„Poustevna, das ist Paradies“ – Filmexpedition in die Sudeten
Dolni Poustevna, Nieder-Einsiedel: ein kleines, gottverlassenes Städtchen an der sächsischen Grenze, gleich gegenüber von Sebnitz, ein Ort wie viele im Sudetenland. Vietnamesenmärkte mit Gartenzwergen und Zigaretten, billige Prostitution, ein Behindertenheim. Die Häuser grau und verfallen oder allzu grellbunt renoviert. Ein Ort, der sich selbst fremd zu sein scheint - das Schicksal einer ganzen Landschaft. In einem preisgekrönten Dokumentarfilm erzählen Martin Dusek und Ondrej Provaznik einige der Geschichten, die sich hier kreuzen: Poustevna, das ist Paradies...
Die Sudeten, ein vergessener Landstrich. Entvölkert, neu besiedelt, die Landschaft verwildert, die Traditionen zerbrochen. Das Ende der Welt - hier irgendwo könnte es sein, in den Hügeln hinter Dolni Poustevna. Der Filmemacher Martin Dusek ist für einen Nachrichtendreh zum ersten Mal in das Städtchen gekommen:
„Als ich da gedreht habe, hab ich gesehen, wie hier ganz verschiedenes zusammen kommt: Hier leben verschiedene Gruppen nebeneinander her - geistig Behinderte neben Vietnamesen, und am ganzen Tag und abends ist die Stadt voll von Ostdeutschen, die hier einkaufen. Hier ist der Zusammenhang zwischen der Geschichte und Gegenwart zu sehen, zwischen der Vertreibung der Sudetendeutschen und dem heutigen Zustand der Region – es ist das konzentrierte Sudetenland.“
„Wir haben uns wirklich bemüht, die Leute so zu zeigen, wie sie sind. Das war der grundlegende Zugang bei dem Film. Mit manchen war das einfacher, mit manchen schwerer, aber wir haben nichts konstruiert – sie sagen, was sie sagen wollen und zeigen ihr Leben, wie es ist. Das war uns Grundanliegen für den Film“, sagt Co-Autor Ondrej Provaznik.
„Hier war überall die Kunstblume verbreitet, genauso wie in Sebnitz. Auch schon im alten Österreich sind viele tschechische Frauen hierher gekommen und haben in der Kunstblumenproduktion mitgearbeitet“, erzählt Alzbeta Vankova
Die Rentnerin ist in Poustevna geboren; damals hieß sie noch Elisabeth. Als junges Mädchen hat sie Krieg und Vertreibung erlebt. Weil die Eltern in der Kunstblumenfertigung gebraucht wurden, musste die Familie bleiben. So wie auf der sächsischen Seite der Grenze, in der Lausitz, so habe es früher auch in Poustevna ausgesehen, erzählt Alzbeta Vankova. Hübsche, gepflegte Häuser, alles war gut instand gehalten.
„Für uns war das dann eine große Ernüchterung, als nach dem Krieg die Leute kamen: Ein Haus hat ihnen nicht gefallen, also haben sie ein anderes bekommen, und wenn das ausgeplündert war, dann wieder ein anderes, und viele Häuser sind auch abgerissen worden. Erst jetzt in den letzten Jahren hat sich alles etwas beruhigt.“
Regisseur Martin Dusek hat die Geschichte der Region gereizt:
„Wir wollten eigentlich einen Film darüber machen, der zeigt, was passiert wenn man ein Städtchen komplett entvölkert. Dann entsteht in 60 Jahren nicht wieder eine funktionierende Gesellschaft, aber man findet dort eine wuchernde, bizarre Welt.“
„Wunderschön guten Tag! Eine Stange West Light, wie immer? Also, 14 Euro kosten, wie immer…“
Denisa ist 14 Jahre alt. Sie kommt aus dem Vietnam; eigentlich heißt sie Tu, aber das ist ein Name, mit dem man in Tschechien nicht viel anfangen kann. Ihr Vater hat einen Marktstand für deutsche Touristen am Ortseingang – Zigaretten, Alkohol, Korbwaren, das übliche.
Acht Jahre lang sei sie mit dem Bruder bei den Großeltern in Vietnam aufgewachsen, erzählt Denisa. Ihren Vater habe sie in dieser Zeit nie gesehen. Als die Eltern sie dann nach Tschechien geholt haben, sei der Vater zur Begrüßung stumm geblieben. Er habe sie nicht einmal erkannt. Aber sie ihn auch nicht. Er sei so alt geworden.
„In tschechischen Dokumentarfilmen hat es das bisher noch nicht gegeben, dass eine Geschichte aus dem Leben der Vietnamesen in Tschechien so aus der Nähe erzählt worden ist. Es ist schwer, an diese Menschen heranzukommen und mit ihnen zu drehen. Das war eine Herausforderung, und wirklich eine harte“, berichtet Filmemacher Ondrej Provaznik:
Denisas Vater hat auch mit dem Filmteam nicht geredet, jedenfalls nicht vor der Kamera. Er sucht stumm nach dem Glück, das hier doch irgendwo liegen muss, in Dolni Poustevna. Bald wird das neue Geschäft eröffnet.
Der Holländer Daan sucht sein Glück mal hier, mal dort. Mit seiner tschechischen Frau Hanka und zwei Kindern lebt er jetzt in einem alten Haus in den Hügeln über Poustevna. Eier von den eigenen Hühnern, Brennnesselsalat – eine Idylle auf Zeit. Daan wird mit der Familie bald weiterziehen – Poustevna, das ist nicht seine Heimat. Vorläufig genießt er die Weite:
So einen Fleck wie hier, den könne man in Holland nicht finden, sagt Daan – verlassene Häuser, Ruinen, verwilderte Obstwiesen. Ein Landstrich ohne Verbotsschilder.
Glück, das ist offenbar ein knappes Gut, nicht nur in Dolni Poustevna. Der 55-jährige arbeitslose Elektroingenieur Volker kommt aus dem nahen Sebnitz. Er hat sich bereits mit den spärlichen Illusionen des Glücks abgefunden, die in den Bordellen und Kneipen von Poustevna auf ihn warten.
“Wie oft ich hierher komme? Naja, so dreimal die Woche. In der Wochenmitte, und dann am Freitag und Samstag. Manchmal auch Sonntag. Und manchmal immer….“
Volker erwartet vom Leben kaum noch mehr als einen Plastik-Swimmingpool in einem Kneipengarten in Poustevna.
„Das ist das absolute Paradies. Hier fehlen nur noch schöne Mädchen, mit schönen Brüsten und so. Dann können wir Striptease-Baden, und alle gucken. Super! Das ist Paradies, das ist Paradies in Dolni Poustevna!“
„Poustevna, das ist Paradies“, so heißt ihr Film, der vor kurzem auch den Sieg auf dem Dokumentarfilmfestival in Jihlava davongetragen hat. Haben die jungen Filmemacher nicht zu stark die tristen und verlorenen Seiten der Region betont? Ondrej Provaznik:
„Wenn man außen, etwa aus der Großstadt, darauf schaut, dann mag das so aussehen. Aber wenn man nach Poustevna kommt, dann hat man das Gefühl, dass man tausende Kilometer hinter sich gelassen hat, obwohl es von Prag gerade einmal 150 Kilometer sind. Man tritt wirklich in einer andere Dimension ein, in der andere Regeln gelten.“
Und doch: das Leben lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Auch in den Sudeten schreitet die Zeit weiter; die Region hat ihre Lebenskraft nicht verloren.
„Der Film endet eigentlich ziemlich hoffnungslos, oder jedenfalls nicht sehr optimistisch. Aber als wir nun nach zwei Jahren wieder nach Poustevna zurückgekehrt sind, hatten wir eigentlich ein besseres Gefühl, als bei den Dreharbeiten. Die Leute haben schon ein bisschen mehr miteinander geredet als vorher. Wir hatten den Eindruck, dass die Region eine fröhlichere Zukunft hat – vielleicht eine etwas bizarre, aber trotzdem eine Zukunft.“