Projekt CarDia: Tschechien will wirkungsvoller Übergewicht und Diabetes bekämpfen

Die größte Epidemie der Menschheit, Wohlstandsseuche oder Volkskrankheit. So oder auch anders wird heutzutage das Phänomen der Fettleibigkeit bezeichnet. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich die Adipositas in allen Industrieländern rapide ausgebreitet, Tschechien stellt da keine Ausnahme dar. Auch hierzulande zerbrechen sich viele Ärzte die Köpfe über das besorgniserregende Problem mit steigender Tendenz. Und zunehmend sind auch viele Kinder betroffen. Mit dem Projekt CarDia soll aber nun gegengesteuert werden.

Martin Haluzík | Foto: IKEM

Zuletzt ist die Zahl fettleibiger Kinder in Tschechien stark angewachsen. Dies hat eine 2021 durchgeführte Studie bestätigt. Der Trend steht wohl mit der Corona-Pandemie in Zusammenhang. Den Zahlen zufolge leiden hierzulande über 16 Prozent der Kinder an Übergewicht. Dabei hat über die Hälfte von ihnen eine schwere Form der Fettleibigkeit.

Für diese Kinder brauche es neue Behandlungsmethoden einschließlich chirurgischer Eingriffe und pharmakologischer Ansätze, hieß es zuletzt auf einer Pressekonferenz im Prager Institut für klinische und experimentelle Medizin, kurz IKEM. Bei dem Treffen mit den Fachärzten ging es gerade um die Themen Übergewicht, Fettleibigkeit und Zuckerkrankheit alias Diabetes. Nur wenn diese Leiden bei Kindern frühzeitig und gezielt therapiert würden, könnten gesundheitliche Probleme im Erwachsenenalter verhindert werden, so der Tenor. Professor Martin Haluzík leitet das IKEM-Zentrum für Diabetologie und ist Vorsitzender der Tschechischen Gesellschaft für Diabetologie:

„Die Statistiken weisen leider keine sonderlich gute Entwicklung aus. Während der Corona-bedingten Einschränkungen – darunter auch die längeren Schulschließungen – sind die körperlichen Aktivitäten von Kindern und Jugendlichen deutlich zurückgegangen. Zum Online-Unterricht kam stattdessen nicht selten auch noch der unkontrollierte Internetkonsum hinzu. Zum Teil hat sich auch die weniger gesunde Verpflegung zu Mittag ausgewirkt, als die Schulküchen geschlossen waren. Das hat zu einem signifikanten Anstieg übergewichtiger beziehungsweise fettleibiger Schüler insbesondere in der Altersklasse zwischen 11und 13 Jahren geführt. Letztlich dürfte das auch Konsequenzen für die Zukunft haben. Aus vielen jungen Patienten mit Übergewicht werden erwachsene Diabetiker, die zum Beispiel schon im Alter von 30 Jahren zuckerkrank sind. Und sie sind auch viel früher von Risikofaktoren wie etwa Bluthochdruck, Nierenversagen, Herzinfarkt oder Schlaganfall bedroht.“

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Diese Risikofaktoren sind jährlich die Todesursache für mehr als 22.000 Diabetiker hierzulande. Im internationalen Vergleich schneidet Tschechien nicht gerade gut ab.

„Tschechien gehört zu jenem Viertel der europäischen Länder mit dem höchsten Anteil an fettleibigen Menschen, in der Fachsprache Adipositas genannt. Ansonsten sind dies noch die Länder des Balkans wie zum Beispiel Serbien. Relativ hohe Zahlen weisen auch Griechenland oder die Türkei auf. Die Lage in Deutschland ist im Vergleich zu Tschechien etwas besser, allerdings nicht so sehr. Bei uns steigt leider kontinuierlich die Zahl zuckerkranker Erwachsener. Derzeit sind es mehr als eine Million, also ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Außerdem müssen wir davon ausgehen, dass noch weitere 200.000 bis 300.000 Menschen in Tschechien an Diabetes leiden, ohne dass diese bei ihnen bereits diagnostiziert wurde. Als Ursache gilt auch bei ihnen meist das Übergewicht“, so Haluzík.

Kassen übernehmen die Kosten nicht

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Dabei ist der Zusammenhang zwischen Übergewicht und falscher Ernährungsweise bewiesen. Warum schaffen es aber viele Menschen nicht, gesünder zu essen? Martin Haluzík:

„Ich würde sagen, dass sich viele Menschen für die Themen Diabetes und Fettleibigkeit interessieren. Vor allem im Internet stoßen Hilfesuchende aber auf viele ungesicherte Informationen oder sogar Desinformationen. So werden jede Menge Scheinmedikamente ohne Wirkung angeboten, dazu Nahrungsergänzungsmittel wie Tee- und Kaffeesorten, die angeblich einen Gewichtsverlust versprechen, und vieles mehr. Meiner Meinung nach sollten sich nicht nur die Ärzte, sondern auch staatliche Stellen wie etwa die Ministerien für Gesundheit und Bildung aktiver dafür einsetzen, dass sich gesundheitsförderliche Regeln durchsetzen. An unseren Grund- und Mittelschulen fehlt eine systematischere Erziehung der Kinder und Jugendlichen in dieser Richtung. Das Potential, etwas zu verbessern, ist noch immer groß. Im Vergleich mit anderen westlichen Ländern hinkt Tschechien deutlich hinterher. Diese haben ein besser ausgearbeitetes System zur Förderung eines gesunden Lebensstils.“

Martin Haluzík | Foto: Jitka Mládková,  Radio Prague International

Die Behandlung von Adipositas und ihren Folgekrankheiten bedeutet eine große finanzielle Belastung für das gesamte Gesundheitssystem. Und auch die Mediziner des IKEM denken, dass geeignete Therapien von Diabetes immer teurer werden. Wie funktioniert aber in Tschechien die Behandlung von fettleibigen Patienten, die wirkungsvolle Medikamente brauchen?

„Das Angebot hierzulande würde ich als europäischen Durchschnitt bezeichnen. Wir haben schon heute wirkungsvolle Medikamente gegen Übergewicht, und bessere sind bereits in Sicht. Doch der Patient muss sie selbst bezahlen. Falls er das aber nicht kann, gibt es keine Alternative für ihn, sein Übergewicht wirksam zu reduzieren. Tschechien hinkt also im Vergleich zu anderen Ländern hinterher, weil die Arzneikosten für bestimmte Medikamente überhaupt nicht oder nur für eine sehr kleine Zahl an Patienten von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Das heißt, das Problem besteht nicht darin, dass Medikamente etwa mit Verspätung auf unseren Markt kommen würden. Aber die Diskussionen darüber, dass einigen Patienten die Kosten für die Arznei erstattet werden, sind sehr kompliziert“, so Haluzík.

IKEM Pressekonferenz | Foto: Jitka Mládková,  Radio Prague International

Inwieweit können aber die Mediziner selbst darauf einwirken, dass konkrete Leistungen von den Krankenkassen angeboten und erstattet werden? Professor Haluzík meint mit einem Lächeln, es sei nie genug Geld vorhanden. Und weiter führt er aus:

„Wir sind sehr bemüht dies zu tun. Zugleich sei aber gesagt, dass es noch viele weitere Prioritäten gibt. Zwar wurden bereits auch positive Schritte gemacht, doch es reicht nicht. Bei uns im IKEM setzen wir aktuell ein Projekt um, das direkt auf Herz- und Diabeteserkrankungen zielt. Als wichtigen Schritt in die richtige Richtung wurden dafür nun auch umfangreichere Finanzen aus dem Erneuerungsfonds genutzt – und das übrigens zum ersten Mal, seit ich in diesem Fachbereich tätig bin. Zur Therapie unserer zuckerkranken Patienten steht uns derzeit ein Präparat zur Verfügung, das bei ihnen innerhalb weniger Monate die Essenslust zügelt, sodass sie bis zu zehn Kilogramm Gewicht oder auch etwas mehr verlieren. Insgesamt haben wir aber mit dem Problem zu kämpfen, dass die gesetzlichen Krankenkassen die teuren Medikamente zur Bekämpfung der Adipositas nicht bezahlen.“

Internationale Zusammenarbeit

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Professor Haluzík ist Initiator und Koordinator des in Tschechien bisher größten wissenschaftlichen Projektes zur Erforschung von Fettstoffwechselstörungen in Verbindung mit Kreislauferkrankungen. Als Kürzel für das Vorhaben hat man sich „CarDia“ ausgedacht. Im Rahmen des Projekts entsteht eine Plattform, auf der Forschungsteams aus fünf klinisch-wissenschaftlichen Schwerpunktzentren in Prag und Brno / Brünn zusammenarbeiten werden. Offiziell sind sie zum „nationalen Institut zur Erforschung metabolischer und kardiovaskulärer Erkrankungen“ zusammengeschlossen…

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„Das Projekt ermöglicht eine komplexe Erforschung des Gebiets. Die Vernetzung der Forschungsteams einiger Institute der Akademie der Wissenschaften und der medizinischen Fakultäten in Prag und Brünn will erreichen, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse über neue Behandlungsmethoden auch umgesetzt werden. Vorgesehen sind ebenso die Entwicklung neuester Medikamente sowie eine umfangreichere Anwendung moderner Technologien in der Therapie. Im Rahmen des CarDia-Projektes haben wir auch die Zusammenarbeit mit einer Reihe von ausländischen Forschungsstätten angeknüpft. An dieser Stelle möchte ich die Zusammenarbeit mit meinem guten Freund und Kollegen, dem namhaften deutschen Diabetologen Matthias Blüher, nennen. Er ist Professor für Klinische Adipositasforschung an der Universität in Leipzig“, so der Mediziner Haluzík.

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Das mit einer Milliarde Kronen (rund 43 Millionen Euro) dotierte CarDia-Projekt soll dreieinhalb Jahre lang laufen.