Botschaftsflüchtling von 1989: „Über den Mauerfall war ich im ersten Moment nicht glücklich“
35 Jahre ist es her, dass Tausende Flüchtlinge aus der DDR über die bundesdeutsche Botschaft in Prag in den Westen ausreisen konnten. Einer von ihnen war Frank Heidenreich. Anlässlich des Jubiläums der historischen Ereignisse fand am Montag ein großes Fest in der deutschen Botschaft statt, bei dem auch viele Zeitzeugen von 1989 zugegen waren. Ferdinand Hauser hat Frank Heidenreich vors Mikrophon gebeten.
Herr Heidenreich, warum haben Sie sich 1989 dafür entscheiden, nach Prag zu fahren und über die westdeutsche Botschaft aus der DDR zu flüchten?
„Mitte der 1980er Jahre, als ich so 20 Jahre alt war, war ich sehr oft in der Tschechoslowakei, in Ungarn, Bulgarien und Rumänien. Dort habe ich die Erfahrung gemacht, dass man als DDR-Bürger ein Mensch zweiter Klasse ist, aufgrund einer eigentlich einfachen Sache: weil man das falsche Geld hatte. Ich war oft in Prag, das ist für mich eine schicksalsträchtige Stadt. Ich kam hierher zu Europapokalspielen, zur Eishockey-WM 1985 und zu Länderspielen. Mit der Zeit wuchs in mir der Wunsch, ein selbstbestimmtes Leben zu führen – ohne Gängelung, ohne Bevormundung, unabhängig davon, wie lange ich beim Militär diene, oder ob ich in der Partei bin. Der Entschluss reifte, mein Glück in der Bundesrepublik zu suchen. 1988 und 1989 stellte ich dann zwei Ausreiseanträge. Und ich verweigerte den Wehrdienst. Daraufhin wurde ich mit einem Berufsverbot belegt und immer mehr in die Enge getrieben.“
Wann haben Sie Ihren Entschluss, über Prag auszureisen, in die Tat umgesetzt?
„Schon im April 1989 war ich einmal in Prag gewesen, zum Tennis-Davis-Cup. Die Tschechoslowakei spielte gegen die Bundesrepublik, ich wollte Boris Becker einmal live erleben. Und ich versuchte, in die BRD-Botschaft zu kommen. Aber das Gelände wurde weiträumig abgesperrt, man wurde abgedrängt. Es gab keine Festnahmen und keine Ausweiskontrollen, aber es bestand keine Chance, hier hineinzukommen. Unverrichteter Dinge fuhr ich wieder nach Hause, nach Halberstadt, wo ich damals wohnte. Dann ging in Ungarn die Grenze auf. Aber für dieses Land brauchten wir als DDR-Bürger ein Visum, und das kriegte ich nach meinen vorherigen Ausreiseanträgen nicht mehr. Ganz blöd waren sie also nicht und haben mich nicht herausgelassen. Es blieb also nur noch Prag. In die Tschechoslowakei konnten wir ohne Visum reisen. Meine damalige Freundin und ich sind in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit dem Zug nach Leipzig, dann nach Dresden und von dort mit dem Nachtzug nach Prag gefahren. Am 29. September kamen wir frühmorgens an. Wir sind sofort zur Botschaft gegangen und über den Zaun geklettert. Dann haben wir eine Nacht hier geschlafen und am nächsten Morgen noch geholfen, Bundeswehrbetten aufzubauen. Der Rest ist bekannt. Am Abend gab es die Rede von Genscher (Hans-Dietrich Genscher, damaliger Außenminister der BRD, Anm. d. Red.), dann kam die Ausreise.“
Das heißt, Sie sind angekommen, dann hierhergeeilt und hatten gar nicht groß Kontakt mit Tschechen?
„Genau. Ich kannte mich in Prag gut aus. Wir sind über die Karlsbrücke gelaufen, auf der kaum Touristen unterwegs waren. Hier am Zaun der Botschaft haben dann Leute ein Knie hineingestellt oder Leitern angelehnt, sodass man relativ leicht hinüberklettern konnte. Der Zaun war auch noch nicht so hoch. Wir waren also nur zwei Tage hier und hatten ein gutes Timing. Nach der Genscher-Rede am 30. September waren wir im zweiten Zug in die Freiheit.“
Wann fuhr dieser Zug ab?
„Ungefähr gegen Mitternacht. Morgens um acht Uhr war ich dann in Hof.“
Und hatten Sie nicht Angst, dass Sie in diesen Zug nicht mehr hineinkommen?
„Natürlich. Die Botschaft leerte sich ja innerhalb von kurzer Zeit. Wir gingen dann rechts die Straße hinunter. Vor der US-amerikanischen Botschaft standen DDR-Busse mit Ostberliner Kennzeichen. Da gab es natürlich die erste Revolte. Viele Leute wollten nicht einsteigen, sie dachten, das wäre eine Falle. Es waren aber auch genug bundesdeutsche Diplomaten vor Ort, die uns beruhigt haben. Sie meinten, dass nichts passieren würde. In den Zügen, die wir am Bahnhof Prag-Libeň bestiegen, fuhr auch mindestens ein Diplomat mit. Komisch war aber, dass die Züge ja über das Gebiet der DDR fuhren. In Plauen im Vogtland stieg die Staatssicherheit ein und nahm uns die Personalausweise weg. Sie sagten zu jedem, dass er hiermit aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen sei. Es war mucksmäuschenstill. Als sie dann die Waggons verlassen hatten, warfen wir unser ganzes Münzgeld auf den Bahnsteig – wir brauchten es ja jetzt nicht mehr.“
In dem Moment waren Sie also staatenlos?
„Ja, ich war staatenlos. Eigentlich hätten wir eine andere Identität annehmen können, wir sind ohne Papier ausgereist. Als der Zug dann nach Hof weiterfuhr hat man an der deutsch-deutschen Grenze erst einmal gesehen, wie stark bewacht alles war. Mitten in der Nacht war es taghell, Hunde liefen an Laufleinen, und da waren auch die Selbstschussanlagen. Das war schon Wahnsinn. Der Zug fuhr dann auf bundesdeutsches Gebiet, dort stieg das Deutsche Rote Kreuz zu. Einige Leute hatten gesundheitliche Probleme, die Mütter mit Kleinkindern bekamen Babynahrung. Als wir in Hof ankamen, fiel ich auf die Knie und küsste den Boden, wie der Papst. Ich rief meine Freunde im Rhein-Main-Gebiet an. Sie waren auch der Grund, warum ich dorthin ging und bis heute noch da bin. Ich bin dort glücklich und zufrieden und habe meine Entscheidung keine Minute bereut.“
Um noch einmal zurück zu den Zügen zu kommen: Wie war dort – abgesehen von der Stasi-Kontrolle – die Stimmung in den Abteilen? Bedacht oder ausgelassen? Hat man sich unterhalten?
„Man hat miteinander gesprochen. Alle haben ihre Schicksale erzählt: wie viele Ausreiseanträge sie gestellt haben, wo sie herkommen und wo sie hinwollen. Da gab es etwa Menschen aus Ost-Berlin, die den Weg über Prag genommen haben, um nach West-Berlin zu kommen. Bei mir saß auch ein ehemaliger Nationalspieler im Waggon. Wir hatten später weiterhin Kontakt. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Man tauschte sich also aus, aber als die Stasi mit ihren Trenchcoat-Mänteln einstieg, war das ein komisches Gefühl. Wir hatten ja die Zusage, dass nichts passieren wird. Aber glaubt man das in so einem Moment? Das war hochemotional – und das ist es auch heute noch, 35 Jahre später.“
Sie sind ins Rhein-Main-Gebiet gegangen. Wie war Ihr Weg dorthin? Und wie ging es dann weiter?
„Man wurde gefragt, wo es hingeht. Ich meinte, ins Rhein-Main-Gebiet, da ich dort einen Kontakt hatte. Zunächst kam ich in eine Bundeswehrkaserne in Hammelburg bei Würzburg. Dorthin kamen auch die Beamten aus Gießen, die das Aufnahmeverfahren durchführten. Ich wurde regulär Bundesbürger und bekam eine Meldebestätigung. Mein Kumpel holte mich am nächsten Tag ab. Wir hatten gleich Familienanschluss, wohnten sechs Wochen bei ihnen mit zuhause, haben uns bei der Hausarbeit und im Geschäft eingebracht. Sechs Wochen später bekamen wir unsere eigene Wohnung, und ich hatte sofort einen Job. Erst einmal habe ich im Callcenter einer Bank gearbeitet. Ein halbes Jahr später fing ich dann in der IT-Branche an. Bis heute arbeite ich als Systemadministrator in einem großen Rechenzentrum in Frankfurt.“
Und wie war es für Sie damals, die Wende von der anderen Seite mitzuerleben? Wie hat sich das angefühlt?
„Das war schon komisch. Ich hatte ja alles zurückgelassen, bin nur mit einem kleinen Rucksack mit Zahnbürste, Unterwäsche und Socken weg, um an der Grenze nicht aufzufallen. Dann ist sechs Wochen später die Mauer gefallen. Im ersten Moment war ich nicht glücklich darüber. Denn ich hatte mein Schicksal selbst in die Hand genommen, und die Leute kriegten die Freiheit geschenkt. Ich habe ja nicht nur die DDR als politisches Land verlassen. Ich habe auch die Menschen zurückgelassen, und das ganz bewusst. Denn in so einer Diktatur gibt es viele Systemgünstlinge, die sich anbiedern. Ich war erstmal kein großer Freund dieser Wiedervereinigung. Und ich musste ja auch mein eigenes Schicksal wieder meistern, mir eine Existenz aufbauen. Mit 24 Jahren habe ich etwa meinen Führerschein gemacht. Und es standen die ersten Reisen an. Innerhalb des ersten halben Jahres bin ich dreimal in Italien gewesen, das war damals mein Traumland. Aber dann habe ich mich natürlich auch gefreut, dass ich meine Eltern und Freunde besuchen konnte, und mit der Zeit hat sich das gelegt. Aber ich habe nie darüber nachgedacht zurückzugehen.“
Sie haben gesagt, Sie waren vor Ihrer Ausreise öfter in Prag. Waren Sie auch nach der Flucht manchmal in der Stadt oder sogar in der Botschaft?
„Ich war zum Zehnjährigen das erste Mal hier und dann zum 25-Jährigen. Da lebte auch Hans-Dietrich Genscher noch. Ich durfte ihn persönlich kennenlernen und habe mit ihm gesprochen. Jetzt bin ich wegen dieses Anlasses das dritte Mal hier in Prag.“
Wie ist das für Sie, hier zu stehen?
„Ich habe heute schon den ganzen Tag so ein Magengrummeln. Wir waren gestern hier spazieren und sind vom Hügel über die Schleichwege zum Zaun an der Botschaft gelangt. Das macht dann schon etwas mit einem. Man wird sehr nachdenklich, alles läuft noch einmal im Kopf ab. Auch diese Szene auf dem Balkon und sobald dieses Thema überhaupt nur zur Sprache kommt – man ist dann sofort angefasst, wird kleinlaut, geht in sich hinein. Das ist hochemotional.“
In der kommenden Woche berichten wir über das Schicksal eines weiteren Botschaftsflüchtlings von 1989.