(Post)wachstum: Wie erhalten wir unseren Wohlstand, ohne den Planeten zu zerstören?
Während die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung für rund 50 Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich sind, entfallen auf die ärmere Hälfte der Menschheit nur zwölf Prozent der Emissionen. Dies geht aus der World Inequality Database hervor. Die Menge der ausgestoßenen Emissionen hängt also unmittelbar mit dem Wohlstand zusammen. Ist es möglich, weiter auf Wirtschaftswachstum zu setzen und gleichzeitig die Treibhausgasemissionen auf null zu senken? Und kann auch ohne Wirtschaftswachstum eine gute Lebensqualität für alle Menschen auf der Welt sichergestellt werden? Diese und weitere Fragen beantworten Nina Treu, die Mitbegründerin des Zentrums Konzeptwerk Neue Ökonomie, Eva Fraňková von der Masaryk-Universität in Brno / Brünn und Oldřich Sklenář von der Assoziation für internationale Fragen in Prag. Sie hören den letzten Teil unseres Klimapodcasts Karbon von und mit Filip Rambousek und Štěpán Vizi.
Seit wir unseren Podcast gestartet haben, hat sich immer deutlicher gezeigt, dass eine erfolgreiche Bewältigung der Klimakrise nur möglich ist, wenn auch der Verbrauch reduziert wird. Dies betrifft Energie und Verkehr genauso wie das Bauwesen oder den Verbrauch im Alltag. Gerade in diesem Bereich verbirgt sich jedoch laut Analyst Oldřich Sklenář eine der größten Tücken der grünen Transformation:
„Wenn unsere Wirtschaft wächst, steigt gleichzeitig auch der Verbrauch an Material und Energie sowie die Produktion von Abfall. Das ist einer der problematischen Bereiche, denn die europäischen Pläne und der Green Deal basieren auf der Idee von einem ‚grünen Wachstum‘. Ihr liegt die Annahme zugrunde, dass das Bruttoinlandsprodukt steigen wird – bei gleichzeitiger Abnahme der Treibhausgase.“
Der Fachbegriff dafür laute „Decoupling“. Was dies bedeutet, erläutert die Umweltökonomin Eva Fraňková.
„Grünes Wachstum beruht auf dem sogenannten ‚Decoupling‘, zu Deutsch Entkopplung. Also im Wesentlichen auf dem Versuch, die Kurve des Bruttoinlandsprodukts von der Kurve der Umweltbelastungen zu trennen. Das bedeutet, dass das Bruttoinlandsprodukt weiter wächst, was nach dem vorherrschenden ökonomischen Mainstream gesund und vorteilhaft für Wirtschaft und Gesellschaft ist, ohne jedoch gleichzeitig die Ökosysteme zu zerstören, von denen wir abhängig sind. Dahinter steht die Annahme, dass Wachstum notwendig ist, wir aber gleichzeitig in der Lage sind, die Umweltbelastung zu verringern.“
In der Praxis lässt sich dieses „Decoupling“ bislang jedoch nur unzureichend umsetzen.
„In den Industrienationen des globalen Nordens kommt es in einigen Fällen zu einem relativen ‚Decoupling‘. Das heißt, die Emissionen wachsen langsamer als das BIP. In einigen Fällen sehen wir auch kürzere Perioden der absoluten Entkopplung – das heißt, die Emissionen gehen zurück, obwohl das BIP steigt. Auf diese Entwicklung setzt das grüne Wachstum. Doch wir müssen die Emissionen viel schneller reduzieren, als es derzeit der Fall ist. Das gegenwärtige Tempo der Entkopplung reicht nicht aus. Deshalb ist nicht nur von der absoluten Entkopplung die Rede, sondern auch von einer ausreichend schnellen absoluten Entkopplung. Und die findet den empirischen Daten zufolge nicht statt“, so Fraňková.
Weiter hoher Materialverbrauch
Zudem gibt es Sektoren, in denen die Entkopplung überhaupt nicht gelingt. Als Beispiel nennt die Wissenschaftlerin den Materialverbrauch. Er wachse weltweit mindestens genauso schnell wächst wie das BIP:
„Ein Rückgang der Materialintensität in absoluten Zahlen erfolgt nur in Krisenzeiten – zuletzt im Jahr 2008 und schließlich während der Corona-Pandemie. Er ist also eigentlich unbeabsichtigt. Allgemein erkennen wir in den globalen Daten eher ein ‚Recoupling‘ – das heißt, die Materialintensität wächst sogar schneller als das BIP. Dies läuft genau der Idee zuwider, dass die Wirtschaft entmaterialisiert und die virtuelle Wirtschaft materialsparend sei. Tatsächlich ist die virtuelle Wirtschaft extrem energie- und materialintensiv. Eine Reduktion des Materialverbrauchs findet also definitiv noch nicht statt.“
Auch aus diesem Grund halten viele Experten ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum auf lange Sicht nicht für nachhaltig. Analyst Sklenář:
„In einer Welt, deren Ressourcen physisch begrenzt sind, ist ein dauerhaftes Wachstum einfach nicht möglich. Schon gar nicht, wenn es mit einem steigenden Ressourcenverbrauch und einer zunehmenden Abfallproduktion, einschließlich der Treibhausgasemissionen, einhergeht. Deshalb würde ich nicht von grünem Wachstum sprechen, sondern vom Erhalt einer annehmbaren Lebensqualität, die nicht auf Kosten des Ökosystems unseres Planeten geht.“
Doch wie lässt sich sicherstellen, dass die globale Wirtschaft die ökologischen Belastungsgrenzen des Planeten respektiert? Laut der Postwachstumsökonomin Nina Treu reicht es bei weitem nicht aus, dass die Menschen weniger einkaufen. Sondern das derzeitige Wirtschaftssystem müsse tiefgreifend verändert werden, sagt sie.
„Wir reden ganz viel über die Konsumseite und überlegen uns, wie sich Menschen ökologischer fortbewegen können, wie wir weniger kaufen und unsere Nahrung besser aussehen kann. Aber wir reden nicht darüber, dass wir auch deswegen so viel konsumieren, weil so viel produziert wird, und dass wir innerhalb unseres Wirtschaftssystems einen bestimmten Absatzmarkt haben, der auch bedient werden muss. Das heißt, es funktioniert nicht, wenn wir einfach weniger konsumieren, sondern wir müssen auch die Produktion verändern. Das bedeutet einerseits ganz klar weltweit aus der fossilen Energie auszusteigen und das auch ernst zu meinen. Es ist gerade so, dass es weltweit bei den fossilen Vorkommen – also Gas, Öl und Weiteres – Konzessionen für die großen Konzerne gibt, die weit über das hinausgehen, was noch möglich wäre innerhalb des 1,5 Grad-Pfades. Und andererseits bedeutet dies, die sehr fossile Produktion gerade im Bereich Autoindustrie, Rüstung und Chemieindustrie klimafreundlich rück- und umzubauen. Schon diese Erkenntnis haben sehr wenige Menschen und noch viel weniger Menschen, Organisationen und Regierungen kennen den Weg dahin.“
Degrowth anstatt Wachstumsglaube
Im Zusammenhang mit der Kritik an einem Wirtschaftssystem, das auf ständigem Wachstum basiert, sind in den letzten Jahren mehrere alternative Ansätze entstanden. Einer davon ist die Idee des „Degrowth“ oder „Postwachstums“. Nina Treu erklärt, was genau es damit auf sich hat.
„Degrowth oder Postwachstum sagt essentiell: Wir müssen weg von unserem wachstumsorientierten Wirtschaftssystem und die Wirtschaft darauf umstellen, dass sie nur das Notwendige produziert. Und dafür müssen die Wirtschaften im globalen Norden schrumpfen, besonders auch in Deutschland und Europa. Was wir an Gütern und Dienstleistungen produzieren, muss in einem demokratisch gestalteten Prozess heruntergefahren werden, und zwar indem wir schauen, was wir stattdessen produzieren wollen und wie wir das schaffen, dass Menschen weiter ein gutes – oder eigentlich ein noch besseres – Leben und gut bezahlte Arbeitsplätze haben. Das ist für mich mit einer Umverteilung von oben nach unten verbunden und nicht in die andere Richtung, wie es derzeit gerade der Fall ist.“
Eva Fraňková von der Masaryk-Universität in Brünn weist darauf hin, dass die gegenwärtigen Szenarien zur Dekarbonisierung üblicherweise auf der Vorstellung vom grünen Wachstum basieren. Die Diskussion über Alternativen sei sehr beschränkt, sagt sie.
„Überhaupt nur zuzugeben, dass das BIP sinken könnte, es aber trotzdem nicht zum totalen Zusammenbruch kommt, übersteigt die Vorstellungskraft der meisten Menschen. Und das ist ein großes Problem, denn wir müssen zum Beispiel die CO2-Emissionen sehr schnell auf null senken, idealerweise in den nächsten Jahren. Da liegt die Frage nah, ob die Emissionen nicht schneller reduziert werden könnten, wenn das BIP sinkt – oder wenn wir zumindest dauerhaftes Wachstum nicht als Grundvoraussetzung betrachten würden.“
Dabei sei die Senkung des Bruttoinlandsprodukts an und für sich nicht das Hauptziel der Postwachstumstheoretiker, sagt Eva Fraňková.
„Entscheidend für die Nachhaltigkeit ist eine Reduktion des Material- und Energieeinsatzes – mit anderen Worten: die Größe der Wirtschaft. Und dann spielt natürlich auch eine größere soziale Gerechtigkeit eine Rolle, angesichts der ungleichen Ressourcenverteilung auf unserem Planeten. Wenn der Gesamtkuchen nicht mehr wächst, wird die Frage immer wichtiger, wie wir die vorhandenen Güter und Dienstleistungen umverteilen“, so die Wissenschaftlerin.
Der Übergang zu einer Postwachstumswirtschaft sollte allerdings keinesfalls zu einer Senkung des Lebensstandards führen, betont Eva Fraňková:
„Die Idee des Postwachstums geht von der Vorstellung aus, dass wir fähig sind, ein zufriedenes Leben zu führen, ohne weitere, immer größere Häuser oder sonstige Besitztümer anzuhäufen. Und mehrere soziologische Studien in Ländern des globalen Nordens haben gezeigt: Sobald wir einen materiellen Standard erreicht haben, der unsere Grundbedürfnisse befriedigt und uns ein bequemes Leben garantiert, trägt die Anhäufung von weiterem Wohlstand und das Wirtschaftswachstum nicht mehr nennenswert zu einem stärkeren Glücksgefühl oder zu einem höheren Lebensstandard bei. In einigen Ländern gehen diese Indikatoren sogar zurück.“
Grenzen des Ökosystems
Den Wachstumskritikern schlägt selbst viel Kritik entgegen. Doch für Nina Treu ändert das nichts daran, dass es nützlich ist, nach Alternativen zu einem Wirtschaftssystem zu suchen, das auf ewiges Wachstum baut.
„Wenn wir über Degrowth sprechen, wird uns oft vorgeworfen, dies sei zu weit weg von der Realität und zu naiv. Mein Gegenargument ist immer, dass es total naiv ist zu denken, die Welt würde oder könnte so bleiben wird, wie sie jetzt ist. Die Welt wird sich massiv verändern, und die Frage ist: Steuern wir diesen Prozess oder nicht. Deswegen hilft es total, uns zu überlegen, in welcher Welt wir leben wollen, in welche Richtung wir Kämpfe führen wollen und auch, was uns davon abhält.“
Oldřich Sklenář stimmt dem zu. Für ihn ist ebenfalls wichtig, dass über die verschiedenen Möglichkeiten des „Degrowth“ oder des Postwachstums auf breiter Ebene diskutiert werden:
„Ich habe keine eindeutige Antwort. Ich kann nur empfehlen, dass wir uns ernsthaft mit Alternativen zum gegenwärtigen System befassen, denn die künftige Entwicklung unseres Wirtschaftens und unserer Aktivitäten sollte in jedem Fall die Grenzen des Ökosystems auf der Erde berücksichtigen. Derzeit ist das nicht der Fall. Dabei kann auch die wachstumskritische Bewegung in gewisser Weise als Inspiration dienen, obwohl ihr häufig eine gewisse Naivität vorgeworfen wird. Ihre Vertreter beschreiben ja oft einen Zielzustand, der utopisch erscheint, ohne aber genau den Weg dorthin zu definieren. Andererseits ist es legitim zu fragen, was naiver ist: der Versuch, das Schlimmste zu verhindern, indem man sich bemüht, die Last für das globale Ökosystem zu verringern, oder der Glaube an ein endloses Wirtschaftswachstum angesichts einer physisch begrenzten Welt und eines physisch begrenzten globalen Ökosystems. Bei Zweitem bleibt uns nämlich nur die Hoffnung, dass das Wachstum die Probleme, die es verursacht, zu lösen imstande ist, bevor dieses globale Ökosystem zusammenbricht.”