Deutsche Erinnerungen an Mai 1945 in der Tschechoslowakei
Der Mai 1945 bedeutete für die tschechischsprachigen und die deutschsprachigen Bewohner der Tschechoslowakei teils Unterschiedliches. Die Germanistin Kateřina Kovačková hat daher für ihr neues Buch zehn Zeitzeugen befragt. Sie leben heute in Deutschland und in Tschechien, deswegen heißt die Neuveröffentlichung auch „Mai 1945 in der Tschechoslowakei, Erinnerungen jenseits und diesseits der Grenze“. Befragt wurden Frauen und Männer, die zu Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen fünf und fünfzehn Jahre alt waren.
Frau Kovačková, Sie sind Autorin des zweisprachigen Buches „Mai 1945 in der Tschechoslowakei. Erinnerungen jenseits und diesseits der Grenze / Květen 1945 v Československu. Vzpomínky na jedné i druhé straně hranice“, das in diesem Jahr beim LIT-Verlag in Münster erschienen ist. In dem Band sind zehn Menschenschicksale festgehalten. Wie ist er entstanden?
„Ich bin zu den Zeitzeugen nach Hause gegangen und habe mit ihnen ein Interview geführt. Es ist nicht mein erstes Buch zu diesem Thema. Ich habe bereits ein ähnliches Buch unter dem Titel ‚Böhmisches. Allzu Böhmisches?‘ verfasst. Anhand von persönlich geführten Interviews fasse ich eine Geschichte zusammen, ein Lebensbild, ein Stück erzählende Geschichte. Was ich mache, bewegt sich an der Schwelle zu ‚Oral History‘, also der mündlich erzählten Geschichte. Ich berühre mit den Zeitzeugen und Zeitzeuginnen häufig auch Themen, die er oder sie noch nie so ausgesprochen hat. Und zwar weil die Dinge sehr persönlich sind oder man Scheu hatte, es zu sagen, um nicht als Nestbeschmutzer gebrandmarkt zu werden. Oder es hat einfach niemanden interessiert, wie ein Kind oder Jugendlicher zum Beispiel die Vertreibung empfunden hat. Das alles ist Thema dieser Geschichten. Aber nicht nur das. Es geht auch um das, was davor in der Tschechoslowakei war. Wie das deutsch-tschechische Miteinander in der Kindheit empfunden wurde. Häufig – das ist auffällig – wird das als etwas Schönes, Harmonisches, Bereicherndes dargestellt.“
Wer sind konkret diese zehn Personen, die Sie angesprochen haben? Wie sind Sie mit ihnen in Kontakt gekommen?
„Ich kann sagen, dass die Corona-Krise mir ein bisschen geholfen hat. Bei meinem ersten Buch habe ich in Deutschland über die Sudetendeutschen- und Vertriebenenverbände nach geeigneten Zeitzeugen gesucht. Jetzt mit der Grenzschließung musste ich mich mehr auf die tschechische Seite konzentrieren. Also auch wieder über die Verbände der in Tschechien verbliebenen Deutschen oder den Kulturverband habe ich habe ich Kontakte zu einigen dieser Referenten und Referentinnen in meinem Buch bekommen. Mit den Zeitzeugen auf der deutschen Seite stand ich brieflich, auf postalischem Wege im Kontakt. Sie haben mir ihre Lebenserinnerungen anhand den von mir zugesandten Fragen geschildert. Manchmal waren das sehr rührende Briefe, handgeschrieben, mehrere Seiten lang, mit großer Sorgfalt und so schön verfasst, dass ich mich letzten Endes entschieden habe, in diese Texte möglichst wenig einzugreifen. Im Buch sind sie nicht in der Briefform, sondern als eine Erzählung aus der Ich-Perspektive abgedruckt.“
Haben all diese Menschen, mit denen Sie gesprochen haben, deutsche Wurzeln?
„Eigentlich ja. Auch ein Herr, der sich als Tscheche erachtet, stammt aus einer ‚Mischehe‘. Seine Mutter war eine Deutsche, hat aber einen Tschechen geheiratet und sich von nun da ab mit dem Tschechischen identifiziert.“
Sie haben sowohl mit Menschen gesprochen, die nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben wurden, als auch mit jenen, die hier geblieben sind. Unterscheidet sich die Perspektive der Menschen, die nach dem Krieg diesseits und jenseits der Grenze gelebt haben?
„Ja, sie unterscheidet sich massiv. In solch einem Maß hätte ich das nicht erwartet. Man merkt schon, wie prägend die jeweiligen Narrative über die Vertreibung jenseits und diesseits der Grenze für das geschichtliche Bewusstsein der Deutschen aus den böhmischen Ländern sind. Die vertriebenen Deutschen, die jetzt in Deutschland leben, sind natürlich beeinflusst vom dort gängigen Narrativ über die Vertreibung. Im Sinne von: ‚Uns wurde Unrecht angetan, und die bösen Tschechen sollten sich mal entschuldigen‘ – ich überspitze das und sage nicht, dass alle so denken. Auf der tschechischen Seite ist es anders. Natürlich sprechen alle verbliebenen Deutschen mittlerweile Tschechisch, mehr oder weniger perfekt. Bei ihnen liegt es auf der Hand, dass sie ebenfalls zornig sein könnten auf die Tschechen, weil sie noch viele Jahre nach dem Krieg mit Nachteilen zu kämpfen hatten in der Tschechoslowakei. Sie hätten also alles Recht, sich ungerechnet behandelt zu fühlen und dem System oder dem tschechischen Volk dies zu verübeln. Dem ist erstaunlicherweise nicht so. Das hängt wahrscheinlich auch damit zusammen, dass man einen tschechischen Ehemann oder Ehefrau hatte. Diese Menschen sind völlig assimiliert und haben mehr oder weniger das gängige tschechische Narrativ akzeptiert oder wahrgenommen. Bei diesen verbliebenen Deutschen, die aus unterschiedlichen Gründen in der Tschechoslowakei bleiben mussten, ist kein Gram gegenüber den Tschechen zu spüren. Das war für mich erstaunlich.“
Können Sie eines der Lebensschicksale schildern, damit man sich vorstellen kann, wie das Buch aussieht?
„Ich habe schon ein Beispiel erwähnt und bleibe auch bei ihm. Es ist die Geschichte eines Halb-Tschechen und Halb-Deutschen. Emil Pražan wurde in der Nähe von Litoměřice / Leitmeritz geboren und gelangte durch unterschiedliche Peripetien bis nach Prag, wo er auch heute noch lebt. Bei ihm hat mich erstaunt, wie sehr er sich – obwohl zur Hälfte Deutscher – mit dem Tschechischen identifiziert, obwohl dies wiederum schwankend ist. Ein Beispiel: Er war eines von vier Kindern. Die beiden älteren Schwestern haben deutsche Schulen besucht. Die älteste Schwester ging in die deutsche Handelsschule, damit sie perfekt Deutsch sprechen konnte, obwohl alle Kinder im tschechischen Geist erzogen wurden. Es ging auf beiden Seiten hin und her. Ich habe mit dem Zeitzeugen darüber gesprochen, dass ja 90 Prozent der Sudetendeutschen für Henlein waren, aber man es angesichts der aufgeheizten Atmosphäre nachvollziehen kann, dass die Sudetendeutschen diesem Gerede auf den Leim gegangen sind. Er hat mir gesagt, dass sein Vater dies seiner Mutter erklärte und sie das so angenommen hat. Also auch diese Gespräche über das Thema haben wahrscheinlich der Mutter geholfen, über den Gegensatz hinwegzukommen.“
Der Fokus Ihres Buchs liegt auf dem Mai 1945. Haben die Erinnerungen etwas Gemeinsames, was diese Zeit betrifft? Vielleicht die Freude, dass der Krieg zu Ende ist?
„Es ist recht unterschiedlich. Im Böhmerwald hat man zum Beispiel vom Krieg so gut wie gar nichts gemerkt. Man lebte auf einem abgelegenen Hof oder in einer Gemeinschaft, die ein paar Häuser zählte. Da flogen keine Flugzeuge drüber, man hörte keine Bombardements. Auch hatte man kein Radio. Deswegen waren die Menschen dort ziemlich überrascht über das, was nach dem Krieg kam. Auf der tschechischen Seite, zum Beispiel bei dem schon erwähnten Emil Pražan, war das anders. Seine Familie identifizierte sich mit dem Tschechischen, und man freute sich wirklich über das Kriegsende, inklusive der deutschstämmigen Mutter. Da merkt man schon einen Unterschied: Die Tschechen haben das Kriegsende natürlich begrüßt, die Sudetendeutschen sind dem Kriegsende und den Ereignissen danach eher mit gemischten Gefühlen, mit Angst und Bangen entgegengetreten. Das sind tatsächlich sehr unterschiedliche Perspektiven.“