Die belastete Geschichte ausgeklammert – 25 Jahre Deutsch-tschechische Erklärung
Fast 50 Jahre lang stand die gemeinsame Geschichte den Tschechen und Deutschen im Weg. Nationalsozialismus und Vertreibung verhinderten einen normalen Umgang miteinander, dazu kam die politische Spaltung Europas im Kalten Krieg. Heute ist das gänzlich anders. Das wichtigste Dokument für diesen Wandel wurde vor 25 Jahren unterzeichnet: die Deutsch-tschechische Erklärung.
Wenn sich heute Jugendliche aus Tschechien und Deutschland im Erzgebirge zum Sommercamp treffen und ein Moor renaturieren, dann gehört das zum normalen Miteinander in Europa. Oder wie der Politologe Vladimír Handl vom Institut für Auslandsbeziehungen in Prag sagt:
„Es besteht eine dezentralisierte und weitgehend entpolitisierte Zusammenarbeit in allen möglichen Bereichen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Lebens. Polizeizusammenarbeit, Umweltschutz – das alles sind Themen, für die beide Seiten seit 25 oder auch 30 Jahren sehr viel getan haben.“
Kein Schlussstrich
Unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhangs war dies noch undenkbar gewesen. Dabei wünschten sich die damalige Tschechoslowakei und Deutschland jedoch einen Neunanfang in den Beziehungen. 1992 entstand dazu ein Staatsvertrag. Er ließ aber noch zu viele Fragen offen – insbesondere zur gemeinsamen Vergangenheit, zu den Traumata. Die Erfahrung von nationalsozialistischem Terror auf der einen Seite und der Vertreibung auf der anderen Seite führten zu zwei unvereinbaren Positionen. Vladimír Handl schildert die Sicht, die in Prag vorherrschte…
„Die tschechoslowakische, später tschechische Seite wollte unbedingt die offenen Fragen, so wie sie diese wahrgenommen hat, schließen. Man wollte einen Schlussstrich unter die Geschichte ziehen und auch die Vermögensfragen abschließen. Die Vorstellung war, dass am Ende eine Doppelnull dastehen würde – also weder die tschechische noch die deutsche Seite noch etwas beansprucht hätte“, so der Politologe.
Das hätte aber bedeutet, über Reparationsforderungen für das Unrecht aus der NS-Zeit und ebenso mögliche Entschädigungen für Vertriebene zu sprechen. Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Dietrich Genscher beziehungsweise später Klaus Kinkel befürchteten, so die Büchse der Pandora zu öffnen. Berlin wollte daher ein in die Zukunft gerichtetes Dokument und keinen Schlussstrich.
1995 wurden die Verhandlungen aufgenommen. Mühsam war der Annäherungsprozess, doch er mündete in einen Erfolg: Am 21. Januar 1997 konnte im Liechtenstein-Palais in Prag die Deutsch-tschechische Erklärung unterzeichnet werden. Zehn Tage später stimmte der Bundestag dieser zu und Mitte Februar auch das Abgeordnetenhaus in Prag. Überzeugter Befürworter des Dokuments war Tschechiens Staatspräsident Václav Havel. In einem Rundfunk-Interview erläuterte er:
„In der Erklärung bedauert die deutsche Seite alle Gräuel des Nationalsozialismus inklusive der Zerschlagung der Tschechoslowakei. Das Dokument enthält aber auch unser Bedauern über alle Exzesse, die nach dem Krieg die Abschiebung oder Vertreibung beziehungsweise gewaltsame Aussiedlung begleitet haben. Grundlegend ist dabei, dass die deutsche Seite ihren politischen Willen ausdrückt, die Eigentumsansprüche oder weitere Forderungen der Sudetendeutschen nicht zu unterstützen, sich nicht mit ihnen zu identifizieren und sie als Regierung nicht vorzubringen. Dazu erklärt sie, unsere Rechtsauffassung zu respektieren, die solche Ansprüche nicht anerkennen. Mehr ließ sich nicht erreichen, und das halte ich für einen großen Erfolg unserer Diplomatie.“
Es sei ein sehr ausgereiftes Dokument, sagt auch der Politologe Handl. Denn Tschechien und Deutschland konstatierten, dass sie nicht gleicher Meinung seien bei der Einschätzung der Vergangenheit. Zugleich heißt es in Artikel vier der Erklärung:
„Beide Seiten erklären deshalb, dass sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden.“
Und Vladimír Handl ergänzt…
„Das hieß aber nicht, dass die Vergangenheit damit abgeschlossen sein sollte. Vielmehr wurde das Thema an die gesellschaftliche Debatte weitergeleitet, gestützt auf die Deutsch-tschechische Historikerkommission und die neu gegründeten Institutionen wie den Zukunftsfonds, das Diskussionsforum und später auch das Jugendforum. Dort bemühte man sich, die Debatte weiterzuführen und zu kultivieren“, so der Deutschland-Kenner.
Briefe an Staatspräsident Havel
Auf deutscher Seite wurde die Erklärung wohl von den Sudetendeutschen am genauesten gelesen – und sehr unterschiedlich bewertet. Martin Kastler ist Bundesvorsitzender der Ackermann-Gemeinde, in der sich katholische Vertriebene zusammengeschlossen haben. Er erinnert sich noch genau an die Zeit vor 25 Jahren:
„Damals habe ich im internationalen Staff von Václav Havel mitgearbeitet. Ich habe unzählige Briefe von Sudetendeutschen an die Kanzlei des Staatspräsidenten gelesen und Antworten entworfen. Darunter waren ganz unterschiedliche Positionen, einerseits sehr positiv und versöhnlich. Man hat es begrüßt und sich gefreut, dass ein neues Kapitel aufgeschlagen wurde. Da denke ich vor allem auch – vielleicht aus eigener Erfahrung – an die Ackermann-Gemeinde und die vielen dort engagierten Christen. Andererseits gab es natürlich auch Sudetendeutsche, die politisch in der Landsmannschaft verortet waren und damals der Deutsch-tschechischen Erklärung noch sehr zurückhaltend, manchmal auch ablehnend gegenüberstanden. Aber das Schöne ist, dass man sich wirklich die Hand gereicht hat. Auf Basis dieser Deklaration, die meiner Meinung nach ein ganz großer Fortschritt in den deutsch-tschechischen Beziehungen war, wurde in die Zukunft geschaut.“
Martin Kastler hat den gesamten Prozess miterlebt und auch mitgestaltet. Seit 2012 gehört er dem Verwaltungsrat des Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds an.
„Seit der Gründung des Zukunftsfonds, der ja ein Ergebnis dieser Erklärung ist, sind mittlerweile 70 Millionen Euro für fast 12.000 Projekte zur Verfügung gestellt worden. Auf der anderen Seite gab es unzählige Gesprächsforen – darunter auch das offizielle Deutsch-tschechische Gesprächsforum –, in denen Deutsche und Tschechen beziehungsweise Sudetendeutsche und Tschechen miteinander ohne Tabu in Diskussionen eingestiegen sind. Oft verliefen diese auch hart, etliche habe ich selbst erlebt. Sie haben aber dazu geführt, dass man jetzt in einer ganz anderen Nachbarschaft und in vielen Fällen auch in Freundschaft zusammenarbeitet“, so der CSU-Politiker Kastler.
Diese positive Bilanz in den tschechisch-deutschen Beziehungen sieht auch der Politologe Handl. Seit 2015 besteht zudem ein sogenannter strategischer Dialog zwischen Prag und Berlin. Das heißt, dass die Ministerien nicht nur auf höchster Ebene, sondern ebenso auf der einzelner Referate miteinander zusammenarbeiten.
„Diese Horizontalisierung des Verhältnisses ist äußerst wichtig, weil es die europäische Normalität darstellt, die der westliche Teil Europas schon seit mehreren Jahrzehnten kennt. Sie ist bei uns aber erst allmählich aufgebaut worden“, betont Vladimír Handl.
Grenzschließung im Corona-Lockdown
Das heißt jedoch nicht, dass die tschechisch-deutschen Beziehungen idyllisch wären. Ein Streit betrifft den Umgang mit Flüchtlingen, besonders die Frage von Umverteilungsquoten in der EU. Während Berlin sich für die Quoten ausspricht, ist Prag strikt dagegen. Neu aufgeflammt ist zudem die Diskussion darüber, wie sauber Kernkraft ist. Doch dies sind Fragen der politischen Wertung. Fast schon bedenklicher muss stimmen, wie in der Coronakrise jeglicher Dialog – nicht nur der strategische – über den Haufen geworfen wurde. Dazu der Politologe:
„Im Februar 2020 hat zunächst Tschechien und im März 2021 dann Deutschland völlig unkoordiniert und ohne Konsultation der anderen Seite die Grenze geschlossen. Dadurch wurde besonders in den Grenzgebieten das tägliche Leben belastet, unter anderem der Berufspendler. Es war schon sehr erstaunlich, dass beide Seiten in der Krise einen nationalstaatlichen Reflex gezeigt haben. Grenzschließungen sind ohnehin in Europa eine schwierige Sache, vor allem aber wenn man die andere Seite nicht einbindet und keine Kompensationsstrategien entwickelt. Dies hat gezeigt, dass wir trotz allem Erreichten noch mehr tun müssen. Man hat sich auch hier bewegt und eine Koordinierungsstelle zwischen beiden Außenministerien eingerichtet. Obwohl dieses Organ gut arbeitet, konnte 2021 die erwähnte Grenzschließung von deutscher Seite nicht verhindert werden. Wir haben es also noch nicht ganz geschafft, ein Miteinander zu entwickeln und dieses praktisch umzusetzen.“
Dass die Politiker in der Coronakrise an jeglichem europäischen Geist vorbeiregiert haben, ist vielen Engagierten aufgestoßen. Einige haben Initiativen gebildet für Treffen an der geschlossenen Grenze. Unter anderem auch dies lässt vermuten, dass die tschechisch-deutschen Beziehungen in bestimmten Bereichen heute schon nachhaltig sind. Ziemlich prophetisch verwies bereits vor 25 Jahren Václav Havel auf den Erfolg der Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955 – sozusagen als Vorbild für das tschechisch-deutsche Pendant:
„Diese Erklärungen waren ein grundlegender Schritt, um die Beziehungen zwischen Deutschland und Dänemark neu auszurichten. Zu jedem Jubiläum werden sie als Ereignisse von historischer Bedeutung gefeiert. Es liegt also nur an uns und an den Deutschen, ob auch dieser Deklaration eine solche Bedeutung zuteilwird.“