Ploština, das „mährische Lidice“: Vernichtung eines Dorfes durch die Nationalsozialisten

Ploština 1945

Am 10. Juni jährt sich der Überfall auf Lidice zum 80. Mal. Das Dorf in Mittelböhmen wurde 1942 von den Nationalsozialisten ausgelöscht, als Vergeltung für das Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich zwei Wochen zuvor in Prag. Seitdem ist der Name des Dorfes ein neuralgischer Punkt in der tschechischen Zeitgeschichte. Weniger bekannt ist der Ort Ploština, dem ein ähnliches Schicksal zuteilwurde und der deswegen das „mährische Lidice“ genannt wird. Warum wurde die Siedlung ganz im Osten des heutigen Tschechiens nur wenige Tage vor Kriegsende 1945 von den Nazis dem Erdboden gleichgemacht?

Vladimír Růčka | Quelle:  Pfarrgemeinde Blatnice pod Svatým Antonínkem

Ploština war eine kleine Siedlung in der Mährischen Walachei. In der Abgeschiedenheit zwischen den Orten Vizovice / Wisowitz und Valašské Klobouky / Klobuch hatten einige wenige Familien durch Rodungen den Boden fruchtbar gemacht und sich niedergelassen. Über die schwierigen Lebensbedingungen berichtete Vladimír Růčka, der sich als Priester schon vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs um die Pfarrei im nahegelegenen Újezd kümmerte, Zitat:

„In Ploština wohnten im Ganzen 51 Menschen. Sie lebten dort auf ihre eigene Weise. Völlig von der Welt abgeschnitten, sich selbst überlassen und von hohen Bergen umgeben, verließen sie nur selten ihre Lichtung. Nur ihre Kinder gingen täglich nach zur Schule nach Drnovice oder nach Vysoké Pole. Im Winter war das besonders beschwerlich. Der Vater musste einen Pfad in den hohen Schnee trampeln und trug dabei das jüngste Schulkind auf dem Rücken.“
Vladimír Růčka: Ploština žaluje

Ploština 1945 | Quelle:  Museum der Mährischen Walachei in Vsetín

Zitatende. Pater Růčka hielt seine Erinnerungen kurz nach Kriegsende in einem dünnen Bändchen fest, das den Titel „Ploština žaluje“ trug – zu Deutsch: Ploština klagt an. Im Mittelpunkt steht dabei ein Massaker der Nationalsozialisten. Bei diesem wurden am 19. April 1945 die Häuser der Siedlung niedergebrannt. 23 Männer und eine Frau starben in den Flammen oder wurden erschossen.

Doch was hatte die Aufmerksamkeit der Deutschen auf das kleine Dorf gezogen? Die Abgeschiedenheit dieser einsamen Wohnstätte, von denen es in der Mährischen Walachei noch weitere gab, erwies sich als günstiges Versteck für Partisanen. Schon im Sommer 1944 seien die ersten Kombattanten nach Ploština gekommen, hätten sich aber meist nicht lange aufgehalten – so berichtete es der Zeitzeuge František Sochora vor einigen Jahren in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks. Doch ab Weihnachten habe seine Mutter eine Gruppe von Partisanen dauerhaft in der Scheune beherbergt und ihre Verletzungen versorgt:

František Sochora | Foto:  Post Bellum

„Wir haben für sie gekocht und Brot gebacken. Dann kamen immer mehr von ihnen. Zuerst waren es zehn, und am Ende sogar 30. Ich bin die Häuser abgelaufen und habe um Lebensmittel gebeten. In Drnovice stand eine Mühle, dort war man sehr freundlich und gab mir Mehl für die Partisanen. Auch in Geschäften habe ich etwas bekommen. Manche wollten aber auch nichts geben, das war unterschiedlich.“

Er habe meist nicht direkt gesagt, dass die Lebensmittel für die Partisanen bestimmt seien, fügt Sochora an. Aber die meisten Anwohner mögen dies wohl geahnt haben.

Ploština 1945 | Foto:  Post Bellum

Denn auch die Deutschen kamen darauf, dass sich widerständige Einheiten in Ploština und den umliegenden Siedlungen versteckten. Sochora erzählt von Streifen, die das Gebiet kontrollierten. Ihre darauf folgende Rache wirkt im Rückblick wie ein letztes Aufbäumen. Die Rote Armee war schon in Reichweite und die Aussicht auf einen Sieg für die Nazis längst illusorisch. Trotzdem fielen sie am 19. April 1945 in Ploština sowie den benachbarten Prlov und Vařákovy paseky ein und steckten die Häuser in Brand. Wem die Flucht nicht rechtzeitig gelang, der wurde in die Flammen gestoßen oder erschossen.

24 Todesopfer

Historiker beschäftigt bis heute die Frage der Datierung. Oft wird die Vermutung geäußert, dass der Überfall am Vorabend von Hitlers Geburtstag als Geschenk für den „Führer“ gedacht war. Publizist Luděk Navara glaubt nicht an diese Theorie:

Luděk Navara | Foto: Věra Luptáková,  Tschechischer Rundfunk

„Der Zusammenhang mit Hitlers Geburtstag ist sehr interessant, aber zweifellos ein Zufall. Man muss den Kontext und die vorhergehenden Ereignisse beachten. In der Gegend gab es schon vorher Operationen zur Partisanenbekämpfung. Diese hingen aber zumeist mit der Niederschlagung des Nationalaufstandes in der Slowakei zusammen. Mit dem Vorrücken der Roten Armee verschoben sich diese Aktivitäten auch geografisch. Die Deutschen wollten angesichts der sich nähernden Front Ruhe haben in ihrem Hinterland. Darum fanden in der Gegend zu dem Zeitpunkt die Überfälle auf die Partisaneneinheiten statt.“

František Sochora, damals 18 Jahre alt, verfolgte das Geschehen von einem nahegelegenen Hügel aus:

František Sochora mit seinen Eltern und seiner Schwester | Foto:  Archiv von František Sochora,  Post Bellum

„Ich war zum Glück Kartoffeln aussähen und nicht bei den Partisanen. Wir hüteten die Kühe und hatten Ploština gut im Blick. Die Kommandos kamen aus Richtung Tichov und Vysoké Pole. Jeder Soldat trug ein Maschinengewehr, und sie hatten bestimmt 20 Hunde dabei. Die Gruppe hieß ‚Josef‘. Nun warteten wir, was passieren würde. Bald sahen wir Feuer auf den Dächern, als sie das Dorf niederzubrennen begannen und die Menschen bei lebendigem Leibe hineinstießen.“

Freunde und Nachbarn seien dem zum Opfer gefallen, berichtet Sochora, denn schließlich haben sich alle Siedler gekannt. Historiker Navara weiß mehr zu berichten über die erwähnte Gruppe „Josef“:

Einheit „Josef“ | Quelle:  Post Bellum

„Mehrere NS-Kommandos kamen in das Gebiet um Vizovice. Eines davon war die Einheit ‚Josef‘ – eine Sondertruppe, in deren Reihen auch ehemalige Mitglieder der Hlinka-Garde aus der Slowakei kämpften. Dies waren Kollaborateure, also Slowaken, die zu den Nazi-Einheiten übergelaufen waren. Eine weitere Sondereinheit nahm Stellung in Vizovice, und die dritte Gruppe wurde von der Gestapo aus Zlín gebildet. Alle drei Kommandos agierten in Ploština und hatten insgesamt etwa 200 bewaffnete Kämpfer.“

Von den zehn Häusern Ploštinas blieben nur zwei übrig. Zu einem weiteren Trauma für einige der Überlebenden wurde, dass die meisten Partisanen – zu deren Verbündeten sich die Gastgeber schließlich gemacht hatten – kurz vor dem Angriff aus den Siedlungen flohen. Die Historiker streiten sich bis heute, ob ihr Bleiben und damit eine Verteidigung wirklich sinnvoll gewesen wären. Zeitzeuge Sochora jedenfalls hatte angesichts der absoluten Überzahl der Deutschen Verständnis für die Flucht. Anders sieht es der Schriftsteller Jaroslav Pospíšil, der mehrere Publikationen zum Thema herausgebracht hat:

Einer der Partisanen in Ploština | Quelle:  Post Bellum

„Die Partisanen hätten in Ploština kämpfen sollen. Damit hätten sie bewiesen, dass sie tatsächlich eine Kampfeinheit waren. Vielleicht dachten sie, dass nichts passieren würde, wenn sie flöhen. Aber die Deutschen hatten genügend Beweise dafür gefunden, dass die Partisanen vor Ort waren. Diese konnten also durch die Flucht ihre Anwesenheit nicht vertuschen. Die Kämpfer hätten zum Beispiel eine lokale Operation anführen und jedenfalls nicht vom Hügel aus nur zuschauen sollen, wie die unglücklichen Siedler endeten. Das ist himmelschreiend.“

Von den Partisanen im Stich gelassen

Trotzdem wurden die Partisanen in den Jahrzehnten nach Kriegsende zu den Helden von Ploština gemacht. Die Erlebnisse der Zeitzeugen ignorierend, hielten die kommunistischen Machthaber am Jahrestag des Überfalls alljährlich eine Gedenkfeier ab, die sich in das vorgegebene Geschichtsverständnis einpasste. Die Zusammenkünfte hat auch Josef Zicha noch kennengelernt, der heute Bürgermeister in Vysoké Pole ist. Sein Großvater und zwei Onkel waren in Ploština umgekommen:

Josef Zicha | Foto:  TOP 09

„Wenn die Gedenkfeiern stattfanden, ging Vater lieber Holz sammeln, und Großmutter versteckte sich. Sie wollten auch nicht darüber reden. In der kommunistischen Ära gab es nur eine Wahrheit zu dem, was in Ploština passiert ist. Weder Vater noch Großmutter hielten diese für richtig. Sie hatten ihre Wahrheit und wussten, was geschehen war. Das konnte damals aber nicht gesagt werden.“

Das Denkmal, das heute auf dem Gelände der ehemaligen Siedlung steht, stammt dann auch aus den dogmatischen Zeiten der sogenannten Normalisierung in den 1970er Jahren. Vier spitz zulaufende Betonpfeiler stellen züngelnde Flammen dar, und aus der Vogelperspektive bilden sie einen fünfzackigen Stern.

Die rechtzeitige Flucht der Partisanen gab den Hinweis darauf, dass die Bewohner von Ploština von Spitzeln verraten worden waren. Zwei von ihnen, Oldřich Baťa und František Machů, enttarnten sich selbst, als sie mit dem Mordkommando in die Siedlung einzogen. František Sochora erinnerte sich an beide:

Ploština noch vor dem Brand | Foto:  Karel Chotek,  Post Bellum

„Sie fragten immer, wer die Schlüssel zu welchem Haus hat. Das war schon eigenartig. Zwei Wochen später verrieten sie es dann weiter. Ihnen war für die Informationen Slivovice und Schlachtefleisch versprochen worden. Also haben sie alles aufgeschrieben. Als die Deutschen dann kamen, stiegen die Spitzel in deren Autos ein und fuhren mit ihnen weg.“

Oldřich Baťa wurde kurz nach Kriegsende wegen Kollaboration zum Tode verurteilt, und František Machů wurde in Südböhmen auf der Flucht erschossen. Bei seinen Recherchearbeiten ist Jaroslav Pospíšil zudem auf einen weiteren Spitzel namens Vladimír Hájek gestoßen. Dieser wurde erst 1951 wegen Zusammenarbeit mit der Gestapo verurteilt und beging in Haft Selbstmord.

Gedenkstätte wird saniert

Norbert Chotaš in der Rolle von Kurt-Werner Tutter  (im Film „Der Tod heißt Engelchen“ als SS-Sturmbannführer Engelchen) | Foto:  Tschechisches Fernsehen

Die unmittelbar Verantwortlichen für das Massaker von Ploština hingegen wurden nicht bestraft. Im Gegenteil, einer von ihnen arrangierte sich mit dem kommunistischen Regime in der ČSSR. Kurt-Werner Tutter, der stellvertretende Anführer der Einheit „Josef“, wurde nämlich zum nützlichen Spion in Deutschland. Historiker Navara:

„Die Geheimpolizei der kommunistischen Tschechoslowakei nutzte nicht nur Tutter, sondern auch andere SS-Leute als Agenten im Westen. Für diese Leute, an deren Händen tschechisches Blut klebte und die hätten bestraft werden müssen, weil sie sich schlimmster Verbrechen schuldig gemacht haben, endete die Sache sogar noch günstig.“

Denkmal in Ploština | Foto: Pornero,  Wikimedia Commons,  CC BY 3.0

Tutter lebte bis zu seinem Tod 1983 unbehelligt in Deutschland. Die Aufarbeitung seiner Verstrickungen begann hierzulande erst nach 1989. Ähnlich wie die Bemühungen um eine angemessene Erinnerungskultur in Ploština. Das dortige Denkmal wird derzeit saniert. Außerdem entsteht eine moderne, als Bildungszentrum angelegte Gedenkstätte.

In den vergangenen Jahren ist zudem eine besondere Form des Gedenkens am Jahrestag des Massakers umgesetzt worden. Am 19. April 2019 ertönte aus der Lautsprecheranlage auf dem Gelände erstmals ein leichtes Klopfen. Es symbolisiert den Herzschlag der Opfer von Ploština und weiteren zwölf Gemeinden der Mährischen Walachei, die von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurden. Das Projekt „Srdce v rozhlase“ (Herz im Rundfunk) haben zwei Studenten der Baťa-Universität in Zlín erdacht. Sie wollten nach eigenen Worten an die Tragödie auf eine Weise erinnern, die sich klarer ausdrückt als alle feierlichen Reden.

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Autoren: Daniela Honigmann , Naďa Reviláková
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