Von 1948 bis zum Prager Frühling: Kunstsammlungen Chemnitz zeigen Werke tschechischer Fotografen

Theaterplatz in Chemnitz

In den Kunstsammlungen Chemnitz werden derzeit Werke tschechischer Fotografen ausgestellt. Die Ausstellung steht unter dem Titel „Zwischen Avantgarde und Repression – Tschechische Fotografie 1948–1968“. Radio Prag International hat mit dem Kurator, Philipp Freytag, über die Besonderheiten der tschechischen Fotografie dieser Zeit gesprochen. Thema war aber auch die Bedeutung von tschechischen Besuchern für die Kunstsammlungen Chemnitz.

Philipp Freytag | Foto: Archiv von Philipp Freytag

Herr Freytag, Sie sind der Kurator der aktuellen Ausstellung. Wie ist es dazu gekommen, dass derzeit die Werke tschechischer Fotografen in den Kunstsammlungen Chemnitz gezeigt werden?

„Vor drei Jahren hatten wir hier im Haus eine Schau unter dem Titel ‚Paris 1930‘. Für uns war das der Beginn einer losen Folge von Ausstellungen, in denen wir uns mit Zentren der internationalen Fotogeschichte auseinandersetzen wollen. Das Projekt zur tschechischen Fotografie von 1948 bis 1968 ist die zweite Ausstellung in dieser Reihe. Mein persönliches Interesse wurde durch die tschechische Avantgarde-Fotografie der Zwischenkriegszeit geweckt. Das war der erste Kontakt. Ich war sehr überrascht vom Reichtum der tschechischen Fotogeschichte, die international nicht so weit anerkannt ist, wie sie es verdienen würde. Denn die tschechische Fotogeschichte ist meiner Meinung nach eine der bedeutendsten nationalen Fotogeschichten weltweit. Wir wollten durch die Ausstellung auch die Kunst und Kultur unseres Nachbarlandes dem Publikum in Chemnitz und der Region vermitteln. Zudem wollten wir den Dialog mit den tschechischen Partnerinstitutionen beginnen.“

In der Ausstellung werden Bilder von 1948 bis 1968 gezeigt. Warum gerade diese 20 Jahre? Sie hätten ja auch eine Schau mit Aufnahmen bis 1989 machen können…

„Die tschechische Fotogeschichte ist eine der bedeutendsten nationalen Fotogeschichten weltweit.“

„Auch das hat mit dem Grundkonzept der Reihe zu tun. Wir wollen jeweils die Fotografie an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit präsentieren. Es geht uns darum, den Genius loci in einem konkreten Zeitraum zu erfassen. Die 40 Jahre wären da einfach zu lang gewesen.“

Künstlerisches Schaffen trotz Repressionen

Was zeichnet denn diese 20 Jahre tschechische Fotografie besonders aus?

„In Kenntnis der DDR-Fotografie ist es erstaunlich, dass in der Tschechoslowakei künstlerisch freie Fotografie entstand.“

„Abgesehen von den fotokünstlerischen Aspekten ist diese Zeit durch die politischen Umstände markiert. 1948 kam es zum Februarumsturz (Machtübernahme durch die Kommunisten, Anm. d. Red.), und der August 1968 stellt eine gravierende Zäsur dar durch die Niederschlagung des Prager Frühlings. Aber wir sind ein Kunstmuseum, und uns geht es von daher vor allem um die künstlerischen Aspekte. In diesen 20 Jahren gab es einen künstlerischen Reichtum und eine Vielfalt an künstlerischen Positionen. Das ist für mich sehr überraschend, denn die Arbeitsbedingungen damals waren sehr schwierig, schließlich gab es zahlreiche Repressionen: Ateliers wurden kollektiviert, Publikationen erschwert, Ausstellungsmöglichkeiten zurückgefahren. Hinzu kam die Doktrin des sozialistischen Realismus – wie in allen sozialistischen Ländern damals. In Kenntnis der DDR-Fotografie ist es von daher erstaunlich, dass in dieser Zeit in der Tschechoslowakei dennoch künstlerisch freie Fotografie entstand. Beeindruckend ist auch, welchen Stellenwert die künstlerische Fotografie damals in der Tschechoslowakei hatte. In der Zwischenkriegszeit gab es auf der ganzen Welt die ersten fotokünstlerischen Ausstellungen. Ein Zentrum war dabei Paris, aber auch bereits Prag. Hinzu kamen New York und Berlin. Durch die Gräuel des Zweiten Weltkriegs brach diese Tradition aber ab. Es dauerte bis in die späten 1960er und die 1970er Jahre, bis Fotografie in Europa wieder als künstlerisches Medium wahrgenommen wurde. Die Tschechoslowakei war da viel schneller. Anfang der 1960er Jahre entstand die sehr bedeutende Sammlung der Mährischen Galerie in Brünn. Und schon Ende der 1950er Jahre erschien im Staatsverlag für Literatur und Bildende Kunst eine Reihe von Monographien über künstlerische Fotografie.“

Kann man angesichts dessen sagen, dass die Fotografie damals avantgardistischer war als anderswo? Die Ausstellung trägt ja den Titel „Zwischen Avantgarde und Repression“…

„Der Begriff der Avantgarde ist sehr eng verknüpft mit der Zwischenkriegszeit und den 1910er Jahren. In Prag und Brünn gab es aber durchaus auch darüber hinaus eine gewisse Kontinuität der avantgardistischen Tradition. Von den fünf Fotografen, die wir ausgewählt haben, gilt das vor allem für Emila Medková. Im Alter von etwa 20 Jahren schloss sie sich Ende der 1940er Jahre gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem bedeutenden Maler Mikuláš Medek, der Prager Gruppe der Surrealisten rund um Karel Teige an. Über die Person Teiges gab es eine ganz greifbare Verbindung zur Zwischenkriegszeit und die damaligen Avantgarden. Zudem knüpfte Medková durch ihre Faszination für das Werk der Malerin Toyen an die enge künstlerische Verbindung von Prag und Paris in den Zwischenkriegsjahren an. Ihr Frühwerk vom Ende der 1940er Jahre weist zudem wirklich erstaunliche Parallelen zur Fotografie Man Rays auf. Ähnlichkeiten bestehen auch zur Malerei von Max Ernst, René Magritte oder Salvador Dalí. Der Fotograf Vilém Reichmann knüpfte daran an. Er schätzte Medkovás Werk sehr hoch und war genauso stark vom Surrealismus geprägt. Ein eigener Fall ist Jan Svoboda. Er hat sich entschieden von den damals geltenden Kriterien künstlerischer Fotografie abgewandt. Zu dieser Zeit war es üblich, mit großer Tiefenschärfe zu arbeiten und starke Kontraste zu verwenden. Beides hat Svoboda negiert. Stattdessen versuchte er, die Effekte seiner Bilder an der Malerei zu orientieren. In dieser Radikalität ist das durchaus ein Prinzip, das an die Avantgarden in meinem Verständnis anknüpft.“

Ikonische Fotografien und unbekannte Namen

Sudeks Fotografie Die letzte Rose auf dem Katalogscover „Die intime Welt von Josef Sudek“ | Foto: The National Gallery of Canada,  Ottawa

Die drei von Ihnen genannten Fotografen sind in Deutschland eher unbekannt. Josef Koudelka hingegen hat mit seinen Aufnahmen von der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen im Jahr 1968 große Berühmtheit erlangt. Auch den Namen Josef Sudek kennt man unter Umständen im Ausland. War ein Gedanke der Ausstellung, auch unbekanntere Künstler zu zeigen?

„Ja, absolut. Ich habe die Ausstellung gemeinsam mit meiner Kollegin Sina Tonn kuratiert. Wir wollten schon die bekannten Namen zeigen, denn das wird auch erwartet. Josef Sudek zum Beispiel war in der DDR recht bekannt. Der staatliche Fotokinoverlag hat vor der Wende Monographien mit seinen Bildern herausgegeben. Für eine bestimmte Generation hier in der Region ist Sudek deshalb fast schon heilig. Wir wollten aber eben auch unbekanntere und dennoch bedeutende Namen zeigen – deshalb Medková, Reichmann und Svoboda. Und bei Josef Sudek haben wir uns für Bilder entschieden, die bisher eher selten ausgestellt wurden. Das Gleiche bei Josef Koudelka: Wir zeigen zwar seine weltberühmte Serie, die die Niederschlagung des Prager Frühlings dokumentiert. Aber wir haben darauf geachtet, nicht nur die ikonischen Bilder auszuwählen, sondern auch stillere und unbekanntere Werke zu präsentieren.“

Sie haben für die Ausstellung mit dem Kunstgewerbemuseum in Prag zusammengearbeitet und mit der Mährischen Galerie in Brünn. Wie sah die Kooperation konkret aus?

„Das Kunstgewerbemuseum in Prag und die Mährische Galerie in Brünn sind die bedeutendsten Sammlungen zur tschechischen Fotografie – nicht nur im Hinblick auf die von uns untersuchte Zeit. Die Kooperation war ein großes Glück. Ohne die Bereitschaft, die Ausstellung durch umfangreiche und hochwertige Leihgaben zu unterstützen, wäre das Projekt nicht umsetzbar gewesen. Und die Unterstützung ging noch darüber hinaus: Die Kolleginnen und Kollegen an beiden Institutionen standen uns auf jeder Ebene zur Seite, haben Vorschläge eingebracht und ihre Expertise mit uns geteilt. Wir hoffen sehr, diese Zusammenarbeit in Zukunft verstetigen zu können.“

Deutsche und tschechische Besucher in den Kunstsammlungen

Den Flyer zur Ausstellung gibt es auch auf Tschechisch, und Sie bieten auch Führungen in der Sprache des Nachbarlandes an. Wie groß ist denn das Interesse an der Schau vonseiten tschechischer Besucher? Man könnte ja annehmen, dass sich die Menschen die Werke auch in Prag und weiteren Städten anschauen können…

„In Chemnitz und ganz Sachsen gibt es eine große tschechische Community. Wir haben unter anderem Kontakt mit diesen Menschen aufgenommen. An der Kasse wird bei uns nicht registriert, von wo die Besucherinnen und Besucher kommen. Wir haben aber durchaus positive Rückmeldungen bekommen. Die tschechischen Bürgerinnen und Bürger, die hier leben, freuen sich, dass dieser Aspekt der Kultur ihres Landes thematisiert wird. Vereinzelt gab es auch Interesse von tschechischen Medien. Am 28. Januar findet nun noch einmal eine Führung in tschechischer Sprache statt.“

Welche Rolle spielen tschechische Besucher generell für die Kunstsammlungen Chemnitz? Kommen viele Menschen aus dem Nachbarland zu Ihnen?

„Wie gesagt, gibt es keine konkreten Erhebungen. Wenn man durch das Haus geht, merkt man aber, dass ein Austausch stattfindet. Wir wollen zudem aktiv Berührungsängste, etwa auf Grund von Sprachbarrieren, nehmen. Deshalb gibt es etwa seit einigen Monaten unserer Website auch auf Tschechisch.“

„Wir wollen aktiv Berührungsängste nehmen.“

Wir haben bereits über die Führungen auf Tschechisch gesprochen. Welche weiteren Veranstaltungen stehen im Rahmen des Begleitprogramms noch an?

Lenka Reinerová und ihre Tochter Anna  (Fodorová) in Prag im Jahr 1956 | Foto: Archiv von Verlag Labyrint

„Die Ausstellung läuft schon mehrere Wochen, einige Veranstaltungen haben deshalb bereits stattgefunden. Aber am 19. Februar gibt es etwa einen Programmpunkt im Chemnitzer Kino Metropol. Um 11 Uhr werden dort vier kurze Dokumentarfilme aus den Jahren 1968 und 1969 gezeigt. Sie setzen sich mit den Geschehnissen rund um die Niederschlagung des Prager Frühlings auseinander. Besonders sind die Streifen vor allem wegen der zeitlichen Nähe zu den Ereignissen. Ein besonderes Highlight für uns ist zudem die Veranstaltung am 8. Februar. Dabei wird es um das kürzlich erschiene Buch von Anna Fodorová über die letzten Lebensjahre ihrer Mutter, der Schriftstellerin Lenka Reinerová, gehen. Anna Fodorová wird aus London zugeschaltet sein und mit der deutschen Übersetzerin, Christina Frankenberg, und dem Publikum ins Gespräch kommen. Die Veranstaltung werden wir auch online streamen, um interessierten Menschen aus ganz Deutschland und Tschechien den Zugang zu ermöglichen. Nähere Informationen zum Begleitprogramm finden sich auch auf unserer Website.“

Die Ausstellung „Zwischen Avantgarde und Repression – Tschechische Fotografie 1948–1968“ wird in Chemnitz in den Kunstsammlungen am Theaterplatz noch bis zum 26. Februar gezeigt. Geöffnet ist die Galerie am Dienstag und von Donnerstag bis Sonntag jeweils von 11 bis 18 Uhr sowie am Mittwoch von 14 bis 20 Uhr. Der Eintritt kostet acht Euro, ermäßigte Tickets gibt es für fünf Euro. Weitere Informationen finden sich auf der Website der Kunstsammlungen Chemnitz: https://www.kunstsammlungen-chemnitz.de/ausstellungen/zwischen-avantgarde-und-repression/.

18
50.83778074975869
12.924669167071357
default
50.83778074975869
12.924669167071357