Einmarsch 1968: Wie der Rundfunk weitersendete
Richard Seemann leitete vor 50 Jahren in stellvertretender Funktion die Auslandssendungen des Tschechoslowakischen Rundfunks. Am 21. August 1968 erlebte er hautnah, wie das Rundfunkgebäude im Prager Stadtteil Vinohrady besetzt und die Reformbewegung „Prager Frühling“ niedergeschlagen wurde. Von dem Chaos und den Kämpfen dort gingen die Bilder damals um die Welt. Für Radio Prag schildert der heute 84-Jährige die Zustände beim Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen.
Auch Richard Seemann erlebt damals diesen bedrohlichen Moment. 1968 ist er stellvertretender Leiter bei den Auslandssendungen des Tschechoslowakischen Rundfunks. Im Interview für Radio Prag sagt er, dass für Angst damals keine Zeit gewesen sei:
„In dieser Situation kommt die Angst erst im Nachhinein. Unmittelbar während der tumultartigen Ereignisse macht man Dinge, die man sich sonst nie getrauen würde. Erst zwei Stunden später wird einem klar, was geschehen ist.“
Seemann ist am Tag des Einmarsches schon früh im zentralen Rundfunkgebäude im Prager Stadtteil Vinohrady. Denn sein Chef ist zu dem Zeitpunkt im Urlaub:„Um zwei Uhr früh rief mich der Sekretär des Rundfunkdirektors an und sagte, ich sollte sofort in den Rundfunk kommen. Ich wohnte damals wie heute nur drei Tramstationen entfernt, da wohne ich immer noch.“
Menschenmassen vor dem Funkhaus
Es ist noch Nacht, und Seemann nimmt ein Taxi. Bereits auf dem Weg zum Radio hört er das Dröhnen der Flugzeuge. Im Rundfunk stellt er fest, dass die Sender ausgeschaltet sind. Der Kultur- und Informationsminister Karel Hoffmann gehört zum moskautreuen Flügel der KPTsch und hat dies angeordnet.
„Allerdings hatte dieser Herr nicht den Drahtfunk unter sich. Der Drahtfunk funktionierte separat und wurde von der Post übertragen. Weil er recht billig war, war diese Art der Rundfunkübertragung beliebt und wurde von vielen Leuten genutzt“, so Seemann.Ab vier Uhr sind die Sender wieder im Betrieb. Währenddessen sammeln sich bereits die Menschen am Funkhaus, vor dem Haupteingang in der Vinohradská-Straße, knapp 200 Meter oberhalb des Wenzelsplatzes:
„Schon früh kamen die Leute zum Sender. Damit knüpften sie an die Tradition vom 5. Mai 1945 an, als SS-Truppen das Gebäude umstellt hatten und der Prager Aufstand losbrach. Die Leute waren also erneut hier vor dem Gebäude. Vom Balkon des Rundfunks rief Außenminister Dienstbier die Menge aber auf, nach Hause zu gehen. Es habe keinen Sinn, sein Leben zu opfern.“
Doch die Menschen bleiben. Sie wollen wie am Ende des Krieges eine freie Berichterstattung schützen und die Invasionstruppen aufhalten. Die Sowjeteinheiten mit ihren Panzern kommen erst gegen acht Uhr. Journalist Seemann:
„Es entstand ein großes Chaos. Die Menschen hatten Barrikaden errichtet, aber die Panzer überrollten diese einfach. Einer zündete dann den Tank eines Panzers an. Das Schlimme war, dass daneben ein Munitionswagen stand, und dieser explodierte.“
Damit haben die Soldaten nicht gerechnet. Die Propaganda in ihrer Heimat hat ihnen weißgemacht, sie würden dem tschechoslowakischen Volk im Kampf gegen eine „Konterrevolution“ zu Hilfe kommen. Augenscheinlich sind die Soldaten überfordert und schießen wild um sich. Allein vor dem Rundfunk sterben an diesem Tag insgesamt 17 Menschen.Wo ist die Presseagentur?
In der Folge besetzen die Sowjettruppen das Rundfunkgebäude. Einer der Offiziere stürmt in die Redaktion der deutschsprachigen Sendungen:
„Wir hatten auch eine österreichische Redaktion. Dort hing ein großer Stadtplan. Der Offizier deutete auf den Plan und fragte: Wo ist die ČTK? Es war aber ein Stadtplan von Wien, doch das hat er nicht erkannt“, so der damalige stellvertretende Leiter von Radio Prag.
Seemann vermutet, dass der Offizier keine lateinischen Buchstaben lesen konnte. Deswegen sucht er auf dem falschen Plan den Sitz der tschechoslowakischen Presseagentur ČTK.Das Rundfunk-Hauptgebäude ist nun besetzt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die unabhängige Berichterstattung über den Einmarsch eingestellt wird.
Auch die Auslandssendungen werden fortgesetzt. Und zwar findet man in einer Villa im Prager Stadtteil Nusle Zuflucht. Das Gebäude haben die italienischen Kommunisten angemietet. Zum Unwillen der Regierung in Rom strahlen sie von dort ein eigenes Radioprogramm aus. Die entsprechende technische Ausstattung nutzt das Team um Richard Seemann:
„Aus diesem Gebäude haben wir ins Ausland gesendet. Es waren kurze, 15-minütige Programmteile. Die Ausstrahlung war sowohl in unseren Hauptsprachen, aber auch in den Nebensprachen wie Arabisch oder sogar Kisuaheli.“
Aber auch andere Teile des Tschechoslowakischen Rundfunks wenden sich in dieser Zeit ans Ausland. Radio-Prag-Hörer Kurt Ringel empfängt beispielsweise am 21. August gegen 12.35 Uhr folgende Übertragung:„Wir wenden uns an alle, die uns hören, mit folgendem Aufruf: Teure Freunde, in der ČSSR gibt es keine Konterrevolution. Die Interessen des Sozialismus wurden in unserem Land durch nichts gefährdet, sodass es keinen Grund zur Intervention gibt. Wir sind ein schwacher Sender und wissen nicht, wie weit unsere Stimme hörbar ist. Aber trotzdem wenden wir uns an jeden und alle mit dem Aufruf: Unterstützt die Souveränität der sozialistischen Tschechoslowakischen Republik! Helft unserer Heimat, die Selbständigkeit zu bewahren! Steht uns bei, wenn wir den Willen zu Humanität und wirklich demokratischen Sozialismus bewahren wollen! Der Tschechoslowakische Rundfunk in Pilsen.“
Die Selbstzensur
Erst Mitte September kehrt der zentrale Teil des Tschechoslowakischen Rundfunks in sein angestammtes Gebäude in Prag zurück. Zwar stehen die Menschen im Land hinter Dubček. Doch die Tage der Reformkommunisten in der politischen Führung sind gezählt. Langsam werden alle wichtigen und nicht so wichtigen Posten neu besetzt, in der ganzen ČSSR übernehmen moskautreue Hardliner. Die Reformbewegung des Prager Frühlings ist niedergeschlagen. Und durch die Hintertür hält auch die Zensur wieder Einzug in den Medien. Richard Seemann:„Sie haben das wie in der DDR gemacht. Es gab offiziell zwar keine Zensur, aber die Leute mussten sich selbst zensieren. Ich finde, das war schlimmer als vorher, als es eine Behörde gab, die alles kontrolliert hat.“
Denn mit den Zensoren habe man wenigstens noch um die Worte kämpfen können, sagt der Journalist.Im April 1969 übernimmt Gustav Husák die Führung des Landes. Nun beginnt endgültig der Rollback, euphemistisch wird er „Normalisierung“ genannt. Das hat auch für Richard Seemann Konsequenzen – er wird 1970 entlassen:
„Mir wurde nicht gesagt, dass ich etwas gegen das Regime gemacht hätte. Sie sagten, es sei einfach eine normale Kündigung.“
Über zwanzig Jahre lang kann Seemann seinen Herzensberuf im Radio nicht mehr ausüben. Wie viele andere Achtundsechziger schlägt er sich aber durch.
„Zunächst habe ich in einem Krankenhaus als Heizer gearbeitet. Und später habe ich dann Wasserklosetts und Sanitärbedarf verkauft. Ich musste eben eine Familie mit zwei kleinen Kindern ernähren.“
Erst nach der demokratischen Wende von 1989 kehrt Richard Seemann in den Tschechoslowakischen Rundfunk zurück. Die Mitarbeiter dort beknien ihn, er solle doch noch einmal dort hinkommen:
„Ich war dort dann Generaldirektor, aber auch Leiter der Auslandssendungen. 1993 bin ich aber in Pension gegangen.“
Doch dem Radio ist Richard Seemann treu geblieben. Mehrere Jahre lang saß er im Rundfunkrat, und das sogar in leitender Funktion. Und heute ist er immer noch freier Mitarbeiter. Für den Nachrichtenkanal des Senders kommentiert Seemann regelmäßig das Auslandsgeschehen – vor allem natürlich in den deutschsprachigen Nachbarländern.