Geboren im Gefängnis: Kinderfriedhof in Ďáblice erinnert an Opfer des kommunistischen Regimes

Kinderfriedhof in Ďáblice

Am 1. Juni, der als internationaler Kindertag gilt, wurde auf dem Friedhof im Prager Stadtteil Ďáblice an die Kinder von politischen Gefangenen erinnert, die in den 1950er Jahren in den Gefängnissen gestorben sind.

Friedhof in Ďáblice | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Der Friedhof liegt im Norden von Prag, in den Stadtteilen Střížkov und Ďáblice, Er wurde in den Jahren 1912 bis 1914 nach dem Entwurf von Vlastislav Hofman im kubistischen Stil errichtet. Mit seiner Fläche ist es der zweitgrößte Friedhof der Hauptstadt. Größer ist nur noch die Begräbnisstätte Olšany. Im nördlichen Teil des Friedhofs wurde nach der Wende von 1989 ein Ehrenfriedhof errichtet. An diesem Ort wurden in Massengräbern die sterblichen Überreste der politischen Gefangenen bestattet, die während des kommunistischen Regimes hingerichtet wurden. Zudem wurden dort während der NS-Besatzung die Widerstandskämpfer begraben. Ein symbolischer Kinderfriedhof erinnert an die Kinder politischer Gefangener, die in den 1950er Jahren in Gefängnissen zur Welt kamen und nicht überlebten. Vor dem Denkmal auf dem Friedhof versammelten sich am 1. Juni Menschen, um das Andenken der Kinder zu ehren. Petr Marek von der Bürgerinitiative Bezkomunistu.cz organisierte die Gedenkveranstaltung. Er sagte gegenüber Radio Prag International:

Doku „Nesmíš plakat“ | Foto:  Tschechisches Fernsehen

„Wir treffen hier auf dem Kinderfriedhof in Ďáblice seit zehn Jahren zusammen, um an Kinder zu erinnern, deren Mütter in Gefängnissen einsaßen, und die verstarben. Im weiteren Sinn machen wir darauf aufmerksam, dass unter den Opfern des kommunistischen Regimes auch Kinder waren. Es gab verschiedene Anlässe für uns, sich mit diesem Thema zu befassen. Ein Hinweis stammte von unserer Freundin, der Dokumentarfilm-Regisseurin, Dagmar Průchová. Vor einigen Tagen hätte sie ihren 85. Geburtstag begangen. Kurz nach der Samtenen Revolution, im Frühjahr 1990, drehte sie eine Dokumentation mit dem Titel ,Nesmíš plakat“ (Du darfst nicht weinen, Anm. d. Red.). Sie versammelt darin Aussagen von Frauen, die in den 1950er Jahren im Gefängnis waren. Im Film erzählt eine von ihnen, dass sie ein Kind zur Welt gebracht hat, ihr jedoch gesagt worden sei, dass das Kind gestorben wäre. Sie hat nie erfahren, ob und wenn ja unter welchen Umständen das Kind verstorben sei.“

Petr Marek | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Der Dokumentarfilm steht heute im Archiv des Tschechischen Fernsehens zur Verfügung. Die Leitung des damaligen Tschechoslowakischen Fernsehens weigerte sich, den Dokumentarfilm über Frauen, die in politischen Prozessen zu langen Haftstrafen verurteilt wurden, noch vor den Parlamentswahlen von 1990 zu senden. Petr Marek dazu:

Doku „Nesmíš plakat“ | Foto: Tschechisches Fernsehen

„Der Kameramann brachte das Filmmaterial in den Sitz des Fernsehsenders und zeigte es den dortigen Angestellten. Diese sagten damals, dass sie einen Streik ausrufen werden, wenn der Film nicht vor den Wahlen gesendet wird. Der Film wurde schließlich einen Tag vor den Wahlen ausgestrahlt und weckte viel Interesse und Reaktionen. Die Regisseurin bekam damals Drohbriefe. Die Kommunisten beschuldigten sie, sie hätte ihr Wahlresultat beeinflusst.“

Kinderfriedhof in Ďáblice | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Tochter einer politischen Gefangenen

Kinderfriedhof in Ďáblice | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

An der Gedenkveranstaltung auf dem Friedhof nahm auch Dagmar Svejkovská teil. Sie legte Blumen an einem der Grabmäler nieder und erzählte, sie sei selbst im Gefängnis zur Welt gekommen.

„Meine Mutter war 19 Jahre alt, als sie ins Gefängnis geschickt wurde. Ihre Eltern haben nach ihr gesucht. Auch mein Vater suchte nach ihr, aber niemand hat ihnen gesagt, wo sie ist. Sie saß in Ruzyně ein, verurteilt wurde sie für Spionage. Es gab natürlich keinerlei Beweise dafür. Ich kam am 27. Juli 1951 in der Haftanstalt zur Welt. Bei meiner Mutter ließ man mich sechs Monate lang. Danach hat man meinen Vater angerufen. Es wurde ihm gesagt, wenn er mich nicht abholen würde, werde ich in ein Kinderheim geschickt. Mein Vater hat mich abgeholt, und für mich war es das Beste, was mir passieren konnte. Die anderen Kinder starben entweder nach der Geburt oder nach einigen Monaten – wie Karlíček, der einen Tag vor mir zur Welt kam und mit sechs Monaten starb. Ich hatte eigentlich eine glückliche Kindheit bei meinem Vater und meinen Großeltern. Meine Mama war im Gefängnis, in Želiazovce in der Slowakei sowie in Jihlava und Pardubice. Im Rahmen der Amnestie im Jahre 1960 wurde sie freigelassen. Als sie nach Hause kam, ließ sie sich von meinem Vater scheiden.“

Dagmar Svejkovská | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Dagmar Svejkovská merkt an, ihre Eltern hätten nicht mehr zueinander gefunden. Ihre Mutter war eine der Frauen, über die Dagmar Průchová 1990 ihren Film drehte.

Den Dokumentarfilm schätzt Michal Louč sehr. Er arbeitet im Institut für das Studium totalitärer Regime (ÚSTR). Der Experte befasst sich mit der Geschichte der Begräbnisstätte in Ďáblice. Auf dem Ehrenfriedhof zeigt er auf die Nordwand. Dort sei 1943 eine Grabstätte entstanden, erzählt Louč:

Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

„Bis 1961 wurden hier Menschen beigesetzt. Es war die sogenannte ,städtische Grabstätte‘, wo Menschen bestattet wurden, die man nicht identifizieren konnte, aber auch Kinder, die kurz nach der Geburt verstarben. Der Ort wurde sowohl vom NS-Regime, als auch später vom kommunistischen Regime missbraucht. Es wurden hier Teilnehmer des zweiten und dritten Widerstands sowie politische Gefangene geheim beigesetzt, die in den 1950er Jahren in Gefängnissen starben.“

Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Zu den bekanntesten Persönlichkeiten, die in Ďáblice unter Geheimhaltung bestattet wurden, gehören der katholische Priester Josef Toufar, der 1950 zu Tode gefoltert wurde, und Zdena Mašínová. Die Mutter der Brüder Mašín wurde 1953 wegen Widerstandstätigkeit ihrer Söhne verhaftet und starb nach drei Jahren im Gefängnis. Vor einigen Jahren wurde ein Versuch unternommen, ihre sterblichen Überreste zu finden. Dies ist jedoch nicht gelungen. Michal Louč zufolge wird geschätzt, dass sich Leichname von bis zu 20.000 Personen in der Grabstätte befinden.

„Die sterblichen Überreste der politischen Gefangenen wurden unter den anderen Verstorbenen begraben. Es gab hier rund 72 Schächte, in jedem davon vier Etagen und auf jeder Etage zehn Kisten. In einer hatten mehrere Leichen Platz.“

Kinderfriedhof in Ďáblice | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

1968 hätten Mitglieder der Konföderation der politischen Gefangenen erfahren, dass viele Gegner des kommunistischen Regimes an diesem Ort bestattet worden seien, erzählt Michal Louč:

„Damals gelang es nicht mehr, die Ermittlungen durchzuführen. Zudem verschwanden die entsprechenden Unterlagen, in denen die Namen der Bestatteten eingetragen wurden. Darum ist es für uns sehr schwierig, Informationen darüber zu gewinnen, wer wo bestattet wurde. In den 1990er Jahren wurde auf Anlass der ehemaligen politischen Gefangenen dieser Teil des Friedhofs in einen Ehrenfriedhof verwandelt. Es wurden hier Grabmäler mit Namen und ein Denkmal installiert. Zudem wurde ein Denkmal für Kinder errichtet, die von politischen Gefangenen in den Gefängnissen zur Welt gebracht wurden, und gestorben sind. Aus den Ermittlungen der Behörde für die Dokumentation und Untersuchung der Verbrechen des Kommunismus (ÚDV) geht hervor, dass rund 30 Kinder politischer Gefangener verstorben sind. Ich bin davon überzeugt, dass mindestens ein Teil von ihnen hier in Ďáblice liegt.“

Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

In den Gefängnissen mangelte es laut dem Experten an medizinischer Fürsorge. Die hygienischen Bedingungen waren damals sehr schlecht. Michal Louč dazu:

„Es gibt Zeugenaussagen darüber, dass Verwandte der Frauen, die Kinder im Gefängnis zur Welt brachten, ihnen keine Kinderkleidung schicken durften. Das war verboten. Die Mütter kreierten für ihr Kind etwas aus einer alten Gefängnisbekleidung oder einem Lappen. Das ist unvorstellbar. Im Gefängnis in Prag–Pankrác gab es ein Krankenhaus, aber wir haben heute nur sehr wenige Informationen darüber. Es sind Zeugenaussagen darüber erhalten, dass Kinder in den Gefängnissen starben und Nachkommen politischer Gefangener zur Adoption freigegeben wurden. In der Regel war es so, dass das Kind bei der Mutter im Gefängnis blieb, solange sie es stillen konnte. Danach wurde es den Verwandten übergeben.“

Friedhof in Ďáblice | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International
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