Wiederentdeckung von Bohuslav Martinu
Bohuslav Martinu gehört zu den bedeutendsten tschechischen Komponisten des 20. Jahrhunderts. Für manche seiner Zeitgenossen klang er zu modern, für andere belebend. Eines seiner Werke erlebte aber erst jetzt die Wiederentdeckung - und das ganz buchstäblich... Bara Prochazkova verrät mehr:
Diese Töne wurden 80 Jahre lang nicht gespielt - denn genauso lange galt das Streichtrio Nr. 1 für Violine, Bratsche und Cello vom tschechischen Komponisten Bohuslav Martinu als verschollen. Die Noten traten von dem Papier in der vergangene Woche wieder ins Leben, und zwar dank der jungen tschechischen Musikwissenschaftlerin Eva Velicka, die das Original-Manuskript in Dänemark gefunden hat:
"Wie viele wissenschaftliche Entdeckung ist dies zufällig passiert. Ich war auf der Suche nach einem Ballett-Autograph von Bohuslav Martinu. Nach der Korrespondenz zu urteilen sollte es irgendwo in Dänemark archiviert sein. Daraufhin habe ich mehrere Institutionen in Dänemark kontaktiert, die mich an die dänische königliche Bibliothek verwiesen haben. Dort fand ich tatsächlich das gesuchte Autograph und außerdem erwartete mich dort eine kleine Überraschung: Das Streichertrio Nr. 1, das als verloren galt, befindet sich seit 30 Jahren in diesem Archiv."
Obwohl das Trio Nr. 1 gewiss nicht die Musikgeschichte verändern wird, hat es für die Musikwissenschaftler eine große Bedeutung. Bohuslav Martinu wurde 1890 auf der Böhmisch-Mährischen Höhe geboren, lebte jedoch lange Zeit im Ausland. Das Streichtrio Nr. 1 ist das erste Werk, das er nach seiner Ankunft in Paris komponiert hat, nachdem er mit weiteren Einflüssen der internationalen Musik in den Kontakt kam. Der Musikwissenschaftler und Direktor des Bohuslav-Martinu-Institutes in Prag, Ales Brezina, erklärt diesen Wandel im Schaffen von Martinu:
"Man kannte von ihm die früheren Werke, die er noch in Prag komponiert hatte. Diese sind meistens sehr unreif, denn Martinu ist erst mit 33 oder 34 Jahren zum reifen Komponisten geworden. Man hört in diesem Werk bereits viele Züge der Reife, man hört da eigentlich ein Dialog zwischen dem, was kommt, und was bereits vorhanden war. Das technische Handwerk ist da, Martinu hat bis zu dem Zeitpunkt etwa 130 Werke komponiert, aber bis dato hatte er Schwierigkeiten, seine eigene Musiksprache zu finden."
In diesem Werk, das 15 Minuten dauert, hören wir Einflüsse von Jazz und Tanzrhythmen sowie Andeutungen von synkopischen Rhythmen und wechselnden Akzenten in der Melodie, so Brezina weiter:
"Es ist ein Werk, das ganz merkwürdig Merkmale der früheren Phase Martinus aufweist und etwas Rhapsodisches und rhythmisch sehr Freies hat. Auf der anderen Seite hat das Werk etwas Dissonantes, das Martinu in Paris gehört hatte - zum Beispiel in den Werken von Stravinsky. Und der dritte Einfluss auf dieses Werk ist ganz eindeutig der Jazz. In diesem Werk hört man zum ersten Mal ganz klar die Jazz-Rhythmen, die nachher sein Schaffen der 20er Jahre bestimmen."
Die neue Umgebung hat der musikalischen Entwicklung von Bohuslav Martinu eine Inspiration gebracht, erklärt Eva Velicka. Martinu ist 1923 nach Paris gekommen, ursprünglich wollte er nur für eine kurze Zeit bleiben, um dort zu studieren. Aus "mal eben kurz" wurde eine Ehe und lange 17 Jahre. Dennoch kann man über das musikalische Paris der 20er Jahre nicht allgemein sprechen, den Einfluss macht eher die Mischung aus aller Welt aus, so Velicka:"Ich glaube nicht, dass wir hier über Frankreich als über etwas Spezifisches sprechen können. Eher Paris, das war ein Phänomen, wo sich die ganze Welt getroffen hat. Zum Beispiel war hier der Einfluss von russischen Komponisten sehr groß. Martinu war ein Komponist, der sich nicht nur von anderen Musikern inspirieren ließ. Er hatte auch viele Maler als Freunde und arbeitete mit französischen Surrealisten zusammen. Ich kann also nicht sagen, dass es in Paris eine besondere Musikrichtung gab, die ihn inspiriert hat. Dort gab es eine Mischung aus allem. Und die hat Martinu in seine Musik aufgenommen."
Die internationalen Einflüsse sowie die Spuren von anderen Bereichen sind in der tschechischen klassischen Musik keine Ausnahme. Bedrich Smetana ließ sich nicht nur durch die tschechische Umgebung inspirieren, sondern lernte von der deutschen Schule, von Franz Liszt und Louis Hector Berlioz sowie aus Schweden. Leos Janacek war nicht nur Volksliedsammler, sondern hatte sehr gute Kenntnisse in der Physik und Tonpsychologie. Antonin Dvorak verarbeitete in seinen Werken Einflüsse aus Amerika. In diesem Zusammenhang ist auch Bohuslav Martinu zu sehen. Die musikalischen Grundlagen hat er aus Böhmen, dennoch war er immer bereit, chamäleonartig neue Impulse in Paris, in Amerika, in der Schweiz sowie in Italien aufzunehmen, sagt Ales Brezina.
"Wir hören, dass Martinu bereits ein reifer Komponist war, denn er wusste schon, welche Art von Musik sich bei bestimmten Musikinstrumenten wie anhört. Er kannte sich gut in der Klangfarbe der Instrumente aus. Er konnte bestimmte Techniken gut anwenden - zum Beispiel die Imitationstechnik. Im zweiten Satz hört man Spuren vom Impressionismus. Er benutzt schöne Farben, Pizzikata und Akkorde, die typisch für den Impressionismus sind",
charakterisiert das wiedergefundene Streichertrio aus dem Jahr 1924 die Prager Musikwissenschaftlerin Eva Velicka. Bei der Musik von Bohuslav Martinu ist für jeden Musikliebhaber etwas dabei, das macht das Werk, das rund 400 Kompositionen umfasst, so interessant, fügt Ales Brezina hinzu:
"Martinu ist ein sehr offenes Portfolio, man kann dort fast alles finden. Man findet bei ihm einfache Lieder über Volksthemen, man findet bei ihm aber auch sehr komplizierte Werke für große Symphonieorchester und Chor. Man findet bei ihm aber auch sehr jazzige Werke, wie zum Beispiel `La Rue de cuisine` für ein Sextett. Man findet bei ihm aber auch sehr komplizierte surrealistische Werke."
Genau vor zehn Jahren wurde in Prag das Bohuslav-Martinu-Institut gegründet, um die Werke von Martinu bekannter zu machen und sie weiter zu erforschen. Heute arbeiten dort drei Musikwissenschaftler und eine Bibliothekarin, ihre Aufgabe ist es, die Werke von Martinu auch kritisch zu beleuchten, erklärt der Leiter des Instituts Ales Brezina. Auch seit zehn Jahren findet regelmäßig das Bohuslav Martinu-Festival statt, die so genannten Martinu-Tage. Im Rahmen des diesjährigen Musikfestes wurde das wieder entdeckte Streichtrio Nr. 1 erstmals wieder aufgeführt. So einen Fund macht man nicht jeden Tag, Eva Velicka freut sich ganz besonders darüber. Jetzt versucht sie herauszufinden, wie das Skript nach Dänemark gekommen ist. Eine Hypothese gibt es bereits: Möglicherweise lag es lange Zeit in einem Verlag:
"Nach der zweiten Aufführung in Prag wissen wir nichts über das Schicksal der Partitur. Die Musiker in Paris waren die ersten, die sie gespielt haben, dann kamen die Mitglieder des Quartetts von Ondricek. Dann verschwindet die Spur langsam und wir wissen nicht, wie lange die Partitur auf dem tschechischen Territorium war. Wir wissen nur das, dass die dänische königliche Bibliothek das Trio 1978 in einem Antiquariat in Deutschland gekauft hat. Was in den Jahren dazwischen mit Werk passiert ist, wissen wir nicht."
Die Melodie bei Martinu ist nicht mit einem Motiv verbunden, man hört die typische Harmonie und den synkopischen Rhythmus, erklärt Ales Brezina, der sich nach wie vor für das Werk von Martinu begeistern kann. Seine erste Begegnung mit dem Komponisten liegt jedoch schon lange in der Vergangenheit:
"Wenn man als Musiker ein der Werke von Martinu spielt, muss man sofort Feuer und Flamme werden. Bei mir war es so: Im Kinderchor im westböhmischen Susice / Schüttenhofen haben wir das ´Otvirani studanek` / Das Manifest der Brünnlein aufgeführt."
Ales Brezina hat später im studentischen Orchester das Rhapsody-Konzert für Bratsche und Orchester gespielt. Danach hat er sich entschieden, das Werk von Martinu tiefer zu erforschen. Er studierte Musikwissenschaft in Prag und war danach in Basel tätig. Und wie er selber sagt: In die Musik von Bohuslav Martinu muss man sich einfach verlieben.