Erinnerungskultur für die Zukunft: Deutsch-Tschechisches Gesprächsforum tagte in Litoměřice

Foto: Gerald Schubert

Deutsch-tschechische Nachbarschaft: Erinnerungskultur für die Zukunft. Das war am Wochenende Thema der Jahreskonferenz des Deutsch-Tschechischen Gesprächsforums im nordböhmischen Litoměřice / Leitmeritz. Die Wahl des Ortes erfolgte nicht zufällig. In Litoměřice blicken beide Nationen auf eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte zurück, darüber hinaus ist die Stadt auch Erinnerungsort: Während der Nazibesatzung befand sich dort ein Außenlager des Konzentrationslagers Flossenbürg, in unmittelbarer Nachbarschaft liegt Terezín / Theresienstadt mit seinem ehemaligen jüdischen Ghetto und dem Konzentrationslager für politische Gefangene des Naziregimes.

Deutsch-Tschechisches Gesprächsforum  (Foto: Gerald Schubert)
Gerald, unsere Stammhörer wissen sicher Bescheid, aber zur Sicherheit sollten wir eingangs kurz erklären, was das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum eigentlich ist.

„Da müssen wir ins Jahr 1997 zurückgehen. Damals wurde von beiden Staaten die die Deutsch-Tschechische Erklärung unterschrieben. Auf ihrer Basis wurden dann unter anderem der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds und das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum gegründet. Das Gesprächsforum hält jedes Jahr eine Jahreskonferenz zu einem bestimmten Thema ab, und zwar jeweils abwechselnd in Tschechien und Deutschland. Diesmal war Litoměřice an der Reihe. Es gibt auch einen Beirat mit zwei Vorsitzenden: Für Tschechien ist das Ex-Senator Luděk Sefzig, für Deutschland Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt. Beide waren natürlich auch in Litoměřice dabei.“

Foto: Gerald Schubert
Das diesjährige Thema war „Deutsch-tschechische Nachbarschaft: Erinnerungskultur für die Zukunft“ Ganz offensichtlich wollte man also nicht nur in die Vergangenheit schauen.

„Richtig. Dennoch waren sich die Teilnehmer der Konferenz einig, dass auch der Blick in die Vergangenheit wichtig ist. Einer hat es so formuliert: Wenn man die Vergangenheit nicht im Blick hat, dann hat man sie im Nacken. Ich glaube, das illustriert ganz gut, warum man die Vergangenheit nicht vergessen sollte, auch wenn man sich mit der gemeinsamen Zukunft beschäftigt. In den letzten Jahren gab es viele andere Themen, etwa den demographischen Wandel oder die Energiepolitik. Nun war wieder einmal die gemeinsame Geschichte Thema – auch vor dem Hintergrund, dass dieses Jahr ohnehin im Zeichen der Erinnerungskultur steht: 25 Jahre Fall des Eisernen Vorhangs, Fall der Berliner Mauer, Samtene Revolution in der Tschechoslowakei etc. Es war also wieder einmal zu rekapitulieren, wie das bilaterale Verhältnis vor der Wende war und wie es sich nach der Wende entwickelt hat – auch um den Boden zu bereiten für weitere Zusammenarbeit in der Zukunft.“

Ondřej Matějka  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Kannst du etwas zu den Teilnehmern und zum Ablauf der Konferenz sagen? Was wurde denn konkret besprochen?

„Es waren Holocaust-Überlebende da, die Schriftstellerin Radka Denemarková, die sich dem Thema aus literarischer Perspektive genähert hat, und einige Historiker. Es war Blanka Mouralová da, die Direktorin des Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem / Aussig, Matthias Heyl, der Leiter der Pädagogischen Dienste in der Gedenkstätte Ravensbrück, oder Ondřej Matějka vom Institut zum Studium totalitärer Regime. Auch Bernd Posselt war da, der Sprecher der Sudetendeutschen Volksgruppe, andere Politiker, Diplomaten etc. Die Konferenz war zweitägig, es gab mehrere Panels und Workshops mit breit gefächerten Inhalten. Zur Sprache kamen etwa die Rolle von Tabus, die Rolle von Museen und Lehrbüchern, Verbindendes und Trennendes in der Geschichte oder die Wiederbelebung von Erinnerungsorten. Apropos: Den zweiten Tag der Konferenz haben wir dann nicht in Litoměřice selbst verbracht, sondern in Theresienstadt. Dort konnten wir auch die Kleine Festung mit dem ehemaligen Gefängnis und dem ehemaligen Konzentrationslager besuchen. Zu den Inhalten habe ich am Rande der Konferenz mit Peter Becher gesprochen, dem Geschäftsführer des Adalbert Stifter Vereins, der sich intensiv mit deutsch-tschechischen Themen beschäftigt:“


Peter Becher  (Foto: Archiv der Mährischen Landesbibliothek)
Radio Prag: Herr Becher, in den letzten Jahren wurden im Deutsch-Tschechischen Gesprächsforum konkrete Themen wie Demographie oder Energie- und Klimapolitik behandelt. Thema der diesjährigen Konferenz ist die gemeinsame Vergangenheit. Wie nehmen Sie das wahr?

Peter Becher: „Ich begrüße das. Die Thematik war ja unterschwellig immer präsent und konnte sehr lange überhaupt nicht zur Sprache gebracht werden. Nun ist sie sogar zum Thema einer ganzen Konferenz geworden. Das war eine gute Wahl, denn von vielen Seiten sind sehr wichtige Beiträge gekommen, die deutlich machen, dass das Thema einfach mal wieder besprochen werden musste, und dass es hier noch einigen Handlungsbedarf gibt.“

Miloš Řezník  (Foto: Archiv der Technischen Universität Chemnitz)
Radio Prag: Eines der Worte, das immer wieder zur Sprache gekommen ist, war das Wort Tabu. Auch Sie haben in Ihren Ausführungen darüber gesprochen. Einige finden, dass das Tabu in der zwischenmenschlichen Debatte funktional ist, weil man gewisse Dinge ausklammern müsse, um überhaupt irgendwie voranzukommen. Andere wiederum finden Tabus kontraproduktiv, weil dadurch eventuell Dinge schlummern, die sich im ungünstigsten Augenblick in die Debatte einmischen. Wie sehen Sie das?

Peter Becher: „Ich denke, dass beides zutrifft. Der Historiker Miloš Řezník hat auf der Konferenz gesagt, dass ohne selektive Ausblendung gar kein Gedächtnis existieren kann. Das hängt sehr stark mit Tabus zusammen. Positiv selektive Wahrnehmung kann dazu beitragen, Gesellschaften zu stabilisieren. Andererseits gab es in der Vergangenheit auch die Verbrechen der Nazis oder die Verbrechen der Nachkriegszeit während der wilden Vertreibung. Wenn man auch diese Dinge tabuisiert und nicht in gemeinsamen Gesprächen zur Aufarbeitung bringt, dann blockieren sie die Verständigung. Deshalb ist es wichtig, dass diese Tabus angesprochen werden, wobei es natürlich immer großer Sensibilität bedarf. Tabus, die man den anderen zum Vorwurf macht, rufen zunächst eine Abwehrhaltung hervor. Deshalb muss man sehr vorsichtig aufeinander zugehen – ohne allerdings diese Dinge zu bagatellisieren oder gar verschwinden zu lassen.“

Sudetendeutsche  (Foto: Archiv der Sudetendeutschen Stiftung,  CC BY-SA 1.0)
Radio Prag: In Ihrem Panel haben Sie auch über die Erinnerungskultur gesprochen. Wo sehen Sie den Stand der Diskussion und das Niveau der Erinnerungskultur in beiden Ländern?

Peter Becher: „Das Problem hängt auch ein bisschen damit zusammen, dass es sich hier nicht nur um ein tschechisch-deutsches, sondern im engeren Sinn auch um ein tschechisch-sudetendeutsches Verhältnis handelt. Ich denke schon, dass es im größeren Rahmen viele Hinweise auf ein selbstkritisches Erinnern gibt. Aber speziell im tschechisch-sudetendeutschen Dialog findet man davon sehr wenig. Ich habe das in die Form eines Traumes eingekleidet: Ich habe gesagt, es wäre doch einmal ganz interessant, wenn in einem Sudetendeutschen Haus oder bei einem Sudetendeutschen Tag selbstkritisch die Beteiligung Sudetendeutscher am Unrechtsregime der Nazis zur Sprache gebracht werden könnte, was bislang kaum erfolgt. Das ist eines der Tabus. Umgekehrt habe ich gesagt, dass es vielleicht auch vorstellbar sein könnte, dass auf den Straßen Prags nicht nur an die patriotischen Kämpfer erinnert wird, die im Maiaufstand gefallen sind, sondern auch an die Untaten, die damals an sudetendeutschen Frauen, Kindern und anderen vollzogen worden sind – in Prager Kinos, in Lagerhallen oder auch im Stadion Strahov.“

Bernd Posselt  (Foto: ČT24)
Radio Prag: Andererseits hat Bernd Posselt heute davon gesprochen, dass es gerade zwischen Sudetendeutschen und Tschechen stets positive Kontakte gab – zum Beispiel vor dem Jahr 1989 in Deutschland zwischen dem tschechischen Exil und den ehemals vertriebenen Sudetendeutschen. Gibt es nicht genau in diesem Bereich auch ganz enge Anknüpfungspunkte?

Peter Becher: „Wie so oft ist das Problem ein mehrschichtiges. Ich kann mich sehr gut an intensive Kontakte zwischen Sudetendeutschen und Vertretern des tschechischen Exils vor 1989 erinnern. Der Stifter-Verein war zum Beispiel 1968 / 69 an einem tschechoslowakischen Büro in München beteiligt, bei dem man vor allem Künstlern und Schriftstellern tschechoslowakischer Provenienz geholfen hat. Seit dieser Zeit hat sich eine starke Form der Verbundenheit erhalten. Dieses Thema ist heute weitgehend vergessen, hat aber eine große Rolle gespielt – allerdings unter dem Vorbehalt, dass alles einmal neu und anders geregelt werden müsse, wenn der Eiserne Vorhang fällt. Er ist gefallen, und danach ist eine solche Lawine an neuen Dingen auf uns zugekommen und über uns hinweggerollt, dass vieles nicht mehr in diesem Sinne fortgeführt werden konnte.“

Radio Prag: Mich hat überrascht, dass auf der Konferenz relativ häufig das Prinzip der Kollektivschuld abgelehnt wurde. Nicht, weil ich ein Anhänger des Prinzips der Kollektivschuld wäre, sondern weil man doch zumindest diese Frage für geklärt halten könnte – dass also das Zuschreiben von Kollektivschuld nicht infrage kommt. Dennoch wurde das nun sehr stark thematisiert. Glauben Sie, dass es hier trotz allen Fortschritts noch Diskussionsbedarf gibt?

Peter Becher: „Mich hat es auch ein bisschen gewundert. Ich bin ganz Ihrer Auffassung, dass die Frage, ob man so etwas wie eine Kollektivschuld unterstellen könne, eigentlich spätestens seit Ende der 1990er Jahre vom Tisch ist – also mit der Deutsch-Tschechischen Erklärung und der Entwicklung, die danach kam. Aber es gibt auch ein nachhinkendes Bewusstsein, das teilweise noch an bereits geklärten Problemstellungen festhält und sie einfach nochmals zur Sprache bringt. Ich glaube aber nicht, dass das wirklich noch ein Thema ist.“