Pavel Tigrid – Ein Leben im Visier des kommunistischen Geheimdienstes

Pavel Tigrid

Zu den abscheulichen Methoden des tschechoslowakischen kommunistischen Staatssicherheitsdienstes StB gehörte auch die Entführung von Regimekritikern im Ausland. Das ist schon länger bekannt. Meist verschleppten die Agenten ihre Opfer aus Deutschland und Österreich. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 wurde die Praxis jedoch zu riskant, und der StB verzichtete auf die Entführungen. Eine Ausnahme wollte man jedoch im Fall des Publizisten und Schriftstellers Pavel Tigrid machen.

Pavel Tigrid
Es war der 16. Oktober 1964. Der tschechoslowakische Geheimagent Jiri Svoboda, Deckname „Svíták“ wird ins Ausland geschickt. Das Ziel der Reise: Budapest, die Hauptstadt des sozialistischen Bruderstaates Ungarn. Zeitgleich bereitet der internationale Pen-Club dort eines seiner regelmäßigen Treffen vor. Einer der Teilnehmer soll der tschechische Exil-Publizist Pavel Tigrid sein. Die Gelegenheit wollte sich der tschechoslowakische Staatssicherheitsdienst StB nicht entgehen lassen. Agent Svoboda alias „Svíták“ erhält einen Auftrag: die Entführung Pavel Tigrids in die Tschechoslowakei.

Mitte Oktober 1964 herrscht unter den kommunistischen Regimen im Ostblock große Verunsicherung. Gerade war der sowjetische Staats- und Parteichef Nikita Chruschtschow von den kommunistischen Hardlinern um Leonid Breschnew gestürzt worden. Chruschtschow hatte für eine friedliche Koexistenz mit dem Westen gestanden. Niemand wusste, wie die westliche Welt auf seinen Sturz reagieren würde. Der ungarische Geheimdienst bekam kalte Füße und informierte Pavel Tigrid über seine geplante Entführung. Tigrid verließ Budapest fluchtartig und kehrte in seine Wahlheimat Paris zurück.

Radek Schovánek
„Pavel Tigrid war zu diesem Zeitpunkt Staatsbürger der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Ungarn hatten berechtigte Sorge, dass seine Entführung einen internationalen Skandal auslösen könnte. Wahrscheinlich haben sie ihn deshalb gewarnt“, glaubt Radek Schovánek, ein Mitarbeiter des Prager Instituts für das Studium totalitärer Regime. Schovánek hat die Geheimdienstaktivitäten des Jahres 1964 aus den Akten des tschechoslowakischen Staatssicherheitsdienstes StB rekonstruiert. Die Enthüllungen kamen für viele überraschend, hatte der StB doch die Praxis der Entführungen bereits mehrere Jahre zuvor aufgegeben. Wer aber war eigentlich Pavel Tigrid, an dem der StB ein solches Interesse hatte?


Pavel Tigrid, geboren 1917 in Prag als Pavel Schönfeld, verbrachte die längste Zeit seines Lebens im Exil. Als Jude flüchtete er vor den Nationalsozialisten, die seine tschechische Heimat von 1938 bis 1945 besetzt hatten. Während des Zweiten Weltkrieges war Tigrid in London für das tschechischsprachige Radioprogramm der BBC tätig. Nach der Befreiung der Tschechoslowakei kehrte er zurück. Seine Familie war dem Holocaust zum Opfer gefallen. Dennoch verurteilte Pavel Tigrid die wilde Vertreibung der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei. Damit wurde er erneut zum Staatsfeind, als die Kommunisten am 25. Februar 1948 in der Tschechoslowakei an die Macht gelangten. Tigrid war zu diesem Zeitpunkt dienstlich als Journalist in München. 1990, 42 Jahre später, erinnerte er sich an die schicksalhafte Zeit:

„Diese widerwärtigen Kerle, die Kommunisten, hatten meine Frau als Geisel genommen. Sie sagten, sie würden sie wieder freilassen, wenn ich zurückkehre. Ich wollte zurück, doch Kollegen sagten mir: ‚Aber Herr Tigrid, wenn sie zurückgehen, werden auch Sie festgenommen, und Ihre Frau bleibt eingesperrt.’ Letztlich gelang dann auch meiner Frau im Herbst 1948 die Flucht über die Grenze. So wurde ich Emigrant, zum zweiten Mal.“

Von Beginn an stand Tigrid im Fokus des kommunistischen Geheimdienstes der Tschechoslowakei, denn er hatte sich dem Kampf gegen das Regime in seiner Heimat verschrieben. Als Programmdirektor eröffnete Tigrid 1951 die erste Sendung der tschechoslowakischen Redaktion von „Radio Freies Europa“:

„Wir wollen Sie wahrheitsgemäß und regelmäßig darüber informieren, was in der freien westlichen Welt geschieht. Wir werden Ihnen mitteilen, wie die freie Welt der sowjetischen Aggression begegnet, wie sie sich politisch und militärisch eint, wie Gedanken aus Europa ein immer größeres Echo finden. Jeden Abend werden wir Ihnen aus Büchern vorlesen, die in der Tschechoslowakei verboten sind. Wir werden mit Ihnen kommunistische Zeitungen lesen und erklären, wie sie zu verstehen sind. Wir führen sie ein ins Lager der tschechoslowakischen politischen Flüchtlinge, die Ihnen erzählen, was sie zum Verlassen der Tschechoslowakei bewegt hat. Wir werden Sie unterhalten mit satirischen Liedern und Stücken, die bei Ihnen nicht mehr gespielt werden dürfen. Kurz gesagt: Wir werden bei Ihnen sein, elfeinhalb Stunden täglich. Es ist nicht leicht, im Exil eine solche Rundfunkstation aufzubauen. Aber glauben Sie uns eines: In dieser Arbeit steckt unser ganzes Herz.“

Radio Freies Europa  (Foto: M. Krupička)
Bei „Radio Freies Europa“ blieb Pavel Tigrid drei Jahre. Danach steckte er sein ganzes Herz in die tschechischsprachige kulturpolitische Zeitschrift „Svědectví“ (zu Deutsch etwa: Zeugenschaft), die er ab 1956 in den USA herausgab. 1960 zog er, mit seiner Zeitschrift, in die französische Hauptstadt Paris um, das in den folgenden Jahrzehnten sein Lebensmittelpunkt bleiben sollte. Die Zeitschrift „Svědectví“ wurde zum publizistischen Mittelpunkt der tschechoslowakischen Exilanten. Nicht zuletzt beeinflusste sie aber auch die Dissidenten in der Tschechoslowakei. Kein Wunder also, dass das kommunistische Regime Pavel Tigrid zum Schweigen bringen wollte. Radek Schovánek vom Institut für das Studium totalitärer Regime:

„Beschriebenes Papier kann in totalitären Gesellschaften für die Machthaber gefährlicher sein als eine Waffe. Freie Informationen und das Durchbrechen der Zensur galt als effektivstes Mittel zum Sturz von Regimen.“

„Aus vielen Dokumenten ist abzuleiten, dass Pavel Tigrid offenbar schon seit dem Jahr 1945 mit dem amerikanischen Spionagedienst zusammenarbeitet. ‚Svědectví’ und sein leitender Redakteur Tigrid sind das Sprachrohr amerikanischer Außenpolitik, die niemals ihr erklärtes Ziel aufgibt: die Liquidierung der sozialistischen Regime“, hieß es 1970 in einer Fernsehsendung.

Pavel Tigrid aber war für das kommunistische Regime ein denkbar hartnäckiger Widersacher. Er galt als brillanter Analytiker, als Mann des Wortes, der den meisten seiner Gegner intellektuell weit überlegen war. Zudem war es schwer ihn als unverbesserlichen Rechtskonservativen hinzustellen. Denn Tigrid führte seinen Kampf stets mit offenem Visier, er suchte den Dialog mit Andersdenkenden. So pflegte er regen Kontakt mit Vertretern der Reformkommunisten der sechziger Jahre, die noch im Jahr 1948 zu jenen gehört hatten, die Tigrid ins Exil zwangen. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 fanden auch sie sich im Exil wieder. Pavel Tigrid führte mit ihnen lebhafte politische Diskussionen. 1990 bekannte er:

„Meine besten Freunde im Ausland sind ehemalige Kommunisten. Denn sie haben verstanden, dass man nicht einer Meinung sein muss, um auf menschlicher Ebene einfach Freunde zu sein.“


Tigrid blieb im Exil bis zum Sturz der tschechoslowakischen Kommunisten durch die Samtene Revolution im November 1989. Bis zuletzt stand er unter schärfster Beobachtung der Geheimdienste, wie Radek Schovánek herausgefunden hat:

„Eine der letzten StB-Akten über Pavel Tigrid informiert darüber, dass er am 25. Dezember 1989 nach Prag fliegen wird. Die vier Jahrzehnte langen Anstrengungen von Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten Agenten enden damit, dass Pavel Tigrid in die freie Tschechoslowakei zurückkehrt.“

Wieder zu Hause wagte sich Tigrid auf seine alten Tage in die Politik. Er wurde Berater von Präsident Václav Havel. In der Regierung von Václav Klaus bekleidete er ab 1994 zwei Jahre lang das Amt des Kulturministers. Im Alter von 86 Jahren hielt Pavel Tigrid seine Aufgaben für erfüllt. Schon länger plagten ihn gesundheitliche Probleme. Er hörte auf, die Medikamente zu nehmen, die ihn am Leben hielten. 2003 starb Pavel Tigrid in der Nähe von Paris.