Klein-Berlin in Groß-Prag: Deutschsprachige Architekten im Prag der Zwischenkriegszeit
Wie unterscheidet sich die deutsche Architektur im Prag der Zwischenkriegszeit von den Gebäuden der tschechischen Mehrheit? Warum wirkt sie konservativer als der tschechische Funktionalismus? Wo ist ihr Platz im Kontext deutscher und mitteleuropäischer Städte?
„Klein-Berlin in Groß-Prag. Die Prager Architektur deutschsprachiger Architekten in der Zwischenkriegszeit“. Diesen Titel trägt eine unlängst herausgegebene aufschlussreiche zweisprachige Monographie von Lenka Kerdová. Woran denkt man, wenn man über deutsche Architektur und den Einfluss des deutschen Kulturkreises spricht? Diese Frage stellte sich die Kunsthistorikerin und Künstlerin im Hinblick auf zahlreiche Häuser, die deutschsprachige Architekten in Prag zwischen den beiden Weltkriegen entworfen haben. Sie stellt dabei nicht eine homogene Gruppe vor, sondern sucht nach Besonderheiten, die sich aus den unterschiedlichen Hintergründen, Ausbildungen und Ambitionen der Architekten sowie aus den unterschiedlichen Ansprüchen ihrer Kunden ergaben.
„Es waren erstens Architekten, die als Deutsche in den böhmischen Ländern geboren wurden. Des Weiteren kamen sie in jüdischen Familien in den böhmischen Ländern oder auf dem Gebiet der Habsburgermonarchie zur Welt. Diese Menschen waren dann meistens zweisprachig und bewegten sich zwischen dem deutschen und dem tschechischen Kulturkreis. Das war die größte Gruppe in meinen Untersuchungen. Es gab aber auch Architekten, die als Österreicher in die Tschechoslowakei kamen, Österreicher blieben, nur deutsch sprachen, aber in der Zwischenkriegszeit in Prag berufstätig waren. Und hinzu kamen noch Architekten, die aus Deutschland, aber auch etwa aus dem deutschsprachigen Teil Ungarns beziehungsweise aus der Slowakei nach Prag kamen.“
Attraktives Zentrum eines neuen Staates
Soweit Lenka Kerdová. Nach der Gründung der Tschechoslowakei 1918 habe Prag viele Architekten angezogen, sagt sie:
„Prag war sehr attraktiv, weil die Stadt der Mittelpunkt eines neuen Staates war. Es gab hier eine große Energie und zudem große Ambitionen des Staates, ein neues Zentrum mit neuen Institutionen aufzubauen. Hier konzentrierten sich viele Anregungen und viel Kapital. Zudem war Prag damals eine sehr lebendige Kulturkreuzung. In der Stadt herrschte ein starker französischer Einfluss, zudem ein starker russischer, und dazu wurden neue tschechische Schulen gegründet. Das mag für viele Menschen attraktiv gewesen sein. Und andererseits war es auch eine pragmatische Entscheidung der Architekten hierherzugehen, denn das Potential von Bauaufträgen war ja sehr groß.“
Die deutschsprachigen Architekten nahmen auch an öffentlichen Ausschreibungen teil. Allerdings zeigte die Praxis – etwa im Prager Magistrat –, dass sie dabei nur wenig Chancen hatten. Man habe immer eine Lösung gefunden, wie man Es seien ihnen alle möglichen Hürden in den Weg legen konnte, stellt Kerdová fest:
„Ein öffentlicher Auftrag war prestigevoll, meistens handelte es sich um ein großes Gebäude an einem exklusiven Ort in der Stadt. Die deutschsprachigen Architekten waren daran natürlich interessiert und nahmen an den Wettbewerben teil. Ihre Herkunft war aber ein Problem, obwohl dies nie offiziell so gesagt wurde. In der Zwischenkriegszeit hat kein deutschsprachiger Architekt einen öffentlichen Auftrag für den Staat oder die Stadt realisieren können. Der überwiegende Großteil ihrer Arbeit beruhte also im Wohnungsbau. Sie entwarfen Miethäuser oder Privatvillen und mitunter auch öffentliche Gebäude wie Banken und Firmensitze für deutschsprachige, meistens jüdische Unternehmer.“
Im Prag der Zwischenkriegszeit gab es ganze Stadtteile, die kulturell und sprachlich mehrheitlich deutsch waren. Und diese Tatsache fand auch in der Architektur ihren Niederschlag. Auf diesen Aspekt spielt auch der Begriff „Klein-Berlin“ im Titel des Buches an:
„Diesen Namen trug ein konkretes Haus, aber auch ein ganzes Stadtviertel in Prag, nämlich Bubny im siebten Stadtbezirk. Dieser Stadtteil war am gefragtesten bei den deutschsprachigen Einwohnern Prags. Sie konzentrierten sich zudem auch im Stadtzentrum und etwa in Nusle.“
Wohnungsbau in deutschsprachigen Stadtteilen Prags
Wie schon gesagt, ist „Klein-Berlin“ der Name eines Wohnblocks eben in Bubny. Eingerahmt wird er von den Straßen U Smaltovny, Šimáčkova, Bubenská und Veletržní. Der Baukomplex wird dieser Tage einer umfangreichen Instandsetzung unterzogen:
„In der Zwischenkriegszeit wurde der Block oft als ‚Braunes Haus‘ bezeichnet. Dieser Baukomplex war höchstwahrscheinlich ein gemeinsames Werk von zwei Architekten, Adolf Foehr und Franz Hruschka. Der erste Entwurf von Foehr stammt aus dem Jahr 1932. Dieser aus Nürnberg stammende Architekt besaß damals die größte deutsche Baufirma in Prag. Das Projekt wurde erst Ende der 1930er Jahre umgesetzt. Aus den Archivquellen geht hervor, dass der Bauherr das Haus braun anstreichen ließ, um die Besatzungsmacht zu begrüßen.“
Die Bezeichnung „Braunes Haus“ stand daher erstens für die eigentliche Farbe der Fassade, deutete aber auch den Bezug zur nationalsozialistischen Partei an. Darin beruhe ein großes Paradox, sagt Kerdová:
„Es war zwar ein deutschsprachiges Stadtviertel, aber viele der Teilhaber in der Genossenschaft waren deutschsprachige Juden. Ihr Eigentum wurde seit 1938 arisiert, und das betraf auch ‚Klein-Berlin‘. Noch bevor sie ihre Wohnungen beziehen konnten, wurden sie enteignet, beziehungsweise gezwungen, die Wohnung für eine geringe Summe zu verkaufen.“
Die Struktur von „Klein-Berlin“ ist für Prag untypisch, weil es sich um einen ganzen Wohnblock mit Hof handelt, der nach einem einheitlichen Entwurf gebaut wurde.
„Für Höfe braucht es einen starken Investor. Ein typisches Beispiel für die Hof-Architektur ist Wien. Dort spielte die Stadt die Rolle des Bauherrn. Sie besaß große Grundstücke, ein üppiges Budget und wollte möglichst viele Sozialwohnungen bauen. In Prag gab es eher individuelle Bauherren. Wenn jemand genug Geld hatte, kaufte er ein Baugrundstück und errichtete dort ein Miethaus. Die Architektur hängt also stark mit der Legislative und Förderung des Wohnungsbaus zusammen.“
Die Beziehungen zwischen den deutschsprachigen Architekten und ihren tschechischen Kollegen hatten unterschiedliche Facetten. In manchen Fällen arbeiteten sie tatsächlich eng zusammen. Oft war die Kooperation aber eher pragmatisch. Lenka Kerdová beschreibt eine typische Situation:
„Ein deutscher Architekt wurde von einem deutschen Bauherrn angesprochen, und gemeinsam wollten sie ein Gebäude an einem lukrativen Ort in Prag bauen. Um die Baugenehmigung vom Magistrat zu bekommen, wurde ein tschechischer Architekt miteingezogen, zum Beispiel Pavel Janák oder Josef Gočár. Diese haben dann die Fassade entworfen.“
Nüchtern und funktional
Die Entwürfe der deutschsprachigen Architekten unterschieden sich in mancher Hinsicht von den progressiven Bauten ihrer tschechischen Kollegen. Im Unterschied zu ihnen hatten sie etwa nicht sonderlich viel für den französischen Funktionalismus übrig.
„Für sie sollte die Architektur stattdessen nüchtern und funktional sein. Fritz Lehmann schrieb zum Beispiel in seinen Aufsätzen, die Architektur solle funktionsfähig sein und ihrem Zweck dienen – und darüber hinaus auch progressiv und modern, dennoch passe eine funktionalistische Schachtel nicht zu jedem Zweck. Er warf etwa dem tschechischen Rondokubismus so Manches vor, vor allem dass er nur nationale Ideen und Motive demonstriere, aber vor Ort nicht funktioniere.“
Laut Lenka Kerdová waren aber auch deutschsprachige Architekten in Prag tätig, deren Arbeiten interessanter und gewagter waren. In ihrer Monographie habe sie von Adolf Loos absichtlich abgesehen, da sein Schaffen bereits genug erforscht und Loos schon als berühmte Persönlichkeit nach Prag gekommen sei:
„Meiner Meinung nach war etwa Berthold Schwarz ein sehr interessanter Architekt oder die Brüder Kohn. Sie wurden oftmals gewissermaßen übersehen. Gleiches gilt letztendlich auch für Rudolf Hildebrand. Sein Stil sieht sehr klassizisierend aus, aber es handelt sich um eine hochwertige, zwar nicht extravagante, aber ehrliche Architektur.“
Die Ära der deutschen Architektur in Prag ging mit dem Zweiten Weltkrieg zu Ende. Einigen Architekten jüdischer Herkunft gelang es noch vor Kriegsausbruch, aus Europa zu flüchten, andere starben im KZ. Von den nichtjüdischen Architekten setzten einige noch im Protektorat ihre Arbeit fort. Die meisten von ihnen mussten nach 1945 das Land verlassen.
Kann also bei den deutschsprachigen Architekten von einer Gruppe die Rede sein? Nur mit großer Vorsicht, stellt Lenka Kerdová fest:
„Diese Gruppe war gewissermaßen schon spezifisch. Das ergab sich aus der Eigenartigkeit Prags, in dem sich verschiedene Einflüsse direkt getroffen und überschnitten haben. Das habe ich nirgendwo in Europa so intensiv sehen können. Hier stehen eng nebeneinander ein Haus von einem deutschen Architekten, eines von einem jüdischen und eines von einem tschechischen. In Ungarn etwa wurden hingegen ganze einheitliche Stadtviertel gebaut. Das Bild von Prag ist sehr vielfältig, und die Architektur befand sich auf einem ziemlich hohen Niveau.“
Das zweisprachige Buch „Klein-Berlin in Groß-Prag. Die Prager Architektur deutschsprachiger Architekten in der Zwischenkriegszeit“ ist unter www.arborvitae.cz und im allgemeinen Buchhandel erhältlich.