Nicht das Perfekte, sondern das Erlebte festhalten: Josef Šnobls Bildband „Praga Obscura“
„Praga Obscura – Erinnerungen an eine graue Stadt“ heißt ein kürzlich erschienener Bildband des 2021 verstorbenen Fotografen Josef Šnobl. Darin enthalten sind Bilder aus dem Prag der 1970er und 1990er Jahre.
Die Plastic People of the Universe spielen eine entscheidende Rolle in einer der tagebuchartigen Episoden aus den 1970er Jahren, die Josef Šnobl in seinem Fotobuch schildert. Der gerade 20 Jahre alt gewordene Šnobl wollte in einem südböhmischen Dorf ein Konzert der tschechischen Underground-Gruppe besuchen. Doch zum Auftritt kam es gar nicht. Noch beim Konzert der Vorband stürmte die Polizei den Saal und trieb die langhaarigen Jugendlichen mit Schlagstöcken auseinander. Die meisten Musikfans wurden festgenommen.
Geschichten wie diese finden sich im Band „Praga Obscura“ einige. Die Musik, etwa auch die der Underground-Band DG 307, spielt dabei oft eine große Rolle. Im vergangenen Jahr verstarb der gebürtige Prager Josef Šnobl in Köln. Antje Görnig war drei Jahrzehnte mit dem Fotografen befreundet. Im Gespräch mit Radio Prag International erzählt sie, wie es zum Band „Praga Obscura“ kam:
„Im Herbst 2020 hat mich Josef gefragt, ob ich sein neues Buchprojekt lektorieren will. Als ich das Manuskript vor mir hatte, war ich hellauf begeistert. Ich habe sofort an die Band Ton Steine Scherben und ihren Song ‚Ich will nicht werden, was mein Alter ist‘ gedacht.“
Als Antje Görnig mit der Arbeit am Band beginnen wollte, kam Josef Šnobl ins Krankenhaus. Anschließend verstarb er im Alter von 66 Jahren.
„Josefs Tod am 3. Februar 2021 war ein Schock. Er hatte noch so viel vor. Mein Wunsch, wenigstens dieses Projekt für ihn zu Ende zu bringen, war sofort da“, sagt Görnig.
Die Texte für das Buch hat Josef Šnobl rückblickend verfasst. Sie behandeln seine Jugend in der Tschechoslowakei und die Anfänge in Deutschland nach der Emigration im Jahr 1979. Im Prag der 1970er Jahre erlebte der spätere Fotograf so einige Drogenexzesse, unter anderem mit seinem Freund namens Pavel. Einen dieser Abende schildert Šnobl in „Praga Obscura“ wie folgt:
„An diesem Abend wollten wir echte Hippies sein. Mit langen, fransigen Klamotten, bimmelnden Glöckchen und freien Gedanken. Die Siedlung versprach, sich bei Dunkelheit, im bekifften Zustand aus dem achten Stock betrachtet, in San Francisco zu verwandeln. Prag, die alte, skurrile Stadt war uns zu eng.
Pavel verarbeitete das Gras aus den kleinen Tütchen zu Zigaretten, und bevor wir das Licht löschten, kontrollierten wir nochmals den Raum. Schnell noch das Stück ‚Careful With That Axe, Eugene‘ aufgelegt und den Verstärker voll aufgedreht. Dann gab Pavel mir eine Zigarette und zündete auch sich eine an. Denn das, was wir rauchten, waren keine Joints. Von einer konischen Form und einem eingebauten Filter hatten wir damals noch keine Ahnung. Wir rauchten Gras, wie wir Tabak rauchten. Wir machten alles, wie wir es uns dachten. Wir hatten zwar unsere westlichen Vorbilder, doch die waren virtuell und weit weg. Sie konnten sich uns nur durch ihre Musik vermitteln, denn die Texte verstanden wir nicht. Wir mussten auch nichts verstehen. Wir waren wie ferngesteuert vom Geist der Zeit und konnten so gesehen gar nichts falsch machen.
Pink Floyd dröhnte aus der achten Etage hinunter auf die Straße, und wir saugten mächtig an unseren Graszigaretten. Bei jedem Zug sahen wir uns an, nach jedem zweiten Zug schrien wir über die Musik hinweg: ‚Und? Wirkt es? Was macht es mir dir?‘ ‚Nichts macht es mit mir‘, war die häufigste Antwort. ‚Nichts, nichts, nichts, nichts, nichts!‘
Die Siedlung verwandelte sich nicht in San Francisco, der Kopf blieb klar, die Realität schmerzlich. Pavel war anscheinend verarscht worden.“
Auch in den anderen Kapiteln blickt Šnobl auf seine Prager Zeit zurück: Auf die Rebellion gegen seinen Vater, die Geburt seiner Tochter und auf die verschiedensten Gelegenheitsjobs: Als Fensterputzer oder Tennisplatzwart. Šnobl entging dem Wehrdienst, trug aus Prinzip lange Haare und besetzte eine Wohnung auf der Kleinseite. Schließlich emigrierte er nach Westdeutschland.
In Köln studierte der junge Tscheche Anfang der 1980er Jahre Fotografie. In der Stadt am Rhein lebte er bis zu seinem Lebensende als freischaffender Künstler. Zudem arbeitete der Fotograf 25 Jahre lang als Taxifahrer. Eindrücke aus dieser Zeit wurden 2019 im Bildband „Nachtfahrt“ veröffentlicht.
Auch nach seinem Weggang kehrte Josef Šnobl in den 1990er Jahren für Besuche gern nach Prag zurück. Dabei entstanden Aufnahmen, die in die Publikation „Praga Obscura“ aufgenommen wurden. Auch Fotos von der Jahrhundertflut 2002 haben Eingang in das Buch gefunden. Antje Görnig beschreibt, wie sie die Fotos für den Bildband ausgewählt hat:
„Ohne meinen Projektpartner Jiří Hampl wäre das Buch nicht möglich gewesen. Er hat gemeinsam mit Josef bereits ‚Nachtfahrt‘ gestaltet und kennt seinen Stil ganz genau. Josef hatte für ‚Praga Obscura‘ einen Dateiordner mit gut 1000 Fotos von Prag zusammengestellt, die nach Datum geordnet waren. Ich habe sie nach Orten und Themen sortiert, damit wir eine Auswahl treffen konnten. Dabei stand immer die Frage im Vordergrund: Welche Bilder hätte Josef wohl ausgewählt?“
Des Weiteren griff Antje Görnig auf einige Fotos aus dem Familienarchiv der Šnobls zurück. Dass der Fotograf so viele Aufnahmen hinterließ, ist kein Zufall. Denn laut Antje Görnig hat Josef Šnobl täglich und praktisch immer fotografiert.
Die Schwarz-weiß-Aufnahmen, die schließlich im Band gelandet sind, bestechen durch ihre Einfachheit. Nicht selten kommt es zu Überbelichtungen oder verschwommenen Bildern bei Nacht. Antje Görnig erklärt:
„Er hatte eine Vorliebe für das Körnige, Unperfekte, Schmuddelige und Unscharfe. Er hat fotografiert, was ihm im Alltag und auf Reisen begegnet ist –ganz ohne Optimierung, Blitzgerät und technischen Aufwand, sondern nur mit einer kleinen Olympus XA.“
Dieses Körnige, Schmuddelige und Unscharfe spricht deutlich aus den Bildern in „Praga Obscura“. Prag ist hier nicht die „goldene Stadt“, sondern grau. Das Zentrum sieht nicht aus wie ein Freilichtmuseum für internationale Touristengruppen, sondern unschön, voller Makel und teilweise schäbig. Der Putz bröckelt, die Häuser drohen einzustürzen – oder sind bereits zu Boden gegangen. Bei Nacht werden die Gassen nur schwach von den Straßenlaternen erhellt.
Der Spaziergang mit Josef Šnobl stellt vor allem Objekte und Orte in den Vordergrund, die einem sonst eher weniger in die Augen springen. Auf fünf Seiten porträtiert der Fotograf etwa Mülltonnen. Sie sind voller Dellen, dreckig und weisen Spuren auf von der Benutzung durch die Einwohner Prags. Mitunter sind die Bilder so angeordnet, dass sie eine Szenerie aus mehreren Blickwinkeln zeigen. So steht der Betrachter einmal auf einer Empore einer Kirche. Durch das Gewölbe ziehen sich tiefe Rillen, auf die Kanzel führt keine Treppe mehr. Das Gotteshaus ist ramponiert und leer. Ein „lost place“, wie er im Buche steht. Das Bild auf der nächsten Seite ist vom Altar aus aufgenommen: Leere Bankreihen, herumliegende Holzplanken, der Staub ist förmlich zu riechen. Der Empore fehlt teilweise die Brüstung.
Derartig interessante Arrangements finden sich mehrfach im Buch. Auf einer Doppelseite stapeln sich links frischgebackene Brotlaibe in einem Regal. Auf der rechten Seite sieht man einen großen Haufen heller Pflastersteine.
Die Motive sind nicht selten bekannte Bauwerke der tschechischen Hauptstadt. Auch das Haus Topič auf der Nationalstraße erkennen Prag-Fans sofort wieder. In „Praga Obscura“ ist es zweimal vertreten. Die imposante Jugendstil-Fassade steht dabei jedoch nicht im Fokus, vielmehr ein Stapel Holzpaletten am rechten Bildrand. Auf einem der beiden Fotos, die aus der gleichen Perspektive aufgenommen wurden, huscht eine Frau durchs Bild. Wie bei fast allen Aufnahmen von Personen ist auch ihr Gesicht nicht zu erkennen. Durch ihre Bewegung verwischt sie, wird fast zu einem Geist. Das sei typisch für Šnobls Fotografie, sagt Görnig:
„Er hätte nie darüber geschimpft, dass ihm jemand durchs Bild gelaufen ist. So war die Situation eben in dem Moment. Es ging ihm darum, das Erlebte festzuhalten – und nicht das Perfekte.“
Einige der Bilder sehen deshalb aus, wie mit der Lochkamera aufgenommen – der Camera obscura. Nach dieser althergebrachten Fotomethode ist Josef Šnobls Bildband dann auch benannt.
In dem Fotobuch zeigt sich Šnobl am Ende versöhnt mit Prag. Seine Erinnerungen an die 1970er Jahre schildert er rückblickend aber wie folgt:
„Vlasta Třešňák beschreibt die Stadt in seinem Lied ‚Madam Praha‘ als ‚Flittchen aus Stadtrand-Pawlatschen … denkt doch nur an Knete, denkt doch nur ans Fressen.‘ ‚Du bist eine Schlampe!‘, heißt es weiter im Text. Und genau so sah ich die Stadt; als alte Schlampe, die Defenestrationen, Revolutionen, Plünderungen über sich ergehen ließ. Die sich den Siegenden ergab und unsentimental und pragmatisch alles überlebte. Hitler und die Shoa, Stalin und Gottwald, Deformation, Dekadenz, Verfall, Dreck. Wirklich verflucht habe ich die Stadt. Denn sie hat es verursacht, dass ich weg, weit weg von ihr wollte und dass ich eine besondere Vorliebe für das Verfallene habe, für das Verwunschene und Dekadente. Das alles habe ich mitgenommen.“
Mit Josef Šnobl durch das obskure Prag spazieren Sie mit dem Band, der im Verlag Emons erschienen ist. Das Buch hat 208 Seiten und kostet 25 Euro. Den Beitrag zum Nachhören finden Sie wie immer auf unserer Webseite. Dort haben wir auch einige Aufnahmen aus „Praga Obscura – Erinnerungen an eine graue Stadt“ für Sie zusammengestellt.