Ohne Dach über dem Kopf, aber auf den Brettern der Welt
Nicht alle verbinden mit den Weihnachtsfeiertagen eine Zeit der Besinnung. Für Obdachlose bedeutet sie zum Beispiel, dass nun die härteste Zeit des Jahres hereinbricht - mit Schnee und Frost. In Prag klang dies Mitte Dezember ebenfalls an, als sich Obdachlosentheater aus vier Ländern zum dritten Mal trafen. Beim Festival "Hic sunt leones", um das es geht, steht vor allem das Leben am Rande der Gesellschaft als Thema im Vordergrund. Denn jeder der Schauspieler war nämlich irgendwann einmal auf der Straße, einige sind es noch heute. Was dies bedeutet, wie Theaterspielen bei der Rückkehr in die Gesellschaft helfen kann und was die Ensembles präsentiert haben, dazu nun ein Sonderbeitrag.
"Als ich dann nicht wusste, ob ich eine Unterkunft haben werde und ob ich mir eine Unterkunft leisten kann, bekam ich Angst", bekennt Riha.
Im Winter auf der Straße - ein Alptraum. Riha hatte aber Glück im Unglück: Über einen Freund, mit dem er früher Fußball gespielt hatte, fand er einen Platz in einem Prager Obdachlosenheim.
Die Gründe für Obdachlosigkeit können sehr unterschiedlich sein. Meistens kommen aber mehrere Dinge auf einmal zusammen, wie Radek Riha erzählt.
"Eine Trennung. Dann psychische Probleme, ich musste mich sogar behandeln lassen. Ich verlor die Arbeit und dann ging es schnell. Man kann die Miete nicht mehr zahlen, nimmt einen Kredit auf, den man nicht zurückzahlen kann. Irgendwann kommt die Pfändung, und man ist auf einmal ohne Obdach und auf der Straße."
Alkohol, Drogen oder Spielsucht, das sind weitere häufige Gründe, sagt Petr Sourek. Er hat als Regisseur des Obdachlosentheaters "Jezek a cizek" bereits einige Schicksale kennen gelernt. Die Leute würden meist aus dem normalen Leben entgleisen. Sie erfüllen nicht, was von ihnen verlangt wird oder erscheinen dreimal hintereinander nicht zur Arbeit. Was folgt, ist ein Rausschmiss, ob aus der Arbeit oder der Wohnung. Und plötzlich ist man auf der Straße.
"Und von der Straße kommt man nur ganz schwer wieder weg", glaubt Sorek. "Weil der Mensch das erst einmal ein gewisse Zeit aushält, auf diese Weise zu überleben. Das ist aber eine sehr gefährliche Sache. Denn je schneller man ganz unten ist, desto besser kann es manchmal sein. Deswegen enden auch mehr Männer als Frauen auf der Straße. Die Männer halten mehr aus und verfallen in eine Art Routine des Obdachlosen."
Und wer den Tag über nur rumhängt, sagt Sourek, der lebt irgendwann entgegengesetzt zum Rest der Bevölkerung.
Theaterspielen ist eine der Möglichkeiten, wieder einen Weg zurück zu finden. Das gilt selbst für ein Projekt, bei dem der künstlerische Anspruch im Vordergrund steht, wie das Berliner Obdachlosentheater "Ratten 07". Dazu Gunter Seidler, Regisseur und Vorsitzender des Vereins "Die Ratten":
"Randgruppen, Obdachlose machen Kunst. Effekte wie eben nicht mehr obdachlos zu sein, nehmen wir aber mit. Denn wie will man, wenn man jeden Tag wie am professionellen Theater sechs bis acht Stunden probt, das sonst durchhalten. Man muss den Text lernen, muss zu den Proben fit sein und den Alkoholkonsum runterschrauben. Einige sind seit Jahren clean und trinken keinen Schluck mehr. Sie haben das aber selbst entschieden, haben gesagt: Ich krieg das sonst nicht auf die Reihe. Und sie haben für sich einen neuen Weg gefunden."
Beispiel Ahmad. Ursprünglich stammt er aus Tübingen, siedelte dann irgendwann nach Berlin über - und dort landete er auf der Straße. Drogen und Alkohol, sagt er. Ahmad, der früher auf eine Schauspielschule ging, spielt seit sechs Jahren bei den "Ratten 07" mit. Er sagt:
"Obdachlosentheater hat eben soweit geholfen, dass eine Reflektion über das eigene Schicksal stattgefunden hat. Ich habe realisiert, was ich durchgemacht habe. Mir war nur durch eine Art Verdrängung nicht so bewusst, dass ich schon wirklich auf der untersten Stufe der Gesellschaft gelandet bin. Doch durch die Reflektion habe ich begonnen, dies zu relativieren - zu sagen, dass ich auf Null angekommen bin und mich nun weiter nach oben kämpfen könnte. Und das habe ich auch getan."
Regisseur Petr Sourek von der Bühne "Jezek a Cizek" kann wiederum von konkreten Fällen berichten. Einige seiner Schauspieler haben vor kurzem durch das Theaterspielen Arbeit gefunden. Und das kam so: An einer Statue des Bildhauers Jiri Beranek im Prager Stadtteil Karlin hatte sich ein Obdachloser niedergelassen. Daraus entstand zusammen mit dem Künstler die Idee, eine Performance mit den Obdachlosen zu inszenieren.
"Es endete dann so, dass Jiri Beranek den Schauspielern anbot, sie könnten seine Ausstellung bewachen. Wir haben dann eine Liste mit Namen erstellt. Und die Leute können das Geld behalten, das sie durch den Verkauf der Kataloge einnehmen, was sehr schön ist", sagt Regisseur Sourek.Aus Geschichten dieser Art ergibt sich aber ein Problem: eine hohe Fluktuation der Schauspieler. Im besseren Fall findet jemand Arbeit, und kommt deswegen nicht mehr. Im schlechteren Fall verschwindet er wieder irgendwo auf der Straße. Damit ist so gut wie jedes Obdachlosentheater konfrontiert. Zugleich bestehen von Land zu Land Unterschiede, wie Petr Sourek festgestellt hat:
"In jedem Land wird gemäß den nationalen Bedingungen gearbeitet, zum Beispiel den finanziellen. Gerade hier besteht ein großer Unterschied zwischen uns und Deutschland. Anders sind aber auch die kulturellen Bedingungen. Die Ratten arbeiten mit der Volksbühne Berlin zusammen. Wir haben hingegen nicht die Möglichkeit, uns an ein professionelles Theater anzulehnen. Und daraus ergeben sich dann Unterschiede für die Regie."
Und das zeigte sich auch beim Festival. Während "Jezek a cizek" eine Tiergeschichte aufführte, nämlich die Bearbeitung der "Affäre mit dem Hamster" von Jaroslav Hasek, wagten "Die Ratten" mit Erfolg die Inszenierung des Bühnenklassikers "Nachtasyl" von Maxim Gorki. Doch für das kommende Jahr planen beide Bühnen ein gemeinsames Stück. Gunter Seidler von den Ratten:
"Uns schwebt ja die Dreigroschenoper vor, weil da die Musik im Vordergrund steht, was ich toll finde. Schwierig, ein großes Experiment. Aber vielleicht kann man die Musik durch längere Proben so transponieren, dass die Schauspieler das auch wirklich singen können. Im Stück geht es ja darum, dass Obdachlose und Bettler den Krönungszug der Queen stören, wobei die Obrigkeit sagt: Um Gottes Willen, das darf nicht passieren. Und diesen Bettlerpulk könnte immer die Gegenseite spielen - die Prager in Berlin und die Berliner in Prag."
Die Idee ist also geboren, es fehlt aber vor allem noch eine Sache: das Geld. Denn das ist eine weitere Erkenntnis, wenn auch keine überraschende: Obdachlosentheater brauchen auch finanzielle Unterstützung.