Wiederentdeckte Familiengeschichte in einer Kiste
Die Familie Wels war eine jüdische Familie aus Böhmen. Der Architekt Rudolf Wels und seine Verwandten wurden im Zweiten Weltkrieg Opfer des Holocausts. Nur Rudolfs älterer Sohn konnte sich retten. Nach dem Krieg holte er eine Kiste mit Familiendokumenten in Prag ab und brachte sie in seine neue Heimat England. Dort war sie jahrzehntelang in einem Schrank versteckt. Erst 1984 haben die Nachkommen sie geöffnet.
Die Chronik der Familie Wels ist eine tschechisch-deutsch-jüdisch-englische Geschichte und spiegelt die Verwicklungen des 20. Jahrhunderts. Sie beginnt bei Šimon Wels, beziehungsweise seinem Vater Bernard Wedeles, in einer kleinen Gemeinde in Westböhmen und führt bis zu Colin Wels nach Oxford.
„Für Colin und seine Familie ist es sehr seltsam. Ich glaube, das kennen viele Familien, die von ihrer Vergangenheit irgendwie getrennt wurden. Es ist seine Geschichte, es ist die Geschichte seiner Familie, aber gleichzeitig ist es nicht seine Geschichte, weil er das persönlich nicht erlebt hat. Er weiß nicht, wie man in Tschechien lebt. Er hat seinen Großvater, seine Großmutter und seinen Onkel Martin nicht gekannt. Er kennt sie nur durch das, was erhalten blieb oder erzählt wurde. Und manchmal tut es ihm auch sehr weh.“
Soweit David Vaughan. Der in Prag lebende britische Journalist hat Colin Wels persönlich kennengelernt und ihn bei der Suche nach seinen Wurzeln begleitet. In Colins Haus in Oxford hatte David Vaughan die Möglichkeit, in die Kiste mit dem Familienarchiv zu schauen. Anhand der dort aufbewahrten Sachen hat er für den Tschechischen Rundfunk eine Radio-Doku gedreht sowie eine Ausstellung zusammengestellt. Sie ist aktuell in der Villa Winternitz in Prag zu sehen.
Memoiren eines jüdischen Händlers
Der Titel der Ausstellung lautet „Keine Nacht so dunkel“. Entlehnt ist er aus den Memoiren „U Bernatů“, auf Deutsch „Bei den Bernats“, die Šimon Wels verfasst hat. „Keine Nacht ist so dunkel, dass die Morgenröte und ein neuer Tag ihr nicht folgen können“, schrieb er 1919.
„Šimon Wels hatte einen kleinen Laden am Dorfplatz in Osek bei Rokycany in Westböhmen. Er war ein gewöhnlicher Dorfmensch, aber sehr intelligent, hat alles beobachtet und kurz vor seinem Lebensende, im Jahr 1919, seine Erinnerungen niedergeschrieben. Sie sind literarisch interessant und bieten ein herrliches Bild aus dem Dorfleben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an.“
Das auf Tschechisch geschriebene Memoirenbuch war einer der Schätze, die sich in der geretteten Kiste mit Familiendokumenten fanden. Der jüdische Händler schildert in seinen Erinnerungen nicht nur Geschichten aus seinen Lebzeiten. Er blickt auch weiter in die Vergangenheit zurück. Wie etwa auf die Hochzeit seiner jüdischen Eltern, für die eine Erlaubnis von Graf Sternberg erforderlich war. Šimon Wels‘ Mutter wagte eine Wanderung von 200 Kilometern, um die Zustimmung zu bekommen:
„Sie ist zu Fuß nach Prag gegangen, hat dort Graf Sternberg aber nicht angetroffen. Sie ging also zurück nach Westböhmen, bis nach Karlsbad, und da fand sie ihn. Šimon beschreibt diese Szene, als sie ganz erschöpft beim Grafen ankommt. Sie, jung und hübsch, überzeugt ihn, ihr die Erlaubnis zu geben, Bernard zu heiraten. Und so fängt eigentlich die Familiengeschichte an.“
Der Architekt Rudolf Wels
Das berühmteste Mitglied der Familie Wels war Šimons Sohn Rudolf. Er kam 1882 in Osek zur Welt.
„Er wuchs auf dem Dorf auf, aber sein Vater hat ihn sehr unterstützt. Der Sohn ging sogar an die Akademie der bildenden Künste in Wien. Er studierte Architektur, und das später auch beim bekannten Architekten Adolf Loos.“
In der Zwischenkriegszeit setzte sich Rudolf Wels in der Tschechoslowakei als Architekt durch. Viele seiner Werke stehen heute in Tschechien.
„Er hat sehr viel in Falkenau, heute Sokolov und in Karlsbad (heute Karlovy Vary, Anm. d. Red.) gebaut. Sein überhaupt bekanntestes Gebäude ist wahrscheinlich das Bergarbeiterhaus in Falkenau. Darin sind Wohnungen, ein Theater, alles Mögliche. Es war für Mitte der 1920er Jahre ein sehr modernes Gebäude. Wels hat auch viele Sanatorien sowie das jüdische Altenheim in Karlsbad entworfen.“
Bis 1933 lebte die Familie Wels in Westböhmen. Rudolf heiratete noch während des Ersten Weltkriegs seine Frau Ida, und sie hatten zwei Söhne, Thomas und Martin.
„1933 zog die Familie nach Prag um. Dort entwarf er noch mehrere interessante Gebäude. Es waren hauptsächlich Wohnblöcke, die heute noch stehen. Und zusammen mit dem Architekten Guido Lagus arbeitete er auch an mehreren Filmen. Unter anderem an einem meiner Lieblingsfilme aus dieser Zeit, „Hej rup“, mit den bekannten Komikern und Schauspielern Voskovec und Werich.“
Sancta Familia: Bilder aus dem Alltag
Über das Leben der Familie Wels in Prag in den 1930er Jahren erzählt eine weitere, sehr persönliche Quelle. Es ist ein handgemachtes Büchlein namens Sancta Familia:
„Die beiden Söhne, Martin und Thomas, schrieben und illustrierten zu Weihnachten 1938 ein Buch aus dem Alltag der Familie und schenkten es den Eltern. Daraus geht hervor, dass die Wels eine ganz normale, moderne Familie waren. Interessant ist, dass sie zweisprachig waren. Rudolf stammte aus dem tschechischsprachigen Gebiet, seine Frau aus dem Egerland, also einem deutschsprachigen Gebiet, aber die beiden Söhne waren komplett zweisprachig. Die Dialoge im Buch gehen aus dem Deutschen ins Tschechische über und andersherum, das ist manchmal auch spielerisch.“
Das Judentum habe für die Familie keine wesentliche Rolle gespielt, so Vaughan.
„Sie feierten zum Beispiel Weihnachten, haben aber das Judentum nicht abgelehnt. Ich glaube, sie haben sich nicht mit der Frage beschäftigt, ob sie Tschechen oder Deutsche, Juden oder Christen sind. Es war komplizierter, wie das wahre Leben. Es waren andere Leute, die ihnen gesagt haben: Jetzt seid ihr das oder das. Sie selbst haben diese Entscheidung nicht getroffen.“
Der Tod in Auschwitz
Der Bruch im Leben der Familie Wels kommt 1938 durch das Münchner Abkommen. Darin musste die Tschechoslowakei die Grenzgebiete an Hitler-Deutschland abtreten. Danach sei wirklich alles schiefgegangen, sagt der britische Journalist:
„Im Herbst 1938 beantragten sie bereits ein Visum für die Vereinigten Staaten. Aber erst eine Woche nach der Besetzung der restlichen Tschechoslowakei durch die Deutschen, am 22. März 1939, bekamen sie einen Antwortbreif von der amerikanischen Botschaft. Ihr Antrag wurde zwar nicht abgelehnt, aber die Bearbeitung wurde verschoben. Und das war eigentlich das Dasselbe. Unter den damaligen Bedingungen war bereits klar, dass sie nicht mehr hinauskommen aus dem Land.“
Nur ein einziges Familienmitglied konnte dem grausamen Schicksal entkommen, das die Juden im sogenannten „Protektorat Böhmen und Mähren“ traf.
„Dem älteren Sohn von Rudolf und Ida, Thomas, gelang es, sich über die polnische Grenze schmuggeln zu lassen. Er floh und kam danach bis nach Großbritannien. Im Zweiten Weltkrieg diente er in der britischen Armee.“
Rudolf und Ida sowie der jüngere Sohn Martin blieben hingegen. Ihr Leben wurde immer stärker eingeschränkt. Sie mussten ihre Wohnung verlassen. Rudolf durfte nicht mehr als Architekt arbeiten. Ab 1941 mussten sie einen gelben Stern als Zeichen der Entrechtung tragen. Und Anfang 1942 wurden sie ins Ghetto Terezín / Theresienstadt deportiert.
„Aber kurz bevor sie weggehen mussten, haben all die Sachen, die ihnen am wichtigsten waren, bei Freunden hinterlassen: Briefe, Fotos, den Memoiren-Text von Šimon Wels, Skizzen, die Martin gezeichnet hat, und weitere Sachen. Deswegen ist das alles erhalten geblieben. Martin und seine Eltern wurden leider im März 1944 in Auschwitz ermordet.“
Der Neuanfang
Nur Thomas überlebte. Nach Kriegsende kehrte er nur vorübergehend in die Tschechoslowakei zurück, erzählt Vaughan:
„Eigentlich war es für ihn sehr traurig. Es ist unvorstellbar, seine ganze Welt gab es nicht mehr. Er hatte niemanden und nichts mehr in der Tschechoslowakei. Er hatte inzwischen eine englische Frau in England, kurz vor dem Kriegsende wurde ein Kind geboren, später noch zwei weitere. Ich glaube, dass er nur weiterleben konnte, ohne durch die ganze Sache psychisch zerstört zu werden, weil er darüber nicht mehr sprach. Er hat mit seinen Kindern wirklich nie über die Vergangenheit gesprochen.“
Die Kinder sind als Engländer aufgewachsen. Sie wussten, dass ihr Vater aus der Tschechoslowakei stammte, aber das war alles. Die Familiendokumente, die Bücher, Fotos und Zeichnungen, Rudolfs Entwürfe von Bauprojekten, aber auch etwa Briefe aus Theresienstadt, die ein Familienfreund ihnen nach dem Krieg nachgeschickt hatte, blieben in einem Schrank versteckt:
„Nachdem Thomas in den 1980er Jahren schwer erkrankt war, entschied sich sein Sohn Colin, diese Kiste aufzumachen und mehr über die Vergangenheit der Familie zu erfahren. Und das war der Neuanfang auf der Suche nach der unterbrochenen Familiengeschichte.“
Die Ausstellung „Keine Nacht so dunkel“ ist in der funktionalistischen Villa Winternitz in Prag (Na Cihlářce 10, Praha 5) zu sehen, und zwar noch bis 29. November. Die Öffnungszeiten sind sonntags bis mittwochs von 12 bis 18 Uhr. Die deutschsprachige Fassung der Ausstellung wird ab Februar in Berlin und im Herbst 2021 auch in München zu sehen sein.