Journalisten als Stars: Film „Vlny“ und die wahre Geschichte des Tschechoslowakischen Rundfunks 1968

'Vlny'

Am Mittwoch haben Staatspräsident Pavel und Premier Fiala am Hauptgebäude des Tschechischen Rundfunks an die Niederschlagung des Prager Frühlings am 21. August 1968 erinnert. Welche Rolle gerade Redakteure des damaligen Tschechoslowakischen Rundfunks beim Widerstand gegen die Sowjettruppen spielten, das zeigt ein Film, der vergangene Woche in die Kinos kam. Er trägt den schlichten Titel „Vlny“ – also Wellen – und beruht auf tatsächlichen Begebenheiten und Personen. Und darum geht es bei uns im Folgenden.

Sie ist eine der Schlüsselszenen im neuen Film „Vlny“ (Wellen): Radioredakteur Milan Weiner nimmt Parteifunktionär Josef Záruba ins Kreuzverhör. Es geht um die Wahlen in der kommunistischen Tschechoslowakei.

Milan Weiner | Foto: APF Tschechischer Rundfunk

Die Szene beruht auf einem tatsächlichen Interview, das am 12. März 1968 geführt wurde, also zu Beginn der Reformbewegung Prager Frühling. Im Film wurde das Interview im Übrigen vorverlegt in den Januar des Jahres. Eine Aufzeichnung des Studiogesprächs befindet sich im Archiv des Tschechischen Rundfunks. Hörer hatten nämlich die entsprechende Sendung damals mitgeschnitten und haben diese aber erst vor kurzem weitergereicht. Weiner fragt in dem Gespräch ausgesprochen direkt für die damaligen Verhältnisse, in denen weiterhin zensiert wird.

Der Redakteur will wissen, ob Wahlen in den vergangenen 20 Jahren gefälscht wurden. Und Záruba ist so in die Enge getrieben, dass er schließlich zugibt:

„Wir haben wohl alle Lenin gelesen. Und er hat gesagt, dass solche Wahlergebnisse im Grunde Unsinn sind.“

Weiner dankt und sagt, das reiche ihm als Erklärung.

Mutige Redakteure und Techniker

Jiří Mádl | Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary

Der Film „Vlny“ ist am Donnerstag vergangener Woche hierzulande in die Kinos gekommen. Regisseur Jiří Mádl setzt darin dem Tschech(oslowak)ischen Rundfunk ein Denkmal zum 100. Geburtstag – wenn auch mit einem Jahr Verspätung. Im Mittelpunkt steht die damalige Auslandsredaktion, die sich „Redaktion des internationalen Lebens“ (redakce mezinárodního života) nennt. Geführt wird sie eben von Milan Weiner. Der dramatische Höhepunkt kommt dann mit dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August 1968. Denn gerade die Auslandsredaktion sorgt dafür, dass die Menschen in der Tschechoslowakei weiterhin unabhängig informiert werden – auch als schon die Panzer in Richtung Prag rollen. Tomáš Dufka leitet das Archiv des Tschechischen Rundfunks:

„Wichtig war erst einmal, überhaupt die Rundfunkausstrahlung aufrechtzuerhalten. In dieser musste etwa gesagt werden, dass die Armeen des Warschauer Paktes nicht auf Einladung der tschechoslowakischen Regierung ins Land gekommen sind, so wie dies die Sowjetunion und ihre Verbündeten darstellten. Stattdessen wurde betont, dass dies im Widerspruch zu dem stand, was sich das Zentralkomitee der KPTsch gewünscht hatte.“

Tomáš Dufka | Foto: Khalil Baalbaki,  Tschechischer Rundfunk

Die anfänglichen Sendungen bleiben nur aufgrund des sogenannten Drahtfunks erhalten. Denn Kultur- und Informationsminister Karel Hoffmann gehört zum moskautreuen Flügel der KPTsch und ordnet an, alle Sender des Landes abzustellen. Der Drahtfunk war in den 1950er Jahren entstanden, dafür waren in der Tschechoslowakei extra Leitungen verlegt worden. Er sollte bei einem eventuellen Krieg mit dem Westen ermöglichen, weiterhin die Menschen zu informieren.

„Der Drahtfunk hatte kein eigenes Studio, damit ist nur eine bestimmte Art der Verbreitung der Sendungen gemeint. Im Gegensatz zum gängigen Rundfunk, bei dem der Hörer die jeweiligen Sender einstellt, hatte der Drahtfunk nur einen Kanal. Über diesen wurde ein Mix übertragen, beim dem sich die Sender nach einer gewissen Zeit abwechselten. In den frühen Morgenstunden des 21. August lief aber nur die Hauptnachrichtensendung“, erläutert Dufka.

Drahtfunk  | Foto: Martina Schneibergová,  Radio Prague International

Nach zwei oder drei Stunden setzen die Reformkräfte in der Regierung durch, wieder die Sender anzuschalten. Die Invasoren wollen jedoch nicht nur die regulären Ausstrahlungen des Tschechoslowakischen Rundfunks stoppen, sondern beginnen auch selbst zu senden – und zwar von der DDR aus über einen Sender, den sie Stanice Vltava nennen. Allerdings klingt das Programm in tschechischen Ohren äußerst verdächtig. Denn die Ansagen erfolgen in gebrochenem Tschechisch. In jedem Fall wird über diesen Sender das Narrativ der Okkupanten verbreitet, man sei gekommen, um eine Konterrevolution niederzuschlagen.

Im Verlauf des Vormittags wird dann das Rundfunk-Hauptgebäude in Prag von Sowjettruppen besetzt. Den mutigen Redakteuren und Technikern der Auslandsredaktion gelingt es jedoch, weiter unabhängig über das Geschehen im Land zu informieren – über geheime Sender im Untergrund und von außerhalb Prags sowie in mehreren Sprachen. Unter anderem war auch eine Meldung auf Deutsch zu hören:

„Teure Freunde, in der ČSSR gibt es keine Konterrevolution. Die Interessen des Sozialismus wurden in unserem Lande durch nichts gefährdet, sodass es keinen Grund zur Intervention gibt. Wir sind ein schwacher Sender und wissen nicht, wie weit unsere Stimme hörbar ist. Aber trotzdem wenden wir uns an jeden und alle mit der Bitte und dem Aufruf: Unterstützt die Solidarität der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik. Helft unserer Heimat, die Selbständigkeit zu bewahren. Steht uns bei, wenn wir ihren Weg zu Humanität und wirklich demokratischem Sozialismus bewahren wollen. Der Tschechoslowakische Rundfunk in Pilsen.“

Warum aber war gerade die Auslandsredaktion so engagiert im Moment des Truppeneinmarschs? Dufka sagt, dazu müsse man den beruflichen Hintergrund der dortigen Redakteure kennen…

„Die Leute in der Redaktion des internationalen Lebens waren meist Auslandskorrespondenten, die gerade nicht im Terrain waren, sondern in Prag. Sie beherrschten alle perfekt Fremdsprachen, sie hatten alle Erfahrungen im Ausland gesammelt – und das auch im westlichen. Zwar waren sie überzeugte Kommunisten, konnten aber all die sozialistischen Parolen mit der Realität vergleichen. Insofern waren sie Reformkommunisten und trugen par excellence den Gedanken des Prager Frühlings.“

Věra Št'ovíčková und Milan Weiner  | Foto: APF Tschechischer Rundfunk

Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, in der neostalinistischen Zeit der sogenannten Normalisierung, unterschreiben viele von ihnen konsequenterweise die Charta 77. Einige werden nach der politischen Wende von 1989 zu wichtigen politischen Persönlichkeiten. So etwa Jiří Dienstbier. Er war vor 1968 Korrespondent im Fernen Osten gewesen und übernimmt ab der Samtenen Revolution den Posten des Außenministers in den ersten beiden föderalen Regierungen.

Eine wichtige Rolle hat auch Věra Šťovíčková-Heroldová, die Korrespondentin in Afrika gewesen war. Sie ist nicht nur die einzige Frau im Team, sondern auch die erste Stimme, die am frühen Morgen des 21. August 1968 die Menschen im Land dazu aufruft, ruhig zu bleiben und die Invasoren nicht zu attackieren.

Charismatischer Redaktionsleiter

Milan Weiner hatte 1963 die Redaktion übernommen. Er sei auch in Wirklichkeit eine charismatische Persönlichkeit gewesen, nicht nur im Film, sagt Dufka:

Redaktion des internationalen Lebens im Jahre 1968 | Foto: APF Tschechischer Rundfunk

„Er war ebenfalls Reformkommunist, der früher in China als Korrespondent gearbeitet hatte. Seine Lebensgeschichte hatte tragische Elemente. Wegen seiner jüdischen Herkunft war er im Zweiten Weltkrieg im Konzentrationslager Theresienstadt inhaftiert. Unter den Kommunisten in den 1950er Jahren durfte er wegen dieser Herkunft zeitweilig nicht arbeiten. Er baute die Redaktion auf und entwarf die Sendungen. Während des Prager Frühlings sendete man eben nicht mehr nur über das Ausland, sondern beteiligte sich ebenso stark an Beiträgen über das Leben in der Tschechoslowakei und innenpolitische Probleme. Denn die Mitarbeiter hatten keine Angst, auch brennende Fragen auf den Tisch zu bringen.“

Und sie sind selbstbewusst genug, diese Fragen auch direkt an die politischen Vertreter zu richten. Zudem beginnen sie als die Ersten in der kommunistischen Tschechoslowakei, Live-Interviews zu senden – und das noch zu Zeiten strenger Zensur. Die Sendung heißt damals „Písničky s telefonem“ (Lieder und Telefon).

'Písničky s telefonem',  Věra Šťovíčková,  Jiří Dienstbier,  Sláva Volný | Foto: APF Tschechischer Rundfunk

Dass Mádl mit seinem Film ein Hohelied auf den Rundfunk gedreht hat und dabei die Auslandsredaktion in den Mittelpunkt stellt, findet Archivar Tomáš Dufka verständlich:

„Der Rundfunk war damals ein Symbol für die Entwicklungen der Zeit. 1968 war er am Höhepunkt seiner Bedeutung, immer noch hatten mehr Menschen hierzulande ein Radiogerät zu Hause als einen Fernseher. Das änderte sich erst Anfang der 1970er Jahre. Im Rundfunk arbeiteten Eliteteams an Journalisten, sie waren große Stars damals. Praktisch alle Mitglieder der Redaktion wurden aber 1968 oder 1969, spätestens aber zu Jahresbeginn 1970 entlassen. Sie durften dann nur noch Jobs mit manuellen Tätigkeiten annehmen. Und fast alle unterschrieben später die Charta 77. Sie gehörten dabei dem linken politischen Spektrum der Bürgerrechtsbewegung an.“

Auch im Film wird das Starappeal von Weiner und seinem Redaktionsteam immer wieder hervorgehoben. Nicht zuletzt in einer Szene, als der Chef auf der Straße um ein Autogramm und ein Foto gebeten wird. Den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes erlebt der Redaktionsleiter aber nur noch vom Krankenbett aus, nachdem ein Gehirntumor bei ihm festgestellt wurde. Er stirbt im Februar 1969.

Wie nah ist nun also der Film „Vlny“ an der Wahrheit von damals? Dazu Archivchef Dufka:

'Vlny' | Foto: Film Servis Festival Karlovy Vary

„So wie Mádl in Gesprächen sagt, ist bei dem Film zu sehen, dass der Regisseur von realen Begebenheiten ausgeht und auch bestimmte Situationen eingearbeitet hat. Ich weiß auch, dass er meine Vorgängerin in der Position der Archivleitung, Eva Ješutová, zu einigen Dingen konsultiert hat. So konnte er auch in die Originaltöne von damals hineinhören. Ich wiederum, der ich mich nicht an dem Film beteiligt habe, aber die Rundfunkgeschichte kenne, habe in dem Film konkrete Momente wiedererkannt, die wir so im Archiv dokumentiert haben. Das heißt, Mádl ist entweder von der entsprechenden Literatur dazu ausgegangen oder hat sich die Töne dazu angehört.“

Das treffe beispielsweise auf die Sendung von Věra Šťovíčková-Heroldová am frühen Morgen des 21. August zu, ergänzt Dufka, obwohl die Aufnahmen nicht wortwörtlich für den Film übernommen worden seien.

Für bestimmte Charaktere und Situationen hat sich Regisseur Mádl allerdings auch künstlerische Freiheiten gelassen. Das bezieht sich vor allem auf den Techniker Tomáš Havlík, aus dessen Sicht die Handlung erzählt wird. Er ist eine fiktive Person. Im Film muss er sich um seinen jüngeren Bruder kümmern, der auf nicht erlaubte Demonstrationen geht, sodass Tomáš in die Fänge der Staatssicherheit gerät. Jiří Mádl selbst sagt dazu:

„Die Geschichte des Bruders habe ich mir komplett ausgedacht. Zugleich sind einige Dinge, die dem Haupthelden Tomáš geschehen, der Wirklichkeit entnommen. Nur dass ich in seiner Person die Schicksale dreier Techniker zusammengeführt habe. Darunter ist auch einer, der nicht direkt in der Redaktion angestellt war, sondern extern mitgearbeitet hat.“

1968 ist der letzte große Moment des Rundfunks in der tschechoslowakischen Geschichte. Im November und Dezember 1989 kommen diejenigen, die auf einen Regimewechsel drängen, aus anderen Bereichen der Gesellschaft: aus den Reihen der Studenten, aber auch der Kunstschaffenden – und natürlich der Dissidenten wie Václav Havel.

Vlny (2024) - HD TRAILER

Autoren: Till Janzer , Olga Vasinkevič
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