"Vergangenheit bleibt, rückt aber immer weiter zurück"

Präsident Edvard Benes unterschreibt Dekrete

Eine symbolische Geste gegenüber den Sudetendeutschen ist gut, die Abschaffung der so genannten Benes-Dekrete dagegen schlecht. In diesen beiden Fragen sind sich die tschechische Regierung und die Bevölkerung im Grenzgebiet einig. So zumindest die Ergebnisse einer Meinungsumfrage unter Bewohnern auf der tschechischen Seite der gemeinsamen Grenze über ihr Verhältnis zu den Sudetendeutschen. Verglichen wird dabei auch mit den Ergebnissen einer früheren Umfrage aus dem 2003. Bara Prochazkova hat weitere Details.

Achtung! Staatsgrenze
Insgesamt bestätigen die Ergebnisse der Studie vom Soziologischen Institut der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, dass das allgemeine Interesse der tschechischen Bevölkerung im Grenzgebiet für die sudetendeutsche Frage jetzt kleiner ist als vor zwei Jahren. Jeder vierte Bewohner im Grenzgebiet interessiert sich dafür, das ist nur halb so viel wie 2003. Grund dafür ist u.a. die Mitgliedschaft der Tschechischen Republik in der Europäischen Union sowie die Politik der Schröder-Regierung, die die sudetendeutsche Frage an den Rand der Außenpolitik geschoben hat, sagt Vaclav Houzvicka, Leiter der Arbeitsgruppe "Tschechisches Grenzgebiet". Er nennt aber auch noch weitere Gründe für das abnehmende Interesse an dem Thema:

"Im öffentlichen Raum und vor allem in den Medien wird diese Frage wesentlich weniger aufgegriffen als vorher. Und wenn sie schon thematisiert wird, dann in einer konfliktarmen Form."

Präsident Edvard Benes unterschreibt Dekrete
Gerade die Medien bestimmen die Diskussionsthemen des öffentlichen Raumes und aus den Untersuchungen des Soziologischen Instituts geht hervor, dass die positive Wahrnehmung der Medien bei der Bevölkerung steigt. Denn in der zweiten Hälfte der 90er Jahre wandten sich viele Tschechen gegen die Printmedien, weil sie davon überzeugt waren, dass diese unobjektiv und pro-deutsch berichten würden, weil sie in den Händen von deutschen Eigentümern waren, erinnert Houzvicka. Das Jahr 2002 war in dieser Hinsicht sehr turbulent, Grund dafür war die Wahlkampagne in beiden Ländern und die damit zusammenhängende Thematisierung der Vertreibung und der so genannten Benes-Dekrete. Dies spiegelte sich auch in den damaligen Meinungsumfragen wider. Heute hat sich die Situation jedoch beruhigt, sagt Vaclav Houzvicka, ein langjähriges Mitglied des Deutsch-tschechischen Koordinierungsrates:

"Es zeigt sich ein Trend in den Meinungen, und zwar dass die Medien relativ objektiv berichten, ohne eine Verschiebung in Richtung der pro-sudetendeutschen Argumentation. Die Ergebnisse müssen wir jedoch hinterfragen. Dann sehen wir, dass es zwischen den Jahren 2003 und 2005 wesentlich weniger Konflikte gab, die medial präsentiert wurden. Die Intensität solcher Konflikte erreichte bereits früher ihren Höhepunkt, zum Beispiel als Druck auf die Tschechische Republik ausgeübt wurde, ihre Standpunkte zur Vertreibung neu zu bewerten."

Vaclav Havel
Die Bewohner im Grenzgebiet unterstützen die tschechische Regierung bei ihrem Vorgehen in der deutsch-tschechischen Frage und lehnen ebenso wie das Kabinett die Abschaffung der Benes-Dekrete ab. Dennoch gab rund die Hälfte der Befragten an, dass ihnen nicht ganz klar sei, welche Politik die tschechische Regierung gegenüber den Sudetendeutschen eigentlich verfolge. Als der tschechoslowakische Präsident Vaclav Havel sich 1989 bei den Sudetendeutschen entschuldigte, stellten sich hinter diese Geste nur 20 Prozent der tschechischen Bürger im Grenzgebiet. Heute kann sich die Politik der tschechischen Regierung auf die Zustimmung von genau zwei Dritteln der Bewohner im Grenzgebiet stützen. Die Mehrheit der tschechischen Gesellschaft sieht in einer Geste einen möglichen Ausweg aus dem gegenseitigen Dilemma. So kann Vaclav Houzvicka sagen:

"Die Vergangenheit ist präsent, rückt aber immer in die Ferne. Damit meine ich, dass es im Rahmen des Dialoges, der nach dem Jahr 1989 gestartet wurde, es gelungen ist, die Zeitbombe in den bilateralen Beziehungen zu entsichern. Manche Leute erwarten, dass man eine magische Formel findet, die die Probleme der gegenseitigen Beziehungen beseitigt. So etwas existiert gewiss nicht! Es ist klar, dass in einigen Bereichen die Unstimmigkeiten weiterhin bestehen bleiben. Dennoch glaube ich, dass der Verlauf des Dialoges eine positive Wirkung hatte."

Wenzelsplatz  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag)
Persönliche Kontakte zu Deutschen wiesen rund 24 Prozent der Befragten auf, Houzvicka sieht gerade an dieser Stelle ein erweitertes Potential durch die Kontakte in der Europäischen Union sowie durch eine Öffnung des Arbeitsmarktes. Obwohl den Menschen eine Asymmetrie des Verhältnisses zwischen Tschechien und Deutschland bewusst ist, betrachten die Tschechen ihren Nachbarn als einen gewollten Partner, so Vaclav Houzvicka, der selber aus dem Grenzgebiet stammt:

"Am Anfang der 90er Jahre haben sich rund 25 Prozent der Menschen Deutschland als einen politischen und wirtschaftlichen Partner gewünscht. Heute sind es bis zu 70 Prozent. Die Behauptungen einiger Publizisten, dass Tschechen aufgrund von Minderwertigkeitskomplexen xenophob seien, können unsere Untersuchungen nicht bestätigen. Ich sehe ganz klar einen Wunsch der Menschen, Deutschland als Partner zu haben."

Die konfliktreiche Vergangenheit werde von den Bewohnern also nicht mehr so stark in den Vordergrund gestellt, sagt Houzvicka. Die Untersuchungen von 2005 zeigen, dass die tschechische Gesellschaft die Vergangenheit toleranter wahrnimmt und sie nicht mehr als das Entscheidendste in den deutsch-tschechischen Beziehungen betrachtet. Das ist jedoch noch kein Grund für allzu voreiligen Optimismus, noch gibt es nach wie vor Konfliktpotential in den deutsch-tschechischen Beziehungen, resümiert der Leiter des Forschungsteams "Tschechisches Grenzgebiet", Vaclav Houzvicka:

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
"Ich mache aber darauf aufmerksam, dass hier unterirdisch stets ein emotionales Potential anwesend ist. Wenn dieses aktiviert würde und es gelingt, den Golem mit einem Schem zu beleben, dann würde das negative Potential destruktive Folgen haben. Ich denke aber, dass die Integrationsprozesse hier eine sehr positive Rolle spielen können."

6,8 Prozent der 818 befragten Tschechen aus dem Grenzland vertritt die Meinung, dass die Rückgabe von Eigentum an die Sudetendeutschen ein Weg sei, die Probleme im gegenseitigen Verhältnis zu lösen. Vor zwei Jahren vertraten diese Meinung noch zwei Prozent mehr der Befragten, so Houzvicka, der sich seit Jahren mit dem deutsch-tschechischen Verhältnis im Grenzgebiet befasst:

"Die Rückgabe des Eigentums ist eine strittige Sache. Hier ist interessant, dass die Bevölkerung im Grenzgebiet in dieser Frage wesentlich toleranter war als die Leute im Binnenland. Insgesamt aber ist die Unterstützung dieses Weges nach gewissen Schwankungen nach oben bedeutend gesunken."

Die Tätigkeit der Sudetendeutschen Landsmannschaft ruft bei einem Drittel der Bevölkerung Ängste aus, mehr als zwei Drittel denken, dass die Aktivitäten von sudetendeutschen Organisationen die Eigentumsfrage zum Hauptziel haben. Im Vergleich zu 2003 zeigt sich, dass die Menschen ein neutraleres Verhältnis zu den Tätigkeiten der Sudetendeutschen haben, beschreibt Houzvicka.

Das Soziologische Institut führt seit 1991 Meinungsumfragen im Grenzgebiet durch, ihr Ziel ist es, eine objektive Erkenntnisdatenbank zu erstellen, die eine strukturierte Basis für den deutsch-tschechischen Dialog werden kann. Der Definitionsrahmen der bilateralen Beziehungen hat sich nach dem EU-Beitritt Tschechiens jedoch verändert, dies bestätigen auch die Ergebnisse. Das Soziologische Institut wolle sich in Zukunft auf eine Tiefenanalyse konzentrieren, erklärt Vaclav Houzvicka. Denn es gibt nach wie vor Bedarf an den Untersuchungen:

"Ich bin angenehm überrascht, dass die Untersuchungen in letzter Zeit eher die deutsche Seite interessieren. Denn sie wissen nicht, was die Tschechen über Deutsche sowie über die strittigen Momente der gemeinsamen Vergangenheit eigentlich denken."

Die Ergebnisse der aktuellen Umfrage sind unter http://www.borderland.cz/ abrufbar.