Psychiatrie in Tschechien: Streit um Gitterbetten bringt Diskussion über Gesamtkonzept

Gitterbett

Die politische Berichterstattung in Tschechien war in den vergangenen Wochen weitgehend von der Bildung einer neuen Regierung beherrscht. Umso erstaunlicher, dass auch über ein anderes Thema relativ lautstark und emotional diskutiert wurde: Nämlich über die Qualität der Betreuung in der tschechischen Psychiatrie. Über Anlass und Verlauf der Diskussion hören Sie nun eine neue Ausgabe der Sendereihe "Schauplatz" von Gerald Schubert:

Mitte Juli bekamen sowohl der damals noch amtierende Premierminister Vladimír Spidla als auch Präsident Václav Klaus ungewöhnliche Post aus dem Ausland. Die Absenderin: Joanne Rowling, Schriftstellerin und Schöpferin des Zauberlehrlings Harry Potter. Rowling protestierte gegen die Verwendung von Gitterbetten bzw. Betten mit Seilgeflechten in psychiatrischen Kliniken. Zuvor hatte eine Reportage der Zeitung The Sunday Times in Großbritannien für Gesprächsstoff gesorgt. Dort war über eine Anstalt in Mittelböhmen berichtet worden, wo einige psychisch kranke Kinder die meiste Zeit ohne Aufsicht und ohne Spielzeug in solchen käfigartigen Betten eingesperrt sein würden. Die Reaktionen in Tschechien auf Rowlings Brief waren stürmisch: Nur zwei Tage später erließ der damalige Gesundheitsminister Josef Kubinyi ein Verbot dieser Betten. Das wiederum rief Bitterkeit bei Präsident Václav Klaus hervor. Kubinyi, so der Vorwurf des Staatsoberhaupts, sei damit "unverantwortlichen und populistischen Attacken auf die Qualität der tschechischen Krankenpflege entgegengekommen."

Im Zuge der Debatten hatten sich auch Vertreter der "Tschechischen Assoziation für psychische Gesundheit", kurz CAPZ, zu Wort gemeldet. Aus gegebenem Anlass wiesen sie auf den breiteren Kontext der Probleme in der tschechischen Psychiatrie hin. Gegenüber Radio Prag stellt CAPZ-Direktorin Andrea Studihradová ihre Organisation vor:

"Die Tschechische Assoziation für psychische Gesundheit ist eine Vereinigung, die Patienten, deren Angehörige und Menschen, die in der Psychiatrie beschäftigt sind, vertritt. Unsere Hauptaufgabe ist Aufklärung. Wir wollen darüber informieren, wie es ist, mit einer psychischen Erkrankung zu leben. Und wir wenden uns auch an Personen, die dazu in der Lage sind, das gegenwärtige System im Bereich der psychiatrischen Betreuung zu ändern. Wir wollen also bestimmte Veränderungen durchsetzen, damit diese Betreuung qualitativ hochwertig, zugänglich und eben einfach gut ist."

Was die Probleme in der tschechischen Psychiatrie betrifft, so stelle die jüngste Affäre rund um die Gitterbetten nur die Spitze des Eisbergs dar, so Studihradová:

"Unter dieser Spitze liegt eine ganze Reihe von Problemen. Denn die Psychiatrie bzw. die Pflege von psychisch kranken Menschen ist in Tschechien schlecht. Auch die Ärzte in diesem Bereich sagen, dass die Psychiatrie innerhalb der Medizin ein Aschenputteldasein fristet. Sie bekommt nicht genug Aufmerksamkeit und nicht genug Geld. Eines der großen Probleme stellen dabei bestimmt die psychiatrischen Heilanstalten dar, die auch den Großteil des geringen Budgets in diesem Bereich verbrauchen. Wir wollen natürlich nicht sagen, dass diese Anstalten immer schlecht sind. Im Gegenteil: Wenn es keine andere Möglichkeit gibt, dann können sie sehr hilfreich sein. Aber wir bemühen uns, die Betreuung außerhalb solcher Anstalten zu unterstützen; eine Betreuung, bei der mehr mit den Patienten selbst zusammengearbeitet wird. Oder sagen wir: Mit den Menschen, die gerade eine psychische Krise durchleben - denn nicht immer muss man gleich von Patienten sprechen. Diese Form der Krankenpflege ist aber leider überhaupt nicht koordiniert. Die Anstalten dienen natürlich zur Betreuung akuter Fälle, in Phasen, wo es den Betroffenen schon sehr schlecht geht und sie zur Gefahr für ihre Umgebung und für sich selbst werden können. Leider aber funktionieren sie auch oft wie Unterbringungseinrichtungen für Langzeitkranke und erfüllen somit eine Aufgabe, die sie eigentlich gar nicht haben sollten. Und so wird daraus ein großer Koloss, in dem es zu wenig Personal gibt, das sich dann nicht mehr ausreichend um die einzelnen Menschen kümmern kann."


Kommen wir zurück zum Anlass der Debatte, also zum Vorwurf der oft missbräuchlichen Verwendung von Gitterbetten in der tschechischen Psychiatrie: Dass es sich dabei um ein äußerst sensibles und hierzulande noch nicht hinreichend diskutiertes Thema handelt, das hat kaum jemand bestritten. Gerade deshalb aber warnen manche Experten auch vor vorschnellen Reaktionen. Wie etwa der Kinderpsychologe Zedenk Matejcek:

"Ich sehe das nicht so tragisch. Es hängt in erster Linie davon ab, ob dort ein Mensch eingesperrt ist, oder ob es zu seinem eigenen Schutz dient. Denn es ist tatsächlich in einigen Fällen bei psychisch schwer gestörten Kindern und Erwachsenen so, dass Maßnahmen zu ihrer Sicherheit erforderlich sind. Und das nicht, um es dem Pflegepersonal bequemer zu machen."

Andrea Studihradová, Direktorin der "Tschechischen Assoziation für psychische Gesundheit", weist jedoch darauf hin, dass zu einer strukturellen Lösung des Problems nicht einmal die grundlegenden Daten und Fakten vorhanden sind. So würden etwa Statistiken über die Anzahl der Gitterbetten und genaue Aufstellungen und Richtlinien bezüglich ihrer Anwendung weitgehend fehlen. Studihradová sieht jedoch auch positive Ansätze, was das Niveau der tschechischen Krankenpflege im Bereich der Psychiatrie betrifft:

"Prinzipiell sind alle Dienstleistungen in diesem Bereich bei uns vorhanden. Im Wesentlichen wissen wir also, wie wir es anstellen sollen. Aber: Die ganze Sache ist nicht gut koordiniert, die Anzahl der angebotenen Dienstleistungen reicht nicht aus, und die Qualität ist manchmal nicht hoch genug. Grundsätzlich sind wir jedoch wie gesagt gut informiert und können in vielen Einzelheiten dem internationalen Vergleich doch standhalten."


Wenn in Tschechien gesellschaftspolitische Probleme diskutiert werden, dann wird oft nach der Rolle gefragt, die das Erbe des kommunistischen Regimes heute noch spielt. Auch im Bereich der Psychiatrie ist diese Frage wohl angebracht. Haben die Machthaber von einst die Kategorie "verrückt" missbraucht, um ihre Kritiker zu diskreditieren und ruhig zu stellen? Andrea Studihradová:

"Ich kann nicht sagen, ob das kommunistische System die Psychiatrie für seine Zwecke missbraucht hat. Nach der Revolution wurde offiziell gesagt, dass dies eigentlich nicht oder nur sehr selten der Fall war, was mich eigentlich überrascht hat. Auf jeden Fall war das System aber dadurch schlecht, dass es keinerlei individuellen Zugang zu diesem Problem ermöglicht hat. Und es war auch gefährlich, indem es die mittelalterliche Ansicht tradiert hat, der zufolge psychisch Kranke ins Irrenhaus gehören, irgendwo hinter einen Berg und eine dicke Mauer. Das System hat in gewisser Weise die Wahrnehmung unterstützt, dass ein psychisch erkrankter Mensch dauerhaft behindert ist und sich nicht in die Gesellschaft eingliedern kann. Derartige Mythen haben sich oft bis heute erhalten. Bestimmt gab es auch hierzulande viele, die ihren Patienten gegenüber eine sehr positive Haltung einnahmen. Aber das System, das so viele andere gesellschaftliche Bereiche gelähmt hat, hat eben auch die Psychiatrie gelähmt - und überhaupt den menschlichen Umgang mit Kranken und Behinderten."

Fünfzehn Jahre später hat sich natürlich vieles geändert. Doch funktionierende demokratische Strukturen sind nur eine Voraussetzung zur Lösung der Probleme, die es auch in Ländern mit älteren demokratischen Traditionen gibt. Josef Kubinyi, der so rasch - und manchen zu rasch - auf den Brief von Joanne Rowling reagiert hatte, ist mittlerweile nicht mehr im Amt. Zu seiner Nachfolgerin wurde vor wenigen Tagen Milada Emmerová ernannt, bislang Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheitswesen im Abgeordnetenhaus. Abschließend noch einmal Andrea Studihradová von der "Tschechischen Assoziation für psychische Gesundheit":

"Angesichts dessen, dass die Gesundheitsminister so schnell kommen und gehen, glaube ich nicht, dass diese Zäsur nun einschneidender ist als alle anderen. Ich hoffe aber wirklich, dass der rasante Aufschrei von Frau Rowling bewirkt, dass die Türen nun eine Zeitlang offenstehen und sich die neue Ministerin wirklich und umfassend für diese Problematik interessieren wird. Wie gesagt: Ich hoffe."