Puppenspielkunst: Prager Galerie zeigt historische Marionetten

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Wenn es auf einmal von etwas mehr gibt als gewohnt, dann sagt man hier in Tschechien: Es ist ein Federbett geplatzt. Genau das trifft auf Ausstellungen zum tschechischen Puppen- und Marionettentheater zu. Seit der Vorweihnachtszeit wird gleich in einer ganzen Reihe tschechischer Städte die Magie dieser Theatertradition den Besuchern näher gebracht. So auch in Prag. Dort kann man in der Galerie Smečky unweit des Wenzelsplatzes noch bis zum 28. Januar einen interessanten Vergleich von historischen und modernen Marionetten anstellen.

Si, si, dobrý den, dobrý den / Guten Tag - so begrüßte am 30. November niemand anderes als das Kasperle die Besucher bei der Eröffnung der Ausstellung „Tschechische Marionette – Tradition und Gegenwart“. Zwei Stockwerke der Galerie Smečky unweit des Prager Wenzelsplatzes sind noch bis zum 28. Januar von Königen, Prinzen, Wassermännern, Knochenmännern, Bauern, Teufeln und vielen anderen Marionetten bevölkert. Ihr eigentliches Domizil hatten die meisten dieser Puppen nach und nach seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts in der Sammlung von Jiří Vorel. Sie ist eine der größten Privatsammlungen hierzulande und übertrifft in mancher Hinsicht auch die Marionettensammlungen vieler professioneller Puppentheater und Museen. Am Anfang ihrer Entstehung stand ein Weihnachtsgeschenk für zwei kleine Söhne des bereits verstorbenen Jiří Vorel. Bei der Ausstellungseröffnung erinnerte sich seine Frau Anna Vorlová:

„Mein Mann kaufte ihnen einmal ein Puppentheater als Weihnachtsgeschenk, solche Theater hat er als Kind selbst sehr geliebt. Im darauffolgenden Jahr kaufte er zu Weihnachten wieder ein Puppentheater, ein größeres allerdings, und ein Jahr später ein noch größeres. Er begann auch Marionetten zu sammeln. Das war in den 1960er Jahren. Damals wurden zahlreiche Turnhallen des Turnvereins Sokol, aber auch Pfarrhäuser geschlossen, die viele Marionetten in ihrem Besitz hatten. Die offiziellen Stellen sahen in den Puppen altes Gerümpel und wollten es los werden. Mein Mann und ein Freund von ihm waren damals oft sonntags unterwegs und kamen in der Regel mit vielen Marionetten nach Hause zurück. Bei uns zu Hause hatten wir bald kaum noch Platz für die Puppen.“

Aber nicht nur das Marionettensammeln war Vorels Leidenschaft:

„Als die Kinder etwas größer wurden, begann er gemeinsam mit ihnen im Waschraum unseres Hauses für die Nachbarkinder Puppentheater zu spielen. Das war noch unter den Kommunisten. Weil sie Erfolg hatten, mietete mein Mann in unserem Stadtviertel einen Saal, in dem er mit unseren Söhnen Puppentheater für Kinder aus der Umgebung spielte. Ihr Theater nannten sie ´Zvoneček´ (Kleine Glocke).“

Dieses Puppentheater in Prag besteht im Übrigen bis heute. Und die Sammlung Vorels hat deswegen auch mehr zu bieten als nur Marionetten. So sind in der Galerie Smečky auch Kostüme, Kulissen und viele Requisiten zu sehen. Anna Vorlová:

„Wir haben mehrere Kartons voller wunderschöner Kostüme mit Stickereien, alles Handarbeit. Außerdem haben wir eine ganze Menge von perfekt geschnitzten Marionettengliedern: Hände, Beine, aber auch Miniaturen von Lederschuhen. Hinzu kommt eine Menge an Kulissen, Vorhängen, Bühnenportalen und viele Requisiten wie Stühlchen oder Tischlein.“

Vorels Sammlung ist ziemlich groß. Doch wie viele Stücke sind es insgesamt. Da muss selbst Frau Vorlová passen:

„Das lässt sich kaum beziffern. Allein von den großen hölzernen Marionetten sind es mehrere Hundert. Hinzu kommen mehrere Hundert Gipsmarionetten, die in der Vorkriegstschechoslowakei zwar industriell hergestellt wurden, aber trotzdem sehr schön sind. Und auch die Zahl der Marionettenköpfe ohne Körper geht in die Hunderte.“

Aber nicht nur die bloße Masse macht Vorels Marionettensammlung zu einem Erlebnis. Karolína Truhlářová ist Kuratorin der Ausstellung in Prag:

Karolína Truhlářová  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Es ist eine absolut einzigartige Sammlung. Ich hatte das Glück, dass ich mich vor etwa fünf oder sechs Jahren mit ihr vertraut machen konnte. Nach dem Tod von Jiří Vorel half ich Frau Vorlová, die Exponate zu sichten und zu sortieren und war dabei buchstäblich aus dem Häuschen. So viele schöne Marionetten einschließlich der vielen historischen Dokumente über das Puppentheater hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Eine vergleichbare Sammlung lässt sich meiner Meinung nach weder hierzulande noch anderswo in Europa finden.“

Wie eingangs gesagt, sind in der Ausstellung auch moderne Marionetten zu sehen. Karolína Truhlářová:

Sota Sakuma  (Foto: Scenofest)
„Es handelt sich um einen Querschnitt. Bei der Auswahl waren wir durch die Räumlichkeiten der Galerie beschränkt, und so fiel die Wahl letztlich nur auf die Stücke von sieben bildenden Künstlern aus der tschechischen Puppenspielszene. Jeder von ihnen vertritt einen eigenen Stil. Zu sehen sind unter Anderem ganz kleine Marionetten, quasi Miniaturen. Sie stammen vom japanischen Künstler Sota Sakuma, der in Prag tschechisches Puppenspiel studiert hat. Die Marionetten aller sieben Künstler gehören zu verschiedenen kleineren oder größeren Profi- und Amateurtheatern. Sie sind zugleich aber auch Kunstwerke.“

Buch „Die Marionette und die Moderne“  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
Mitte Dezember bildete die Marionettenausstellung in der Galerie Smečky auch den Rahmen für eine Buchtaufe. Marie Jirásková und Pavel Jirásek stellten ihr Buch „Die Marionette und die Moderne“ vor. Darin geben die Autoren einen Einblick in die tschechische Puppenspielkultur zwischen den Jahren 1900 und 1950. Die Autoren haben ihren Fokus auf Künstler der Avantgarde und der so genannten Moderne gerichtet. Diese Künstler haben sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von der Tradition der tschechischen geschnitzten Marionette und von den traditionellen Dekorationen abgewandt. Sie nutzten das Puppentheater für künstlerische Experimente. Das geschah vor allem in der Zwischenkriegszeit, doch das Fundament dafür wurde bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffen. Pavel Jirásek :

Pavel Jirásek  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Damals hat sich das Puppenspiel enorm verbreitet. Und zwar nach dem Motto: In jedes Dorf, in jede Klein- und in jede Großstadt gehört ein Puppentheater. Im tschechischen Puppenspiel kamen auch die Bestrebungen der nationalen Emanzipation zum Ausdruck. Das gilt bis in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Kinder wurden praktisch mit dem Puppentheater groß gezogen. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 1929, als sich im tschechischen Teil der Tschechoslowakei die Zahl der Puppentheaterhäuser mit regelmäßigen Vorstellungen auf rund 3000 belief.“

Und Marie Jirásková ergänzt:

„Während zuvor reisende Marionettenspieler die Szene prägten, begannen sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch Berufskünstler auf diesem Gebiet zu betätigen. Dazu gehörten jedoch nicht nur Bildhauer und Maler, sondern auch Literaten – sie trugen maßgeblich dazu bei, dass das Puppentheater eine hervorragende Dramaturgie erhielt.“

Die Liste der Namen ist lang. Stellvertretend ließe sich der Bildhauer, Kunstrestaurator, Kunstschnitzer und nicht zuletzt auch Puppenspielkünstler Vojtěch Sucharda nennen. 1920 gründete er das bekannte Prager Puppentheater „Říše loutek“ / „Das Reich der Puppen“, das er bis 1960 leitete. Gemeinsam mit seiner Frau Anna Suchardová-Brichová leitete er rund 300 Inszenierungen mit einzigartigen Puppen und originellem Bühnenbild. Heutzutage befinden sich seine Marionetten in den Sammlungen des Nationalmuseums. Auch Marie Jirásková und Pavel Jirásek schreiben in ihrem Buch unter anderem über das „Reich der Puppen“. Was zudem dort zu finden ist, dazu der männliche Teil des Autorenduos:

Marie Jirásková  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Das Buch umfasst 450 Seiten und enthält insgesamt 750 Bilder. Zum Teil sind das Originalfarbfotos, aber auch viele alte eingescannte Bilder, die ältesten stammen aus dem Jahr 1850. Sie zeigen auch die ersten Puppenabbildungen, die in verschiedenen humoristischen Zeitschriften abgedruckt oder auf Plakaten abgebildet wurden. Es geht also um eine komplexe Erfassung der Puppenspielkunst jener Zeit. Im Buch befassen wir uns zum Beispiel auch mit den Puppen als Spielzeug. Diese waren wichtig bei der Erziehung der Kinder, um die Puppenspielkultur zu verstehen.“

Bei der Lektüre des neuen Buches bekommt man ein Bild vom einmaligen Wandel des tschechischen Puppenspiels innerhalb von nur 50 Jahren. Vom Historismus des 19. Jahrhunderts, dem nachfolgenden Jugendstil, über impressionistische und expressionistische Ausschweifungen, den Kubismus bis hin zum Funktionalismus oder dem aufpolierten Styling einer modernen Show.

Marie Jirásková (1964) und ihr Mann Pavel Jirásek (1963) aus dem südmährischen Brno / Brünn sind nicht nur Buchautoren, sondern haben sich auch als renommierte Künstler mit einem breiten Aktionsradius in der tschechischen Kulturszene etabliert. Jirásková ist als freischaffende bildende Künstlerin tätig und arbeitet mit einer Reihe tschechischer und ausländischer Theaterbühnen zusammen. Dazu gehörte zum Beispiel 1993 auch das Figurentheater Wolfsburg. Jirásek ist Musikologe, Dokumentarfilmer, aber auch Schriftsteller und Poet. Und zusammen schreiben sie nicht nur über Marionetten. Marie Jirásková:

„Mein Mann und ich sammeln seit 25 Jahren Marionetten. Unser Schwerpunkt ist das Puppenspiel als Familientheater. In den letzten Jahren haben wir unsere Sammlung um Marionetten der Moderne aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erweitert, auf die wir in uns auch in unserem Buch konzentriert haben.“

Daher auch kein Wunder, dass eine weitere Ausstellung neben der in Prag die Marionetten von Marie Jirásková und Pavel Jirásek zeigt: „Clowns, Teufel und Kasper“ so der Titel der Schau, die im städtischen Museum Karlovy Vary / Karlsbad noch bis 2. Februar zu sehen ist.