhr, morgens, so kurz nach acht; einer der Müllmänner lief mit einer Glocke voraus, und dann kamen die Hausfrauen und Dienstmädchen und haben die Aschenkübel einem zweiten Müllmann gegeben, der oben auf dem Wagen stand. Wenn der Wagen voll war, wurde die Fracht zu einem Sammelhof an der Lazarus-Gasse oder bei der St.-Franziskus-Kirche gebracht, und dann ging es weiter. Von den Sammelstellen wurde der Abfall dann in größeren Wagen aus der Stadt heraus gefahren und aufgeschüttet. Halden gab es zum Beispiel auf dem Areal Na Prazacce in der Vorstadt Zizkov, in Strasnice und anderswo."

Das System funktionierte, hatte allerdings einen großen Nachteil: Aus Asche und Kehricht entstanden auf den offenen Müllwagen enorme Staubwolken, berichtet der Historiker Tomas Dvorak: 3

"Deshalb hat man etwa ab 1910 nur noch geschlossene Wagen zur Müllabfuhr benutzt, aber auch das hat nicht gereicht. Schließlich wurden genormte Müllkübel für die Haushalte eingeführt, die nur ausgetauscht und dann erst unmittelbar auf der Kippe geleert wurden. Die Hausbesitzer haben sich anfangs gewehrt, weil sie die Kübel nicht kaufen wollten, und so hat sich das System in Prag erst nach dem Ersten Weltkrieg in den 1920er Jahren richtig durchgesetzt."

Geändert hat sich in der Zwischenkriegszeit auch die Abfuhr des Mülls. Allmählich verschwanden die von Pferden gezogenen Müllwagen aus dem Stadtbild und die Motorisierung erreichte auch die städtische Müllabfuhr - zunächst allerdings mit einem wirklichen Kuriosum:

"In Prag tauchten die ersten dampfgetriebenen Müll-Lastwagen vom Typ Skoda Sentinel auf, das waren fauchende Ungetüme - daher sagt man in Prag noch heute, dass jemand schnauft wie ein Sentinel. Außerdem wurden die Zwischenlagerung zentralisiert und die Deponien in den einzelnen Stadtteilen aufgehoben, weil klar wurde, dass es sich um Infektionsherde handelt. Noch 1922 wurden bei einem Ausbruch der Ruhr in Prag mehr als 200 Menschen angesteckt, acht sind gestorben. Deshalb hat der Prager Magistrat beschlossen, nur noch den städtischen Bauhof in Holesovice als Zwischendeponie zu verwenden. Von dort wurde der Müll dann aus der Stadt gebracht. Das war in den 20er Jahren. Einen, wenn man so will, Höhepunkt hat die städtische Abfallwirtschaft dann mit der Eröffnung der Müllverbrennungsanlage im Stadtteil Vysocany im Jahre 1934 erreicht, wo die Abfälle dann in großem Stil verfeuert wurden."

Die Müllverbrennungsanlage in Vysocany ist inzwischen durch eine moderne Einrichtung im Stadtteil Malesice abgelöst worden. In seiner Struktur aber weist das Prager Müllabfuhrwesens in den 30er Jahren keine großen Unterschiede mehr zu dem heutigen System auf. Auch wenn die Müllabfuhr heute natürlich nicht mehr mit Dampfautomobilen unterwegs ist, wie der Historiker Tomas Dvorak vom Prager Stadtmuseum erklärt:

"Eine ziemlich grundlegende Änderung war noch, dass ab den 1930er Jahren in Prag modere benzingetriebene Müllwagen der Marke Praga eingeführt wurden, mit denen schrittweise das Wechseltonnensystem durch das Schüttsystem abgelöst wurde, das wir auch noch von der heutigen Müllabfuhr kennen, wo die Müllkübel direkt in den Wagen geleert werden."

Trotz allen technischen Fortschritts bleibt der Müll eines der drängenden Probleme von Prag - zum einen, da seit der Wende von 1989 der Verpackungsmüll um ein Vielfaches zugenommen hat, zum anderen, da im 21. Jahrhundert immer mehr Zeitgenossen ihren Müll wieder auf mittelalterliche Weise entsorgen - hinter den Büschen oder im nächsten Straßengraben.