Radikal und einflussreich – der Kunstkritiker Karel Teige
Man muss nicht selbst die tollsten Werke schaffen, um in der Kunst eine respektierte Größe zu werden. Dem Tschechen Karel Teige gelang dies vor allem als Kritiker. In der Zwischenkriegszeit gehörte er zur linken Avantgarde. Mit seinen theoretischen Schriften brachte er mehrere Kunstrichtungen ins Rollen, so etwa den Poetismus und später die tschechische Ausprägung des Surrealismus. Vor 100 Jahren wurde Teige in Prag geboren.
Bereits mit 19 Jahren beginnt Karel Teige damals, die Kunstszene in der Tschechoslowakei aufzumischen. Anfang Oktober 1920 gehört er zu den Gründungsmitgliedern des avantgardistischen Künstlerbundes Devětsil (Pestwurz). Die Mitglieder sind zum Großteil Schriftsteller. Aber es finden sich auch Schauspieler, bildende Künstler und Komponisten unter ihnen. Teige wird in den folgenden Jahren zu einem der wichtigsten Theoretiker moderner Kunstauffassungen im Land. Wie sehr sein Einfluss bis heute zu spüren ist, erläutert der Literaturwissenschaftler Jan Wiendl von der Prager Karlsuniversität gegenüber Radio Prag International:
„Man kann sagen, dass Karel Teige die bestimmende Persönlichkeit war als Theoretiker, Praktiker, Künstler und Denker, um in Grundzügen einen Plan für eine moderne tschechische Kultur zu skizzieren. Er war also der zentrale Theoretiker, der sich verdient gemacht hat um die Ausformung und Entwicklung der tschechischen Kunst zwischen den beiden Weltkriegen.“
Seiner Generation voraus
Selbst der Dichter und spätere Nobelpreisträger Jaroslav Seifert hat damals eine hohe Meinung von Teige. Beide verbindet schon früh die Mitgliedschaft beim Devětsil. Jan Wiendl:
„Karel Teige wurde am 13. Dezember 1900 geboren. Er hatte damit das gleiche Alter wie seine befreundeten avantgardistischen Dichter Jaroslav Seifert oder Vítězslav Nezval. Sie waren durch die Erfahrungen ihrer Generation miteinander verbunden. Teige wurde bereits in seiner Jugend intellektuell geformt. Natürlich war er auch sehr begabt, aber sein Vater, der Prager Stadtarchivar und Historiker Josef Teige, legte großen Wert auf die Bildung seiner Kinder – und besonders seines erstgeborenen Sohnes.“
In Prag geht Karel Teige auf ein Elitegymnasium, daran schließt er ein Kunststudium an der Prager Karlsuniversität an. Doch das ist laut Jan Wiendl gar nicht so entscheidend für seine intellektuelle Entwicklung, sondern vor allem der Wissensdurst. Schon als Teenager interessiert sich Teige für moderne Kunst nicht nur in seiner Heimat, sondern weltweit.
„Als 17- und 18-Jähriger trat er bereits in einen regen Kontakt mit den Redaktionen unterschiedlicher Zeitschriften der Avantgarde. Das waren besonders die deutschsprachigen Publikationen ‚Die Aktion‘ oder ‚Der Sturm‘, in denen er seine literarischen Texte veröffentlichte. In den tschechischen Zeitschriften brachte er Kunstkritiken heraus. In diesem Sinn hatte er einen großen intellektuellen, aber auch Bildungs-Vorsprung gegenüber den anderen Gleichaltrigen. Diese merkten das und stellten ihn an ihre Spitze“, so Literaturwissenschaftler Wiendl.
Die tschechoslowakischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit sind sowohl künstlerisch radikal, als auch politisch. Von Teige wird gesagt, er habe die Ideologien aus Moskau mit der Kunst aus Paris verbinden wollen. Ein Karikaturist stellt ihn mit der sowjetischen Flagge in der einen Hand und einem Gedichtband von Apollinaire in der anderen dar. Diese Radikalität zeigt sich auch bei einer gemeinsamen Reise von ihm und Jaroslav Seifert nach Paris. Der Dichter beschwert sich nachher, dass ihn sein Kompagnon nicht in den Louvre gelassen habe. Diese Anekdote kann auch Jan Wiendl bestätigen:
„Es war tatsächlich so. Teiges ästhetische Vorstellungen waren revolutionär, vor allem Anfang der 1920er Jahre, als die erwähnte Reise stattfand. Er wollte eine proletarische Kunst durchsetzen, eine proletarische Poesie zusammen mit den Schriftstellern Hora, Neumann, Wolker und Weiteren. Dieses künstlerische Konzept sollte praktisch auf der grünen Wiese entstehen, indem man sich von der bisherigen, auch modernen Kunst verabschiedete. Man wollte die alten Bindungen kappen, um den Künstler unabhängig zu machen. Es ging Teige um eine utopische Form der Freiheit. Er suchte nach neuen Möglichkeiten des Ausdrucks, um die neue utopische Welt zu besetzen, von der er unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg träumte.“
Begeisterung für die Sowjetunion
Daher stehen die Künstler auch der neugegründeten Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei nahe – oder schließen sich ihr direkt an. 1925 reist Teige zusammen mit weiteren linksgerichteten Kulturschaffenden aus Prag in die Sowjetunion.
„Für Teige war die Reise von grundlegender Bedeutung. Bei dieser traf er in Moskau und Leningrad vor allem mit russischen Architekten zusammen, so etwa mit Melnikow, Lissitzky oder Ginsburg. Die gesamte Reise war entscheidend für den späteren Konstruktivismus, über den Teige dann Feuilletons und Studien in unterschiedlichen Zeitschriften schrieb. Diese Texte wurden 1927 zum Buch ‚Sowjetische Kultur‘ zusammengefügt“, sagt der Literaturwissenschaftler.
So erscheint zum Beispiel 1925 in der Zeitschrift Disk II ein Beitrag von Karel Teige mit dem Titel „Konstruktivismus und die Zerstörung der Kunst“. In diesem heißt es unter anderem:
„Die Konstruktivisten machen überhaupt keine Vorschläge für eine neue Kunst, sondern sie bieten den Plan einer neuen Welt, das Programm eines neuen Lebens. Sie setzen nicht irgendwelche ästhetischen Theorien um, sondern schaffen eine neue Welt. Sie kommen einfach mit dem Vorschlag einer neuen Erdkugel. Sie wollen die Welt auf neuen Festen rekonstruieren, orientiert an einem gerechteren sozialen Gleichgewicht. Sie leugnen en bloc jeglichen Klassizismus und Romantismus…“
Gerade die Architektur hält Teige für bedeutsam, weil er sie als Wissenschaft versteht und nicht als Kunstgattung.
Mitte der 1920er Jahre ist der junge Kulturtheoretiker noch uneingeschränkt begeistert von der sowjetischen Richtung. Davon zeugen auch die Briefe an seine Mutter, die sich heute im Prager Archiv Nationaler Literaturdenkmäler befinden. Obwohl er selbst nie Mitglied der KPTsch wird, verteidigt er zum Beispiel Ende der 1920er Jahre den Parteiausschluss von sieben Schriftstellern um Seifert und Neumann.
Zugleich aber wird Teige zu einer der wichtigsten Figuren des tschechischen Surrealismus. Diese Kunstströmung hat er in Frankreich kennengelernt, und er unterhält auch brieflichen Kontakt mit ihren führenden Vertretern. Dazu Wiendl:
„Als sich diese Mitte der 1930er Jahre von ihren Ideen her und politisch radikalisierten, wurde Teige zum Mitgründer der ‚Gruppe der Surrealisten in der ČSR’. Er stellte die Verbindung zu den französischen Mitstreitern her. Letztere dokumentierten zum Beispiel ihren Besuch in Prag, das geschah im Grunde auf der Basis gemeinsamer ideologischer Ansichten.“
Die Gruppe der Surrealisten
Die „Gruppe der Surrealisten in der ČSR“ besteht vier Jahre lang – von 1934 bis 1938. In dieser Zeit entfesselt Stalin in der Sowjetunion seinen Terror, bei dem viele sogenannte Abweichler in Schauprozessen zum Tod verurteilt werden. Unter den tschechoslowakischen Surrealisten kommt es daher zu heftigen Meinungsverschiedenheiten. Am Ende befindet sich Teige unter jenen, die sich von der offiziellen Moskauer Linie distanzieren. Seine Haltung verstärkt sich noch durch die neue Ästhetik, die Stalin durchsetzt, wie Jan Wiendl schildert:
„Für Karel Teige war es ein einschneidender Moment, als sich die offizielle Parteipolitik in der Sowjetunion von der Durchsetzung moderner Kunst abkehrte. Ein Signal war die Schließung von Meyerholds Theater in Moskau, diese verurteilte Teige sehr deutlich. Stalin setzte die sogenannte neoklassizistische Literatur durch und einen pompösen und imperialistischen Baustil, beides stand den Vorstellungen jedes modernen Künstlers oder Architekten entgegen. Das führte dazu, dass sich Teige im Lager der radikalen Gegner des Stalinismus widerfand und diesen Ausdruck kultureller und politischer Praxis in der Sowjetunion und in der Tschechoslowakei ablehnte.“
Und das hat nach der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948 dann auch ernste Konsequenzen. Doch erst einmal muss der linksgerichtete Kunstkritiker die deutsche Besatzung seiner Heimat überstehen. Während des sogenannten „Protektorats Böhmen und Mähren“ zieht sich Teige aus der Öffentlichkeit zurück, ist nicht politisch aktiv und arbeitet stattdessen an einem theoretischen Werk zur Phänomenologie. Erst nach dem Kriegsende erneuert er seine Kontakte unter anderem zu den früheren und auch neuen surrealistischen Gruppierungen. Ab 1947, und vor allem mit der Machtübernahme im Februar 1948, beginnt die kommunistische Partei in der Tschechoslowakei nach sowjetischem Vorbild nach angeblichen Feinden in den eigenen Reihen zu suchen…
„Das wurde schicksalshaft für Teige. Spätestens Ende 1949, Anfang 1950 entwickelte sich in den Parteizeitungen eine Kampagne gegen ihn als herausragende Persönlichkeit des kulturellen Lebens der Zwischenkriegszeit. Es mehrten sich die Beiträge aus der Feder unterschiedlicher stalinistischer Redakteure und Literaturkritiker, die ihn im damaligen Zeitgeist als ‚Trotzkisten‘ und ‚Revisionisten‘ abstempelten“, so Wiendl.
Zugleich muss Teige miterleben, wie vielen seiner Freunden der Prozess gemacht wird. So wird sein Kritikerkollege Záviš Kalandra sogar hingerichtet.
„Das alles war für Karel Teige das Signal, dass ihm eine schwere Zeit bevorsteht. Aus dem Briefwechsel mit seiner Lebenspartnerin Josefina Nevařilová wissen wir, dass er seine eigene Verhaftung erwartete und dasselbe Schicksal wie sein Freund Záviš Kalandra. Er stand also unter enormer Anspannung. Und in dieser Lage erlitt Teige am 1. Oktober 1951 mitten auf der Straße einen Herzinfarkt und starb noch vor Ort.“
In der Folge nehmen sich seine Lebenspartnerin Josefina Nevařilová und seine langjährige Geliebte Eva Ebertová das Leben. Gerüchte, Teige habe ebenfalls Suizid begangen, sind heute widerlegt. Nach seinem Tod gilt das Werk des einflussreichen Kritikers bei den Kommunisten lange als verpönt. Erst ab Mitte der 1960er Jahre versuchen einige seiner jüngeren Mitstreiter aus der Nachkriegszeit, Teiges Texte in drei Bänden herauszugeben. Doch in der folgenden neostalinistischen Phase kann das Projekt nicht zu Ende gebracht werden. Zwar erscheint Ende der 1960er Jahre der erste Band, der zweite aber erst nach der politischen Wende von 1989.