Tschechen und Österreicher – zusammen, auseinander, nebeneinander und gegeneinander
Jahrhundertelange Nachbarschaft und dreihundert Jahre gemeinsam verbrachte Staatlichkeit verbinden Österreicher und Tschechen. Letztere ging mit dem Zerfall der Habsburger Monarchie und der Entstehung der beiden selbständigen Staaten am 21. beziehungsweise 28. Oktober 1918 zu Ende. Die Publikation „Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch“ behandelt in zwölf Kapiteln die Geschichte des Zusammen-, Auseinander-, Nebeneinander- und Gegeneinanderlebens in den vergangenen zwei Jahrhunderten.
"Das Buch widmet sich der tschechischen und österreichischen Geschichte in den letzten etwa 200 Jahren. Es geht darum, nicht die Beziehungen darzustellen, sondern die zwei nationalen Geschichten zu vergleichen und eine gemeinsame Geschichte der beiden Gesellschaften beziehungsweise Staaten in einem Buch zu haben.“
Soweit der Historiker Václav Šmidrkal von der Karlsuniversität in Prag. Er ist einer der vier Herausgeber der umfangreichen Publikation. 27 Historikerinnen und Historiker aus beiden Ländern spüren in zwölf Überblickskapiteln dem Gemeinsamen und dem Trennenden nach. Sie stellen dabei nicht zwei Nationalgeschichten nebeneinander, sondern zeigen, wie sich bestimmte Entwicklungen da wie dort in die Gesellschaften eingeschrieben haben. Für die österreichische Seite war unter anderem Hildegard Schmoller von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit dabei:
„Wir österreichischen und tschechischen Historiker haben zusammen versucht, die einzelnen Kapitel der gemeinsamen und trennenden Geschichte zu verfassen. Das ursprüngliche Konzept hätte begonnen mit 1918, also mit der Entstehung der beiden Republiken. Aber natürlich gab es auch die Zeit vor 1918, also die gemeinsame Habsburger Monarchie, darum haben wir uns entschieden, noch zwei Kapitel auch dieser Vorgeschichte vor den Republiken zu widmen. Es beginnt im 19. Jahrhundert und geht bis zum Schengener Abkommen, also bis die beiden Staaten integriert sind in der Europäischen Union und zwischen ihnen wieder der grenzenlose Verkehr möglich geworden ist.“
Gemeinsames und Trennendes zwischen Tschechien und Österreich
Niklas Perzi ist Historiker am Zentrum für Migrationsforschung in St. Pölten. Er erklärt die Struktur des Buches:
„Die Hauptkapitel widmen sich dem 19. Jahrhundert und vor allem dann dem 20. Jahrhundert, also den umstrittensten Teilen der österreichisch-tschechischen Geschichte. Es ist strukturiert in sieben Zeitepochen, wobei manche sehr lang sind. Und dann gibt es noch drei Längskapitel, die über den gesamten Zeitraum versuchen, die Epoche zu beobachten und zu beurteilen: eines zur Kultur, eines zum Leben an der Grenze und eines zu den Mythen und Stereotypen.“
Auf den „Völkerfrühling“ und die bürgerliche Revolution im 19. Jahrhundert sei noch im gemeinsamen Staat eine Periode der Entfremdung gefolgt, steht in den Informationen zum Buch. Gemeinsam verlebt, unterschiedlich erlebt, könne man das Zusammenleben in den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie und im Ersten Weltkrieg bezeichnen. Die nach 1918 neu entstandenen Staaten (Deutsch-)Österreich und Tschechoslowakei befanden sich demnach in einem Spannungsfeld von Konkurrenz, Miteinander und desinteressiertem Nebeneinander. Trotz der unterschiedlichen Staats- und (nach 1948) Systemzugehörigkeit gab es Gemeinsamkeiten. Nach 1989 und dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ schien es so, als ob Konflikte wie um das Atomkraftwerk Temelín oder die „Beneš-Dekrete“ das Verhältnis dominierten. Dabei seien die gemeinsamen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Kontakte so eng wie seit 1918 nicht mehr gewesen, heißt es in der Einleitung zum Buch. Niklas Perzi:
„Vorausschickend muss man sagen, dass es im Buch nicht primär um Beziehungsgeschichte geht. Nicht die österreichisch-tschechischen Beziehungen stehen im Mittelpunkt, sondern wie beide Gesellschaften jeweils diese Epoche erlebt haben. Unser Ziel war auch zu reflektieren, inwieweit mitteleuropäische, europäische oder weltweite Trends wie etwa Industrialisierung und Modernisierung sich in Gemeinsamkeiten oder in einer unterschiedlichen Rezeption niedergeschlagen haben. Der gemeinsame Staat ist 1918 zerbrochen, wobei der Begriff Österreicher damals für etwas ganz anderes stand als heute. Auch Tschechen waren damals Österreicher, zumindest österreichische Staatsbürger. Man hat sich als Österreicher gefühlt, das Österreichertum war nichts, in das man hineingeboren wurde. Dieser Staat zerbrach, aber damit verschwanden nicht auch die Menschen, die politischen Parteien oder die Kultur. Stattdessen blieb viel Gemeinsames, und das sicher bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, weil einfach noch die Menschen gelebt haben, die zuvor diese Gemeinsamkeiten in der Monarchie erlebt hatten. Wer etwa 1870 geboren wurde, hat noch 40 Jahre in der Monarchie gelebt und diese 40 Jahre Gemeinsamkeiten mitreflektiert.“
Keine Geschichte von bilateralen Beziehungen
Die neue Publikation ist insofern einzigartig, als dass nicht einzelne Kapitel von Österreichern oder Tschechen geschrieben wurden. Stattdessen wurden gemeinsame Autorenteams gebildet, um zusammen die jeweiligen Kapitel zu verfassen. Für die beteiligten Forscher sei dies eine große Herausforderung gewesen, betont Václav Šmidrkal:
„Das Schwierigste war wohl, dass die Autoren gezwungen waren, gemeinsam zu arbeiten. Jedes Kapitel wurde von zwei beziehungsweise drei tschechischen und genauso vielen österreichischen Autoren geschrieben, und alle mussten wirklich zusammenarbeiten. So etwas machen Historiker nicht gerade jeden Tag, es war neu. Doch diese Kooperation war notwendig, um die jeweiligen Kapitel fertigzustellen.“
Und Niklas Perzi ergänzt:
„Sicher war der schwierigste Teil der Arbeit, dass sich diese Autorenteams auch einigen. Allein von der technischen Seite her musste man erst einmal eine Sprache wählen. Es ist bekannt, dass mehr Tschechen sehr gut Deutsch sprechen als Österreicher Tschechisch. Also haben wir uns auf das Deutsche als Arbeitssprache geeinigt. Aber es gab auch Textsorten in der jeweils anderen Sprache, und es wurde dann hin und her übersetzt. Die Kommunikation war nicht so einfach, obwohl es ja E-Mails gibt, aber es ist nicht der Face-to-Face-Kontakt. Wir haben auch während Corona gesehen, dass nichts den persönlichen Kontakt ersetzt. Dreimal haben sich alle Autorenteams gemeinsam getroffen, zudem sind die Autoren auch individuell zusammengekommen, um Dinge zu besprechen.“
Tschechisch-österreichische Autorenteams
In Kooperation von Václav Šmidrkal und Niklas Perzi ist das Kapitel entstanden, das die 1970er Jahre in Österreich und in der Tschechoslowakei betrachtet. Gibt es in dieser Zeit überhaupt Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Gesellschaften und Staaten, über die man berichten kann? Václav Šmidrkal:
„Eigentlich eher wenige. Im politischen Bereich war es sehr unterschiedlich, die Tschechoslowakei war eine kommunistische Diktatur, Österreich war eine etablierte Demokratie. Das war ein deutlicher Unterschied. Aber wenn wir zum Beispiel auf die Popkultur blicken, war sie für beide Gesellschaften ähnlich – das Titelfoto für das Kapitel ist ein Bild der schwedischen Gruppe Abba. Gemeinsam war also dieses Interesse an der internationalen Popkultur, und auch dass in diesem Jahrzehnt das Fernsehen zum Leitmedium in den beiden Ländern wurde. Oder etwa die Sozialpolitik als Instrument der Stabilisierung, sowohl in Österreich unter Bruno Kreisky als auch in der Tschechoslowakei Gustav Husáks.“
Perzi hat die 1970er Jahre aus österreichischer Perspektive geschildert:
„In meiner Erinnerung ist Österreich eine große rückwärtsgewandte Utopie, die sich auf die Siebziger als positiven Bezugspunkt richtet. Es war die Zeit der großen Reformen unter Bundeskanzler Kreisky, die Zeit des Ausbaus des Sozialstaates und des wirtschaftlichen Aufschwungs, den ich persönlich auch miterleben durfte. Das reichte von den Gratis-Schulbüchern über die Gratis-Schulfahrten bis zu den ersten Urlauben am Meer. In der Tschechoslowakei ist bekannterweise der Blick auf die Siebziger zweigeteilt: Es gibt den – vielleicht kann das so sagen – den Blick der Eliten, in dem die 1970er Jahre in den schwärzesten Farben gezeigt werden, als dunkle Epoche der Normalisierung. Und dann gibt es unter diesem Diskurs der Eliten, unter dieser Oberfläche auch positivere Erinnerungen an die 1970er Jahre. So profitierte man in der Tschechoslowakei von den sozialen Leistungen des Husák-Regimes, vom ersten Auto, von der ersten Plattenbauwohnung, vom gesicherten Arbeitsplatz. So ungefähr haben wir versucht, uns durch diese 1970er Jahre durchzukämpfen.“
1970er Jahre – verbunden durch Abba
Niklas Perzi schrieb zudem eines der drei thematischen Kapitel, nämlich über das Leben an der Grenze.
„Das ist ein Thema, das mir sehr nahe liegt, weil ich an der Grenze aufgewachsen bin, damals noch am Eisernen Vorhang. Ich beschäftige mich schon seit vielen Jahren mit dem Thema. Das Kapitel habe ich gemeinsam mit Sandra Kreisslová und David Kovařík geschrieben.“
Hildegard Schmoller wiederum hat die Zeit nach 1986 behandelt:
„Wir haben bewusst den Schnitt da angesetzt und nicht 1989, weil 1986 ein Schlüsseljahr ist für die österreichische Geschichte. Und in der Tschechoslowakei beginnen bereits die Umbrüche, der Aufbruch sozusagen. Das Kapitel endet mit dem Beitritt der Tschechischen Republik zu Schengen.“
Ende der 1980er Jahre sei vor allem bereits zu bemerken gewesen, dass auf österreichischer Seite ein großes Interesse bestanden habe am Geschehen in der Tschechoslowakei, sagt Schmoller. Sie fasst die weitere Entwicklung zusammen:
„Es gab sowieso viele Sympathien von österreichischer Seite, so interessierte man sich etwa für Václav Havel und unterstützte ihn. Ende der 1980er Jahre war man gespannt, was passieren würde. Die Öffnung der Grenze 1989 wurde auf beiden Seiten groß gefeiert, und in Österreich wird sich bis heute sehr positiv daran erinnert, wie die Tschechen und Slowaken zu Weihnachten Wien bevölkert haben. Nach 1989 war die Tschechoslowakei natürlich sehr mit ihren eigenen Transformationsprozessen beschäftigt und Österreich mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft. Da war zu erkennen, dass beide durch diese unterschiedliche weltpolitische Konstellation unterschiedliche Herausforderungen gesehen haben. Österreich versuchte sehr schnell, die europäische Integration voranzutreiben, aber auch die Beziehungen zum ehemaligen Ostblock aufzubauen. Es hat teilweise auf Verbindungen aufbauen können, die bereits während des Kommunismus entstanden sind oder noch weiter zurückliegen. Österreich war sehr engagiert, mit diesen Nachbarländern wieder Verbindungen anzustreben.“
Um 2000: Debatten um Temelín und Beneš-Dekrete
Die Entstehung des Buches habe eine sehr lange Vorgeschichte, betont Niklas Perzi:
„Das geht auf eine Initiative vom österreichisch-tschechischen Dialogforum aus den 2000er Jahren zurück, als es die großen Debatten um Temelín und die Beneš-Dekrete gab, als die Beziehungen am Tiefpunkt waren. Die Idee wurde aufgegriffen von der gemeinsamen Historikerkonferenz mit dem sehr barocken Namen ‚Ständige Konferenz österreichischer und tschechischer Historiker zum gemeinsamen kulturellen Erbe‘. Dann wurde sie besonders durch die Initiative des damaligen österreichischen Botschafters in Prag, Ferdinand Trauttmansdorff, ins Rollen gebracht. Ohne ihn wäre das Buch nicht entstanden.“
Bei der Arbeit an dem Werk habe es auch Kontroversen gegeben, sagt Perzi:
„Es war nicht alles harmonisch. Die größten Debatten gab es kurioserweise über die Frage der Bildauswahl. Welche Bilder verwendet man? Das geht natürlich wieder ganz tief in den beiderseitigen Opferdiskurs hinein – also wie viele tote Deutsche darf ich zeigen, wie viele tote Tschechen muss ich zeigen und so weiter? Darüber gab es Diskussionen und auch darüber, welchen Quellenwert diese Bilder haben und ob sie überhaupt gesichert sind.“
Dabei habe man sich bemüht, den national geprägten Blickwinkel aufzugeben, betont Schmoller:
„Das ist auch weitgehend gelungen. Interessant waren vor allem manche Diskussionen untereinander, nicht zwischen tschechischen und österreichischen Teams, sondern die Diskussionen innerhalb der österreichischen Teams, gerade wenn es um die Erste Republik in Österreich geht. Darüber wird nach wie vor in der österreichischen Gesellschaft selbst, aber auch unter den Historikern noch kontrovers diskutiert. Für die tschechischen Kollegen war es manchmal überraschend, welche Diskussionen dabei entbrannt sind.“
Ohne national geprägte Blickwinkel
Šmidrkal unterstreicht zudem, dass es seiner Meinung nach keine dezidierte tschechische oder österreichische Perspektive gebe.
„Es geht darum, dass die Historiker heute oft im internationalen Kontext professionell sozialisiert wurden, Tschechen haben in Österreich und in Deutschland studiert und umgekehrt. Die Wissenschaft ist heute internationalisiert, und die nationalen Sichtweisen stehen nicht im Vordergrund.“
Soweit zur Arbeit am Buch „Nachbarn. Ein österreichisch-tschechisches Geschichtsbuch.“ Und an welche Leser richtet sich die Publikation? Hildegard Schmoller:
„Das Buch ist für die breite Öffentlichkeit gedacht, für alle Menschen, die sich für Österreich und Tschechien sowie die gemeinsamen Beziehungen interessieren. Sie können und sollen dieses Buch lesen und finden darin sicher schöne und interessante Ausführungen. Es kann auch als Grundlage für die Schule verwendet werden. Wir haben aber aus den einzelnen Kapiteln auch extra Schulmaterialien erstellt. Sie stehen zum Download bereit und können von Schulen verwendet werden.“
Die deutsche Fassung ist 2019 im österreichischen Verlag „Weitra: Bibliothek der Provinzin“ erschienen. Ein Jahr später kam es in tschechischer Sprache heraus, und zwar im Verlag „Nakladatelství Lidové Noviny“.