Prag, zwei Jahre nach der Flut: Betroffene erzählen

Das Gebäude der Tschechischen katolischen Caritas in Karlin (Foto: Jana Sustova)

Einschneidende Ereignisse ziehen Rückblicke nach sich. Üblicherweise erstmals nach einem Jahr. Meist reicht die Zeit bis dahin auch aus, um Bilanz zu ziehen und die Konsequenzen mit dem nötigen Abstand umfassend zu analysieren. Nicht so im Falle der Flutkatastrophe, die die Tschechische Republik im August 2002 heimgesucht hat. Am ersten Jahrestag des Hochwassers waren noch allzu viele Wunden unverheilt, für allzu viele Menschen war der normale Alltag noch nicht so recht zurückgekehrt. Nun, zwei Jahre später, ist das Bild erfreulicher. Gerald Schubert bringt in der folgenden Ausgabe der Sendereihe Schauplatz eine Bestandsaufnahme aus der Sicht von zwei Betroffenen:

Krizikova-Str. in Karlin nach dem Hochwasser  (Foto: Jana Sustova)
Irgendwann im August 2002 wurde die Statistik uninteressant: Zunächst war von einer Flutwelle die Rede, die - eben statistisch gesehen - nur alle 50 Jahre vorkommt. Als die Regenfälle weitergingen und die Wasserspiegel der Flüsse weiter stiegen, erhöhten Experten diese Zahl auf das Doppelte: Die "Jahrhundertflut" war geboren, rhetorisch elegant und - wie es schien - obendrein noch mathematisch gesichert. Wenig später aber herrschte bereits Verwirrung darüber, ob die Natur nun alle 500 oder gar nur alle 1000 Jahre eine derartige Sintflut hervorbringt. Dieser rechnerisch gesehen größte Unterschied war jedoch für den Alltag vieler Tschechen bereits völlig egal: Am 13. August heulten in Prag die Sirenen, die U-Bahn wurde - manche meinen viel zu spät - geschlossen, die über die Ufer getretene Moldau überschwemmte weite Teile der tschechischen Hauptstadt. Am schwersten wurde der Stadtteil Karlín in Mitleidenschaft gezogen. Tausende Menschen wurden evakuiert. Unter ihnen der junge Steuerberater Libor Smejkal mit seiner Frau und seiner damals sechs Monate alten Tochter:

Das Gebäude der Tschechischen katolischen Caritas in Karlin  (Foto: Jana Sustova)
"Unsere Wohnung befindet sich zwar etwa 400 Meter von der Moldau entfernt, aber leider im Erdgeschoss. Die Höhe des Wassers hat in der Wohnung 1,50 Meter erreicht. Alles, was darunter war, wurde unwiederbringlich vernichtet."

Das Haus selbst war entsprechend versichert, für die Wiederherstellung der beschädigten Bausubstanz war also finanziell gesorgt. Libor Smejkal selbst aber hatte in seiner Wohnung zunächst weniger Glück:

"Unser Haushalt war leider nicht versichert. Da haben wir große Schäden erlitten. Aber wir bekamen finanzielle Hilfe vom Staat und von der Stadt. Ich muss sagen: Das war in Ordnung!"

Das Gebäude der Tschechischen katolischen Caritas in Karlin  (Foto: Jana Sustova)
Dennoch: Fast eineinhalb Jahre hat es gedauert, bis Libor Smejkals Wohnung wieder intakt war. Geld war nicht das einzige Problem. So konnte mit den Renovierungsarbeiten erst richtig begonnen werden, nachdem die Wände ausgetrocknet waren. Allein das dauerte Monate. Libor Smejkals Familie zog vorübergehend ins Wochenendhaus in Südböhmen. Er selbst blieb während der Arbeitswoche in Prag und wohnte mal bei diesem, mal bei jenem Freund - niemals zu lange, um niemandem zur Last zu fallen, im Rucksack immer die Zahnbürste und Kleidung für fünf Tage. Wann konnte er schließlich wieder in seine Wohnung einziehen?

"Daran erinnere ich mich ganz genau: Es war Ende November 2003. Damals war ich sehr glücklich, dass ich wieder zu Hause bin und in der komplett renovierten Wohnung leben kann."

Karlin  (Foto: Jana Sustova)
Der Stadtteil Karlín, in dem Libor Smejkal wohnt, hatte nach dem Hochwasser ein Bild der Verwüstung geboten. Die Wasserspuren an den Fassaden reichten teils bis über das erste Stockwerk der Häuser, anstelle geparkter Autos türmten sich modrige Müllhalden am Straßenrand, stinkender Schlamm wurde aus Kellern gepumpt. Einige Straßenzüge waren wochenlang gesperrt, weil ganze Häuser eingestürzt oder die Statik bedroht war. Nun, zwei Jahre später, kann Libor Smejkal dem Hochwasser auch etwas Positives für seinen Heimatbezirk abgewinnen:

"Wenn man heute durch Karlín spaziert, etwa von Florenc bis Palmovka, dann findet man dort neu gebaute Infrastruktur. Die meisten Häuser haben neue Fassaden bekommen. Und alte, früher unbenutzte Industriegebäude wurden abgerissen."


Haus auf der Prager Kleinseite nach dem Hochwasser  (Foto: Jana Sustova)
Überqueren wir nun die Moldau und werfen wir einen Blick auf die Prager Kleinseite am linken Flussufer. Das malerische Viertel steigt, im Gegensatz zum völlig flachen Karlín, steil an, nur die unteren Teile wurden vor zwei Jahren Opfer der Wassermassen. Dafür aber ist die am Fuße der Prager Burg gelegene Kleinseite reich an Kulturdenkmälern, entsprechend zog sie damals auch die internationale Aufmerksamkeit auf sich. Wer die Katastrophe verfolgt hat, dem mag noch folgendes Bild in Erinnerung sein: In einem engen Gässchen, vor einer kleinen Buchhandlung, sieht man einen mehr als mannshohen Haufen - vielleicht Ziegelsteine oder Schutt. Erst beim genaueren Hinsehen erkennt man: Es sind Bücher. Bestände des Prager Vitalis-Verlags, der hauptsächlich Literatur in deutscher Sprache herausbringt. Sein Gründer und Leiter Harald Salfellner blickt zwei Jahre später zurück:

Haus auf der Prager Kleinseite nach dem Hochwasser  (Foto: Jana Sustova)
"Es wurden die wesentlichen Lager vernichtet und auch Teile unserer Verlagsräumlichkeiten. Leider auch unsere kleine Buchhandlung, die mit dem Verlag stark verbunden ist."

Etwa 80 Prozent Substanzverlust habe er erlitten, die erhoffte Unterstützung durch öffentliche Stellen sei in seinem Fall weitgehend ausgeblieben, erzählt Harald Salfellner. Aber:

"Es gab sehr viel Zuspruch vonseiten unserer Leser, es gab rührende Kleinstspenden. Das alles hat mich natürlich motiviert weiterzumachen und das Unmögliche wieder zu versuchen."

Salfellners Bilanz, nun im August 2004:

"Innerhalb von zwei Jahren - und damit meine ich nicht herkömmliche Arbeit, sondern Einsatz Tag und Nacht - haben wir das Haus wiederhergestellt und die Schäden beseitigt. Wir sind heute vielleicht wieder dort, wo wir vor der Flut waren. Und das war eine relativ starke Position. Wir sind als Verlag wieder leistungsstark. Zwei Jahre hat es gedauert. Aber es ist nicht zu übersehen, dass wir nach zwei Jahren Andere geworden sind. Man geht nicht in so ein Hochwasser hinein und wieder hinaus und schüttelt sich ab, als wäre nichts gewesen."


Übrigens: Ein Gespräch mit Harald Salfellner, dem Gründer und Leiter des Prager Vitalis-Verlags, können Sie am Montag, in der Sendereihe "Heute am Mikrophon" hören.