Kühne Vision oder realitätsfremde Utopie? Fiala verspricht Tschechen Löhne wie in Deutschland
Tschechiens Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) hat Mitte November mit der Aussage polarisiert, er werde im Falle einer Wiederwahl für Gehälter wie in Deutschland und Österreich sorgen. Dem Regierungschef brachte der Marketing-Spruch viel Häme ein. Doch abseits der Überlegung der Realisierbarkeit dieses Vorhabens werfen einige auch die Frage auf: Gehälter wie in Deutschland – wollen wir das? Und wenn ja, wie kann dieses Ziel erreicht werden?
Er brauche acht Jahre, und es werde in Tschechien Löhne wie in Deutschland geben. Dies verkündete Premier Petr Fiala im November im öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen. Und auch zu anderen Anlässen behauptete der Regierungschef immer wieder: Löhne wie in Bayern, Gehälter wie in Deutschland und Österreich – dafür werde er im Falle einer Wiederwahl bis zum Ende der kommenden Legislaturperiode sorgen.
David Klimeš ist Wirtschaftsjournalist und Geschäftsführer des Stiftungsfonds für unabhängigen Journalismus (NFNZ). In den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks sagt er:
„Fiala behauptet, er wolle in acht Jahren das doppelte Durchschnittsgehalt erreichen. Ich weiß auch nicht, was dafür passieren müsste. Da müssten wir schon in Südmähren Erdöl oder Lithium finden, und Deutschland müsste komplett in Konkurs gehen.“
Ähnlich sehen das die meisten tschechischen Beobachter, und entsprechend viel Häme musste der Premier dann auch für seine Aussage einstecken. Statt zurückzurudern legte Fiala am Tag nach dem Interview aber noch einmal nach und schrieb auf X:
„Es ist typisch, dass sich auf jede positive Vision bei uns gleich trübselige Kritiker und zurückhaltende Zweifler melden.“
Der Ökonom Štěpán Křeček unterstützt diese Auffassung. Er berät den Premier in Wirtschaftsfragen und sagt:
„Ich sehe diese Aussage als eine Zukunftsvision an. Ich mag Diskussionen nicht, in denen immer wieder nur erklärt wird, warum etwas nicht möglich sei. So kommen wir nicht weiter. Stattdessen sollten wir über konkrete Maßnahmen sprechen, damit dieses Ziel erreicht werden kann.“
Und dahingehend hat Fialas Äußerung laut Křeček wichtige Impulse gebracht. Der Wirtschaftswissenschaftler Petr Bartoň sieht das anders. Eine Vision müsse doch realisierbar sein, sagt er. Das sei hier aber nicht der Fall. Und er betont:
„Für dieses Ziel braucht man doch überhaupt gar keine Vision! Jede normale Regierung in einem demokratischen System will, dass es den Bürgern besser geht.“
Sein Zitat dürfte Fiala sicher mit Blick auf die anstehenden Parlamentswahlen im Herbst 2025 getroffen haben. Auch aus Marketingsicht hält David Klimeš die Aussage allerdings für fragwürdig:
„Als ich diese Aussage gehört habe, fühlte ich mich an die inkohärenten Aussagen des ehemaligen Premiers Andrej Babiš erinnert. Er versprach einmal einen Ertrag von zwei Billionen Kronen aus der Lithium-Förderung. Die Lohn-Vision ist nun vermutlich die Antwort des gegenwärtigen Regierungschefs. Beide Aussagen sind Unsinn, sie entbehren ökonomisch jeder Logik. Und ich bezweifle auch, dass Fialas Behauptungen aus Sicht des politischen Marketings Erfolg haben können.“
„Ganz Deutschland müsste Urlaub auf Rügen machen“
2023 lag das durchschnittliche Jahresgehalt eines Vollzeitbeschäftigten in Deutschland laut Eurostat bei rund 51.000 Euro. In Tschechien waren es rund 23.500 Euro, also weniger als die Hälfte. Fialas Ziel, mit dem Nachbarland gleichzuziehen, hält Klimeš von daher für völlig unrealistisch, wie er ein weiteres Mal im Interview für die Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks betont:
„Die Konvergenz zu Deutschland steht im Grunde derzeit still. Selbst wenn wir diese Phase überwinden, ist solch eine Entwicklung unmöglich. Nehmen wir einmal an, dass die Löhne bei uns pro Jahr 2,5 Prozent wachsen würden und Deutschland hinterherhinkt und sie dort nur ein Prozent wachsen. Wir würden uns dann vielleicht 2060 oder 2070 annähern. Wenn der Premier von vier oder acht Jahren spricht, ist das wirklich Unsinn. Auf die Frage, wann wir zu Österreich oder Deutschland aufholen werden, gibt es eine Antwort: nie. Da müsste schon ganz Deutschland vier, acht oder zehn Jahre Urlaub auf Rügen machen… Es wird wirklich niemals dazu kommen, denn auch dieses Land hat natürlich Ambitionen.“
Zugleich wirft der Ökonom die Frage auf, ob man wirklich Löhne wie in Deutschland oder Österreich wolle:
„Lassen Sie uns das einmal zu Ende denken. Wir sind wirtschaftlich eng mit Deutschland verbunden. Firmen aus unserem Nachbarland haben hier viele Niederlassungen, etwa das Škoda-Werk in Mladá Boleslav, eben weil unsere Löhne niedriger sind. Aber wird Škoda hierbleiben, wenn unsere Gehälter mit den deutschen gleichziehen? Sicher nicht. Da müssten wir schon wirklich exzellente Elektroingenieure, Autodesigner und weitere Experten in petto haben.“
Tschechen wechseln zu selten ihre Anstellung
Aber angenommen, man wollte Löhne wie in Deutschland – wie könnte man dieses Ziel erreichen? Klimeš führt ins Feld, dass etwa der Mindestlohn in Tschechien radikal erhöht werden müsste. Ab Januar kommenden Jahres wird er pro Stunde bei 124,40 Kronen (4,96 Euro) liegen. Das sei nicht nur wenig im Vergleich mit Deutschland und Österreich, sondern auch mit anderen postkommunistischen Ländern, so Klimeš. Zumindest eine geringfügige Anhebung hält er deshalb für sinnvoll.
Gleichzeitig schlägt er vor, dass das Arbeitsgesetzbuch aufgelockert werden könnte. So sollen leichtere Wechsel einer Anstellung ermöglicht werden, denn durch diese würden wiederum die Gehälter steigen. Deshalb müsse man die Arbeitnehmer etwa motivieren, bereit zu sein, für eine neue Arbeit an einen anderen Wohnort zu ziehen, sagt Klimeš:
„Vermutlich wechselt niemand in Europa so selten seine Anstellung wie die Tschechen. Dabei ist die Vorstellung, eine Arbeit für das ganze Leben zu haben, schon lange passé.“
Und tatsächlich: Einer Studie des Arbeits- und Sozialministeriums zufolge wechseln pro Jahr nur 15 Prozent aller Tschechen den Arbeitgeber. Der Durchschnitt in den OECD-Staaten liegt hingegen bei 22 Prozent, Dänemark kommt sogar auf 28 Prozent.
Wo sind die Investitionen in die Bildung?
Beobachter meinen auch, dass man sich Fialas Ziel annähern könnte, wenn man die Bürokratie für Unternehmer radikal abbauen würde – etwa im Hinblick auf das komplizierte Verfahren zur Vergabe von Baugenehmigungen. Klimeš betont außerdem, dass die Regierung eigentlich massiv in die Bildung investieren müsste. Doch das passiere derzeit ganz und gar nicht, so der Ökonom:
„Nur wenige Regierungen haben sich so wenig um das Hochschulwesen gekümmert wie dieses Kabinett. Dabei sind das Posten, bei denen die Regierung schnell entscheiden kann, zu investieren. Aus den entsprechenden Plänen geht hervor, dass wir 2026/2027 ohne EU-Mittel nur 0,5 Prozent unseres Bruttoinlandsproduktes in Bildung und Wissenschaft investieren werden. Das ist der niedrigste Anteil seit gut und gerne zehn oder 15 Jahren.“
Zum Vergleich: Aus Deutschland wurden zuletzt öffentliche Bildungsausgaben in Höhe von 4,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes gemeldet, und in Österreich war es in den vergangenen Jahren ähnlich viel. Tschechien könnte Klimeš zufolge auch Anreize schaffen, dass private Unternehmen hierzulande mehr Geld in die Bildung stecken:
„Man könnte Firmen Steuerbefreiungen anbieten, wenn sie in Bildung und Wissenschaft investieren. So würden sie dazu gedrängt, hierzulande Geld zu lassen. Und von diesen Mitteln könnte man vermutlich problemlos Gehälter von 100.000 Kronen bezahlen.“
Umgerechnet sind das an die 4000 Euro – ein Gehalt, von dem Lehrer, Dozenten und Professoren hierzulande nur träumen können. Denn sie sind schon seit Langem unterbezahlt. Und davon kann Klimeš selbst ein Lied singen, da er einen Lehrauftrag an der Prager Karlsuniversität hat.
Fiala und das Nutella-Glas
Wirtschaftswissenschaftler Klimeš führt des Weiteren ins Feld, dass in Tschechien nicht nur die niedrigen Löhne ein Problem seien, sondern auch die hohen Verbraucherpreise – etwa für Lebensmittel. Auch dahingehend hat der tschechische Premier Fiala im Übrigen bereits den Vergleich mit Deutschland gewagt. Im November vergangenen Jahres veröffentlichte er ein Video, in dem er die Preise für einen Supermarkteinkauf in Deutschland und Tschechien verglich. Besonderer Aufreger: Nutella wird in Tschechien in kleineren Packungen verkauft, kostet aber mehr.
Für sein Video musste Fiala damals viel Spott einstecken. Doch zurück zu den Gehältern in Tschechien. Damit diese steigen, braucht es laut Wirtschaftswissenschaftler Klimeš ebenso Investitionen aus dem Ausland.
„In den 1990er und Nuller Jahren gab es hier etwas, was sehr gut funktioniert hat. Ich nenne es ‚Pax Bohemica‘. Die Investitionen aus dem Ausland waren damals hoch, die Arbeitslosigkeit gering, und im Gegenzug waren die Gehälter niedrig. Aber das funktioniert so nicht mehr. Ausländische Investitionen kommen zwar immer noch zu uns. Die Firmen geben aber kein neues Geld mehr aus, sondern wollen nur noch ihre Dividende einfahren. Wir müssen deshalb Anreize für Reinvestitionen schaffen, damit die Konzerne erneut in unsere Leute investieren, ihnen gute Gehälter zahlen und in einen neuen Investitionszyklus von 20 Jahren gehen.“
In seinen erklärenden Posts zur Gehälter-Frage erwähnte Fiala dann auch immer wieder den US-amerikanischen Halbleiterhersteller Onsemi. Der will nämlich in der Zukunft sein Werk in Rožnov pod Radhoštěm / Rosenau unter dem Radhoscht ausbauen. Die Regierung rechnet mit einer Milliardeninvestition, die Tausend neue Arbeitsplätze bringen soll.
Vorbild Polen
David Klimeš hebt abschließend hervor, dass man sich in Tschechien hinsichtlich des Lohnniveaus weniger an Deutschland oder Österreich orientieren sollte, sondern an einem anderen Nachbarland – nämlich Polen.
„Gerade reden wir wegen der Aussage des Premiers zwar über Österreich und Deutschland. Immer öfter wird aber auch Polen zum Thema. Denn das Land holt uns wirklich ein und zieht sogar an uns vorbei. Die politische Debatte hierzulande ist dabei faszinierend. Wir wollen einen Aufschwung wie die Polen schaffen. Aber wir sind nicht bereit, die dortigen Maßnahmen hierzulande umzusetzen. Innerhalb weniger Jahre wurde in Polen das Straßen- und Autobahnnetz ausgebaut, aber wir lehnen es ab, so schnell zu enteignen. In Polen sind die Mindestlöhne rasant angehoben wurden, doch das wollen wir nicht. Der gesamte Osten Polens hat durch Zuschüsse für Familien einen Aufschwung erlebt, aber das ist uns zu links.“
Gesagt werden muss an dieser Stelle, dass der Durchschnittspole laut Eurostat nur rund 18.000 Euro pro Jahr verdient – und damit weniger als die Menschen in Tschechien. Lebensmittel zum Beispiel sind im nördlichen Nachbarland jedoch wesentlich billiger als in Tschechien. Und die Kaufkraft in Polen ist dann auch höher als die hierzulande.