"Deutsche müssen in die tschechische Geschichte zurück"

Was bedeuten 60 Jahre Frieden und Integration in Europa für die deutsch-tschechischen Beziehungen? Auf diese Frage gibt es gewiss mehrere Antworten - viele davon waren bei der Jahreskonferenz des Deutsch-tschechischen Gesprächsforums am vergangenem Wochenende in Berlin zu hören. Die dortige Diskussion über die europäische Dimension der deutsch-tschechischen Geschichte hat Bara Prochazkova verfolgt.

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks - Radio Prag
Die deutsch-tschechische Geschichte ist durch ein zentrales Problem gekennzeichnet - plötzlich ist das "deutsche" im deutsch-tschechischen einfach abhanden gekommen. Diese Lücke in der Geschichtsschreibung erwähnte in der Podiumsdiskussion Zdenek Benes vom Institut für tschechische Geschichte an der Karlsuniversität in Prag:

"Auf der tschechischen Seite war es in den vergangenen 15 Jahren nötig, einen wesentlichen Schritt zu machen - nämlich die Deutschen in die tschechische Geschichte zurückzuholen. Die Analyse der tschechischen Schulbücher hat gezeigt, dass die ehemaligen deutschen Mitbürger in den 60er Jahren aus den Geschichtsbüchern verschwunden sind, ausgenommen von zwei Themen - das Münchener Abkommen und die Vertreibung."

In den letzten 15 Jahren habe es jedoch diesbezüglich einen großen Fortschritt gegeben, betonte der Leiter der Deutsch-tschechischen Schulbuchkommission, Zdenek Benes. Allerdings fehle auch in den deutschen Geschichtslehrbüchern nach wie vor ein Gesamtbild der Nachbarnation, also der Tschechen. Benes setzt jedoch seine Hoffnung auf die kommende junge Generation, die bereits eine andere Sicht auf die Problematik hat. Der deutsche Vorsitzende der Schulbuchkommission, Manfred Alexander, erklärt dies mit der strukturellen Asymmetrie der bilateralen Beziehungen. Während die Deutsch-Böhmen ein Bestandteil der tschechischen Geschichte seien, und deshalb die Tschechen auf diesen Teil nicht verzichten können, seien die Tschechen für die Bundesdeutschen nur eine Randerscheinung, so Alexander. Außer einigen Ausnahmen selbstverständlich:

"Für die deutsche Öffentlichkeit, die sich mit den Themen der böhmischen Geschichte und Erfolgen beschäftigt, gibt es neben der wissenschaftlichen Beschäftigung und der Umsetzung der Wissenschaft in das Schulbuch auch eine Nischen-Produktion, die von der Landsmannschaft betrieben wird und die ich nicht als wissenschaftliche bezeichnen möchte. Die aber für einen begrenzten Interessentenkreis eine wegweisende Bedeutung hat."

Gibt es eine Chance für eine gemeinsame Erinnerung von Tschechen und Deutschen? Auch auf diese Frage antwortet Manfred Alexander skeptisch, denn deutsch sei nicht gleich deutsch. Es gebe im deutsch-tschechischen Kontext drei Ebenen des Begriffes "deutsch": Deutsch, das sind einerseits die Deutsch-Böhmen, die späteren Sudetendeutschen also, zugleich aber auch die Deutsch-Österreicher und natürlich auch die Bürger des gegenwärtigen Deutschland. Jede Ebene sei anders, das Verhältnis zu den Böhmisch-Deutschen sei jedoch für die Wahrnehmung der Tschechen dominant. Zu der Frage einer gemeinsamen Erinnerungskultur äußerte sich also auch der Berliner Historiker Etienne Francois eher negativ:

"Die größten Probleme liegen nicht in der Bewertung der Vergangenheit, das ist relativ leicht, sich zu einigen. Aber in der Frage der Vermittlung - wie schreibt man einen Text, wie sucht man die Quellen und die Bilder für ein Buch, wie vermittelt man es den Schülern, wie gestaltet man seine Unterrichtsstunde - da gibt es gravierende Unterschiede. Und die sollten wir nicht herunterspielen, denn diese Unterschiede sind auch ein Ausdruck von unterschiedlichen Kulturen."

Jedoch treten die deutsch-tschechischen Beziehungen in eine Phase des Wandels, ausgelöst durch die Neubewertung der vergangenen 60 Jahre. Einen bedeutenden Einfluss habe darauf auch die europäische Dimension dieses bilateralen Verhältnisses im Herzen von Europa, setzt Manfred Alexander fort:

"Die Geschichte der böhmischen Länder ist europäische Geschichte, weil sich in den Problemen dieses relativ kleinen europäischen Zentrallandes eben alles wieder findet, was europäische Geschichte ausmacht. Und zwar in seiner positiven Deutung als auch in der Zuspitzung der negativen Erfahrungen. Und die Geschichte des Habsburger Reiches, das der Deckel der böhmischen Länder bis zum Ende des Ersten Weltkrieges war. Die Geschichte des Habsburger Reiches ist Geschichte Europas, nicht nur Mitteleuropas."

Ein Fazit der Diskussion: Wenn die bilateralen Beziehungen bewusst auf eine höhere - also die europäische - Ebene gehoben werden, könne man besser die Vielschichtigkeit des bilateralen Verhältnisses sehen.

Manfred Kittel aus dem Institut der modernen Geschichte, stellte bei der Konferenz ein Projekt zum Vergleich der Rechtsnormen vor. Kittel hat den Blick auf die Frage gerichtet, warum im Westen Europas kaum Vertreibungen durchgeführt worden sind, während Osteuropa von einer Vertreibungswelle überrollt wurde. Im Westen wurden gezielt Kollaborateure verfolgt und verurteilt, im Osten wurde dagegen allgemein die Kollektivschuld vertreten. Manfred Kittel fügt hinzu:

"Und hinzu kam ja bekanntlich, dass die Westmächte es zugelassen haben, dass im Osten Europas einfach andere Maßstäbe angelegt wurden als im Westen. Sie taten dies nicht zuletzt deshalb, weil die Nationalitätenkonflikte im Ostmitteleuropa für die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges eine ungleich größere Rolle gespielt hatten als jene im Westen."

Ost und West unterscheiden sich im Falle der Vertreibungen in unterschiedlichen Politikansätzen, die angewandt worden sind. Anders waren auch die Folgen. Im Osten Europas lag der prozentuelle Anteil der deutschen Bevölkerung viel höher als im Westen. Dies verursachte ein Chaos in den jungen Nationen, sagte Kittel:

"Außerdem handelte sich fast bei allen ostmitteleuropäischen Staaten um Neu- oder Wiedergründungen. Es handelte sich oft um ungefestigte labile Demokratien. Für die Minderheitenstaaten waren Minderheitenprobleme wesentlich existenziellerer Natur."

Gegen die präsentierte demokratische Überlegenheitstheorie trat in der Diskussion die Tschechien-Expertin Antje Vollmer auf. Sie betonte, dass man die Vertreibungen kaum mit Zahlen darstellen kann. Bei der Aufzählung der Vertreibungsursachen fehlen bedeutende Tatsachen, warum gerade im Osten die Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg in dem Maße durchgesetzt wurde. Vollmer weiter:

"Wenn eine frühere Minderheit zur Mehrheit wird, dann gibt es im gegenseitigen Verhältnis Spuren von früher erfahrenen Unrechtstatsachen oder Dominanztatsachen. Die Tschechen waren in der k.u.k. Monarchie die eindeutig sozial am wenigsten geachtete Nation. Mit der nationalen Unabhängigkeit wurden sie dann zu einer führenden Nation. Und umgekehrt: Die Deutsch-Böhmen waren eine dominierende und sich kulturell überlegen fühlende Nation. Sie hatten also Schwierigkeiten nun nicht mehr die erste Rolle zu spielen."

Vergessen dürfe man nicht, dass die Vertreibung der Deutschen eine Reaktion auf den Völkermord an den Juden war. Denn die Realität und das Erlebte wecke automatisch ein Rachebedürfnis, fügte Antje Vollmer hinzu. Der Direktor des Instituts für moderne Geschichte aus Prag, Oldrich Tuma, bestätigte, dass nicht alle Daten so leicht zu vergleichen sind:

"In Dänemark, Italien oder Belgien war das Problem der deutschen Minderheiten zwar belastend aber regional. Es handelte sich um kein so ganzstaatliches Problem so wie im Falle der Tschechoslowakei. In Dänemark zum Beispiel gab es nicht die Erfahrung, dass deutsche Minderheiten Jahrhunderte lang eine zivilisatorische oder kulturelle Superiorität beansprucht haben und davon ausgehend einen Dominanzanspruch stellten, wie zum Beispiel in der Tschechoslowakei oder in Polen. Und das hat, glaube ich, auch eine Rolle gespielt."