„Ich habe geschrieben und geschrieben“ – Autor Peter Becher über seinen ersten Roman
Mehrere Jahrzehnte lang war Peter Becher der Geschäftsführer des Adalbert-Stifter-Vereins. Parallel hat er auch geschrieben und das eine und andere Buch veröffentlicht. Nun ist aber sein erster Roman erschienen, mit dem Titel „Unter dem Steinernen Meer“. Es ist sozusagen eine Wanderung in die Vergangenheit, bei der unmittelbar nach der politischen Wende alte Wunden wieder aufbrechen. Dabei geht es um die Zeit von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg aus deutschböhmischer und tschechischer Sicht. All dies hat der Germanist und Historiker Peter Becher bei seinem Engagement im tschechisch-deutschen Miteinander nur allzu gut kennengelernt. Im Gespräch für Radio Prag International spricht der Autor unter anderem über dies und die Entstehung des Romans.
Herr Becher, Sie haben im vergangenen Jahr Ihren ersten Roman veröffentlicht. Er heißt „Unter dem Steinernen Meer“, und es ist eine sudetendeutsch-tschechische Geschichte. In dieser geht es um einen vertriebenen Deutschböhmen aus Budweis, der 1990 zurückkehrt und sich im Prinzip mit seiner Vergangenheit konfrontiert sieht. Ist das eine rein fiktionale Geschichte?
„Ja und nein. Also die Geschichte selbst und die Personen sind fiktional. Aber solche Formen der Rückkehr hat es natürlich viele gegeben. Und vor allem habe ich auch immer wieder Menschen gehört, die davon erzählt haben. Und sozusagen ein Substrat dieser Erzählungen ist dann auch in diesen Roman eingegangen.“
Hat das auch mit Ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun?
„Eigentlich nicht, weil meine Familiengeschichte sehr viel stärker nach Karlsband hin orientiert ist. Es gibt allerdings einen Cousin meiner Mutter, der ein gebürtiger Budweiser ist: Harro Senf. Ihm habe ich das Buch auch gewidmet, weil er mir unglaublich viele Geschichten erzählt hat. Später ist er Filmemacher geworden und hat in den 1960er Jahren unter anderem einen hochinteressanten Film über die Famu (Prager Filmhochschule, Anm. d. Red.) gedreht – kurz vor der Niederschlagung des Prager Frühlings.“
Sie sind ja auch Historiker. Im Roman begegnen sich der Vertriebene Karl Tomaschek und sein tschechischer Jugendfreund Jan Hadrava zufällig wieder. Und in dem Gespräch, das ja wahrscheinlich eine Schlüsselstelle des Romans ist, kommen all diese gegenseitigen Vorwürfe von Sudetendeutschen und Tschechen zur Sprache. Hatten Sie das schon von vorneherein so eingeplant, oder ist es im Laufe des Schreibprozesses entstanden?
„Wenn Sudetendeutsche und wenn Tschechen gesprochen haben, geschah das oft genauso in diesen eindimensionalen Blickrichtungen, die ich dann im Buch verarbeitet habe.“
„Ganz am Anfang war einfach die Idee, dass da jemand noch einmal zurückgeht in seine Kindheitslandschaft oder Jugendlandschaft, die er eben jahrzehntelang nicht gesehen hat. Dabei hat er die fixe Idee, noch einmal zu schauen, ob er da etwas finden kann, von dem er meint, dass es vielleicht einen gewissen Wert darstellt. Diese Konfrontation mit dem Jugendfreund hat sich erst später entwickelt. Bei mir war das auch eine Erfahrung, die ich bei vielen deutsch-tschechischen Konferenzen gemacht habe. Wenn Sudetendeutsche und wenn Tschechen gesprochen haben, geschah das oft genauso in diesen eindimensionalen Blickrichtungen, die ich dann im Buch verarbeitet habe.“
Wobei in dem Gespräch im Buch ein gewisses Verständnis aufzukommen scheint für die jeweils andere Sicht. Haben Sie das in der Weise auch erleben können bei Ihrer Arbeit?
„Oh ja. Erfreulich ist ja, dass bei diesen vielen Begegnungen sich eben nicht nur alte Vorurteile wiederholt und vielleicht sogar verhärtet haben. Sondern – etwa aus meiner Sicht – bin ich auch vielen Tschechen begegnet, die mir zu verstehen gegeben haben, wie sehr sie bedauern und bedauert haben, was nach dem Krieg passiert ist. Und umgekehrt habe ich natürlich auch immer wieder gesagt, dass ich ganz stark bedauere, was vor dem Mai 1945 geschehen ist. Denn es gab ja gerade in sudetendeutschen Kreisen sehr oft ein Erinnern, dass erst nach dem Krieg eingesetzt hat. Und alles, was davor passiert ist, blieb ausgeblendet.“
Karl Tomaschek wandert im Sommer 1990 vom Dreiländereck im südlichen Böhmerwald bis nach Budweis. Wenn ich richtig gezählt habe, dauert diese Wanderung drei Tage lang. Sie haben da einige genauere Beschreibungen von Orten. Heißt das, dass Sie selbst diese Strecke gegangen sind – eventuell zu dieser Zeit damals oder vielleicht jetzt aktuell noch einmal für das Buch?
„Ja, ich bin in Abschnitten diese Strecke tatsächlich gegangen. Ganz interessant war der letzte Weg sozusagen nach Budweis hinein. Ich habe ihn wirklich an einem heißen Sommertag vor zwei Jahren zurückgelegt – und zwar ungefähr in demselben Alter wie Tomaschek in meinem Roman. Es war durchaus ein Erlebnis zu sehen, dass das eine ganz schöne Anstrengung ist – aber ebenso wie sich die Landschaft verändert und wie die Gedanken beim Gehen im Kopf mitwandern. Meine Idee war ja, dass dieser Tomaschek eigentlich ziemlich dehydriert ist, dass er kein Wasser trinkt und daher Halluzinationen entwickelt, die sich dann mit seinen Erinnerungen vermengen.“
Und diese früheren Beschreibungen, die sich auf das Jahr 1990 beziehen? Haben Sie die Orte selbst auch schon in der Zeit damals gesehen?
„Ja, denn ab 1990 war ich fast jedes Jahr mindestens einmal im Böhmerwald unterwegs, auch alleine. Es ist sehr meditativ, dort zu wandern. Eine wunderbare Landschaft. Aber genauso mit dem Fahrrad oder in Gruppen war ich dort schon unterwegs. Und später habe ich mich auch einmal mit Germanistenfreunden – tschechischen, österreichischen und deutschen – dort getroffen.“
Sie haben zuvor ja auch schon einige Bücher veröffentlicht, darunter einen Erzählband und zuletzt das Prager Tagebuch. Wie viel anders ist jetzt die Arbeit an einem Roman gewesen?
„Naja, da kommt sehr viel Fiktives hinein. Ich wollte einfach mehr oder weniger exemplarisch diese Wiederbegegnung der beiden Jugendfreunde darstellen. Deswegen habe ich durchgespielt, wie solch eine Wiederbegegnung abgelaufen sein könnte, vor allem wenn man so unterschiedliche Erinnerungen hat. Es ist, glaube ich, schon sehr typisch gewesen, dass Sudetendeutsche und Tschechen ganz andere Narrative über die Vergangenheit mit sich getragen haben. Mal die anderen anzuhören, sie zur Kenntnis zu nehmen, ist dabei gar nicht so einfach. Es irritiert, weil man plötzlich merkt, dass man vielleicht falsche Erinnerungen hat und die Dinge nicht so oder nicht nur so stattgefunden haben. Das hat mich schon immer sehr interessiert, und ich fand es sehr spannend.“
Mit meiner Frage wollte ich auch ein bisschen auf den Arbeitsprozess an sich hinaus. Denn ich könnte mir vorstellen, wenn man einen Roman schreibt, wird man noch viel stärker irgendwie in die Geschichte hineingezogen. Und eventuell muss man, alleine um das aus sich herauszubringen, längere Sessions einlegen – oder vielleicht auch einmal alles weglegen…
„Teilweise hatte ich den Eindruck, ich kenne mich im Budweis der 1930er Jahre besser aus als im Budweis der Gegenwart.“
„Auf alle Fälle. Wobei sozusagen die Initialzündung das Jahr 1993 war. Also schon sehr früh, weil ich dort an der Letní škola (Sommerschule slawischer Studien, Anm. d. Red.) in Budweis war. Und da habe ich auch Jan Mareš von der Südböhmischen Wissenschaftlichen Bibliothek kennengelernt. Er hat mir nicht nur alte Zeitungsausschnitte gezeigt hat, sondern auch Manuskripte über die Geschichte der Juden von Budweis. Dazu gehörten zum Beispiel Berichte über die Zerstörung der Synagoge, die ich sonst nirgendwo lesen konnte. Schon damals habe ich angefangen, über die Stadt mehr nachzudenken. Später war ich dann sehr oft dort. Ich bin in die Archive gegangen und habe sehr genau recherchiert, was in den 1930er Jahren dort passiert ist. Schön ist, dass sowohl die deutsche Budweiser Zeitung wie auch die Jihočeské listy vollständig im Internet greifbar sind. Ich konnte also die beiden Zeitungen parallel lesen und herausfinden, was in der einen und in der anderen damals berichtet wurde. Teilweise hatte ich dann den Eindruck, ich kenne mich im Budweis der 1930er Jahre besser aus als im Budweis der Gegenwart.“
In dem Roman taucht die Überlegung auf, wie extrem sich das Verhältnis zwischen Deutschen beziehungsweise Deutschböhmen und Tschechen vom Sommer 1936 bis zum Spätsommer 1938 verändert hat. Haben Sie das in irgendeiner Weise als Historiker so richtig verstehen können?
„Man kann das aus den Quellen relativ deutlich herauslesen. Das heißt, dass sich 1936 noch eine halbwegs ausgewogene Form des Lebens dort abgespielt hat. Auch gab es dieses Phänomen, dass man eine Zeit lang in einer tschechischen Familie oder in einer deutschen Familie war, um die jeweils andere Sprache zu sprechen. Dafür wurde sogar in beiden Zeitungen geworben. Mich hat aber immer wieder verblüfft, dass sich das dann in so kurzer Zeit, vor allem im Jahr 1938 vor dem Münchener Abkommen, so extrem zuspitzen und dramatisieren konnte. Damals muss das für die Menschen ebenso schwer zu begreifen gewesen sein.“
Bei all der Arbeit, also auch der historischen Recherche und so weiter: Wie lange haben Sie an dem Roman dann geschrieben?
„In vielen Etappen. Aber ganz intensiv in den Corona-Jahren 2021 und 2022. Ich bin dann auch noch einmal in beiden Sommern für jeweils eine Woche dort hingefahren und habe mich ganz alleine in einem Gasthaus eingenistet. Dabei habe ich einfach geschrieben und geschrieben und geschrieben. Und nach den vielen Vorarbeiten ist es dann so richtig aus mir heraus gekommen. Da hatte ich dann auch wenige Schreibprobleme.“
Sie sind mittlerweile ja im Ruhestand. Hatten Sie dann mehr Zeit zum Schreiben – oder ist das nur so ein Gedanke, den immer alle anderen haben, die arbeiten?
„Ich denke schon, dass man mehr Zeit hat. Vor allem lässt sich die Zeit viel besser einteilen. Man hat keine festen Arbeitszeiten, man muss nicht im Büro sein. Man kann vielmehr sagen: ‚Ich versuche jetzt zu schreiben.‘ Dabei ergibt sich natürlich auch so etwas wie ein Rhythmus, dass man gerne am Vormittag, am Nachmittag oder in den Abendstunden schreibt. Bei mir hat sich das immer wieder abgewechselt.“
Und aktuell? Arbeiten Sie an etwas Neuem? Können Sie etwas verraten?
„Im Augenblick nicht. Das Buch ist ja auch erst Ende letzten Jahres herausgekommen. Im Augenblick hoffe ich, dass ich es an verschiedenen Orten vorstellen kann. Gerade erst heute hatte ich ein Gespräch mit der Bayerischen Vertretung in Prag. Es sieht so aus, dass ich das Buch in diesem Jahr auch dort, also hier in Prag, vorstellen kann. Und das freut mich ganz besonders.“