Die Befreiung Kiews 1943 und die tschechoslowakische Brigade der Roten Armee
Mit Beginn des Kriegs in der Ukraine gab es Überlegungen, ob sich auch Freiwillige aus Tschechien den dortigen Armeekräften anschließen dürfen. Ohne dass die Frage eindeutig beantwortet wurde, besteht eine historische Parallele. So haben Tschechen und Slowaken im Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle gespielt bei der Befreiung Kiews von den Nazis. Sie waren damals Teil der Roten Armee.
Im Zweiten Weltkrieg gehörte die Ukraine zu den Hauptschauplätzen. 1941 wurde dieser Teil der Sowjetunion von deutschen Truppen besetzt. Während zahlreiche Ukrainer dies zunächst als Befreiung von der kommunistischen Herrschaft begrüßten, trat schon bald die Realität zutage: Rund 2,4 Millionen Einwohner mussten Zwangsarbeit in Deutschland leisten, und die Juden des Landes wurden ermordet. Nach Schätzungen der heutigen Regierung in Kiew verloren bis 1945 rund acht Millionen Ukrainer ihr Leben, darunter 1,6 Millionen Juden.
Die Rückeroberung durch die sowjetischen Truppen begann im Herbst 1943. Der Militärhistoriker Tomáš Jakl erläutert die Umstände:
„Nachdem man den deutschen Angriff bei Kursk abgewehrt hatte, ging die Rote Armee im August 1943 zum Gegenangriff über. Anfang November erreichte sie den Dnepr. Die Befreiung Kiews war dann der symbolische Punkt hinter dieser Offensive, die zudem kurz vor den Feiern zum 25. Jahrestag der Oktoberrevolution beendet wurde. Darauf legte Stalin großen Wert.“
Russinen und Juden
Eine wichtige Rolle bei der Befreiung Kiews spielte die sogenannte „Erste eigenständige tschechoslowakische Brigade in der Sowjetunion“. Sie entstand ab 1941. Den Kern bildeten rund einhundert Tschechoslowaken, die 1939 nach Polen geflüchtet und über die Sowjetunion nach Palästina gelangt waren. Den größten Anteil machten aber Russinen aus der früher tschechoslowakischen Karpatho-Ukraine aus – sowie Juden, die aus Böhmen und Mähren geflohen waren.
„Insgesamt 15.000 Menschen beider Gruppen waren in die Sowjetunion geflüchtet. Sie wurden dort automatisch in die Lager des Gulags geschickt, weil sie die Grenze widerrechtlich überquert hatten. Bis 1941 mit dem Aufbau der tschechoslowakischen Einheit begonnen wurde, war die Hälfte dieser Geflüchteten bereits in den Lagern ums Leben gekommen“, so Jakl.
Doch die tschechoslowakische Exilregierung konnte eine Amnestie der Überlebenden aushandeln, und damit begann die Geschichte des eigenständigen Bataillons. Erst 1943 wurde die Einheit zu einer Brigade aufgestockt, und zwar vor allem mit Ukrainern, die letztlich die Mehrheit ausmachten.
Die Rückeroberung von Kiew durch die Sowjets begann am 3. November 1943. Zunächst sollte die tschechoslowakische Brigade aber gar nicht daran beteiligt sein. Sie zählte rund 3500 Soldaten. Geführt wurde sie von Oberst Ludvík Svoboda, dem späteren Staatspräsidenten der ČSSR. Dieser protestierte damals laut eigenen Schilderungen bei der Leitung der Roten Armee.
„Wir stimmen nicht mit dem Befehl überein, im zweiten Glied zu folgen und nur den rechten Flügel Eurer 38. Armee zu sichern. Wir werden auf Kiew ziehen. (…) Der Vorstoß auf Kiew ist im Kern ein Angriff auf die feindlichen Stellungen vor Prag. Euer Kampf ist auch unser Kampf. Wir sind nicht viele, stehen aber bei Euch – Seite an Seite. Deswegen kann es nicht sein, dass Ihr den Kriegswagen allein zieht und wir nur mitfahren. Wir wollen an vorderster Front angreifen“, schrieb Sovoboda in seinem autobiographischen Buch „Von Buzuluk nach Prag“.
Der Appell hatte wohl Erfolg. Militärhistoriker Jakl fasst die Schlacht um Kiew in knappe Worte:
„Die sowjetische Offensive in Richtung Kiew begann damit, dass nördlich der Stadt der Dnepr überquert wurde. Auch die tschechoslowakische Brigade wurde in der Nacht auf den 4. November auf das Westufer des Flusses verlegt. Sie griff am Mittag des Folgetages dann die Wehrmacht von Norden an und drang immer weiter nach Süden in Richtung Stadtzentrum vor. Bis 22 Uhr hatte sie den Hauptbahnhof erreicht. Die tschechoslowakische Brigade setzte aber den Vormarsch in der Nacht noch fort. Und am Morgen des 6. November gelangten die Spitzen der Brigade an den Dnepr – damit war das Stadtzentrum befreit.“
Vasil Coka stammte aus der Karpathen-Ukraine. Bei der Rückeroberung Kiews diente er in der tschechoslowakischen Brigade. Für das Zeitzeugenprojekt „Paměť národa“ (Gedächtnis des Volkes) erinnerte sich Coka 2013 an zahlreiche Details seines damaligen Einsatzes:
„Ich gehörte zur Panzerabwehr-Kompanie. Unser Anführer war ein Slowake namens Bačkovský. Ich war Korporal, weil ich eine Unteroffiziersschule absolviert hatte. Meine Feuertaufe waren die verbrannte Erde und die blutigen Flüsse. Weil ich aber froh war, aus dem Gulag freigekommen zu sein, kannte ich keine Angst. Ich hatte eine wunderbare Panzerfaust. Wenn ich damit auf einen Bunker zielte, saß der Schuss praktisch immer. Unsere große Offensive begann am Rande eines kleinen Wäldchens. Die Deutschen hatten um ganz Kiew herum Schützengräben gezogen und Panzersperren aufgebaut. Das bedeutete zweieinhalb Meter tiefe Sandgruben und Stacheldraht. Wir hatten aber nur wenige Panzer, die erhielten wir erst später. Rechts und links rückten die Sowjets vor. Aber es kam nicht zu Kriegsgräueln, da wir uns um 22 Uhr mit den Russen auf die ‚Aktion H‘ verständigt hatten. Das bedeutete, dass aus allen Rohren geschossen wurde. Dazu kamen die russischen Flugzeuge. Diese fliegenden Ungeheuer tauchten plötzlich dicht über den Bäumen auf und nahmen die deutschen Schützengräben ins Visier. Sie haben alles bombardiert.“
Dass sich die Tschechen und Slowaken um die Befreiung Kiews verdient machten, sprach sich sofort im Kreml herum. Historiker Jakl:
„Die tschechoslowakische Brigade wurde schon am 6. November 1943 in einem Befehl von Stalin zitiert und für die Eroberung Kiews mit dem Suworow-Orden zweiten Grades bedacht. Insgesamt 50 tschechoslowakische Soldaten erhielten hohe persönliche sowjetische Auszeichnungen. Drei von ihnen – Richard Tesařík, Antonín Suchor und Josef Buršík – wurden sogar mit dem Goldenen Stern eines Helden der Sowjetunion geehrt.“
Interessant ist gerade das Schicksal des Letztgenannten: Josef Buršík wurde nämlich 1949 wegen seiner antikommunistischen Haltung verhaftet und zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt. Doch er konnte nach Westdeutschland fliehen und zog von dort nach London. Von den Bildern, auf denen er zusammen mit Suchor und Tesařík zu sehen ist, ließ ihn die Führung der ČSSR deswegen wegretuschieren.
Alte Männer mit Ikonenbildern
Aber zurück ins Jahr 1943. Auch die Krankenschwester Věra Tichá gehörte zur tschechoslowakischen Einheit. Sie gelangte nach der Schlacht um Kiew in die Stadt und schilderte 2001 für „Paměť národa“ ihre damaligen Eindrücke:
„Wir fuhren und fuhren, bis wir einen riesigen Lichtschein sahen – das war das brennende Kiew. Viele, die von der Befreiung der Stadt berichten, erzählen von der begeisterten Begrüßung durch die Menschen. Wir saßen alle im Krankenwagen und haben geweint, inklusive dem Doktor. Denn die Menschen sind vor uns auf die Knie gegangen, sie haben uns umarmt. Niemals werde ich dieses Bild vergessen, wie alte Männer mit langen Bärten niederknieten und Ikonenbilder in die Luft hielten. Als ob sie die Heilige Armee begrüßen würden.“
Erst am 28. Oktober 1944 konnten die letzten Wehrmachtssoldaten aus der Ukraine vertrieben werden. An dieser militärischen Operation beteiligte sich die tschechoslowakische Brigade aber nur in den ersten Monaten. Tomáš Jakl:
„Am 7. März wurde die Brigade von der vordersten Frontlinie bei der Stadt Schaschkiw abgezogen und nach Wolhynien gebracht. Dies war bereits von der Roten Armee befreit, und es gab dort zahlreiche tschechische Dörfer. Die Bewohner waren im 19. Jahrhundert als Siedler in die Gegend eingeladen worden. Und aus ihren Kreisen wurde die Brigade zu einem Armeekorps aufgestockt. Zudem lief ein Großteil der slowakischen Armee auf die Seite der Sowjets über. Die Slowaken bildeten eine Fallschirmspringer-Brigade, die neben zwei weiteren Brigaden in das Korps eingegliedert wurde.“
Beim weiteren Vorstoß nach Westen verzeichnete das tschechoslowakische Korps aber nicht nur Erfolge. Im Herbst 1944 wurde es am Dukla-Pass eingesetzt, um die Rote Armee mit den Mitgliedern des Slowakischen Nationalaufstands zu vereinen. Doch diese Militäroperation misslang, und das unter hohen Verlusten. Letztlich setzte das Korps seinen Weg durch das Tal des Vah nach Mähren fort und gelangte von dort bis nach Prag.