Radiomachen in Kriegszeiten: Die Ukraine als ein Themenschwerpunkt auf den Radiodays Europe in Prag

Am Dienstag sind die Radiodays Europe in Prag zu Ende gegangen. Europas größter Kongress, bei dem alljährlich aktuelle Fragen rund um Radio, Audio und Podcast diskutiert werden, gastierte zum ersten Mal in Tschechien. Wenig überraschen dürfte, dass während der zweieinhalbtägigen Konferenz auch das Thema Ukraine-Krieg allseits präsent war. So wurden nicht nur Beispiele für die Kriegsberichterstattung in der tschechischen Rundfunklandschaft gegeben. Auch zum Radiomachen in der Ukraine selbst bekamen die Besucher bewegende Einblicke.

René Zavoral | Foto: Khalil Baalbaki,  Tschechischer Rundfunk

Zum 14. Mal fanden die Radiodays Europe inzwischen schon statt. Ursprünglich eine Initiative der skandinavischen Länder, hat die jährliche Konferenz bisher nur in westeuropäischen Städten gastiert. Nun kam die Reihe an Prag. Ein Anlass dafür sei gewesen, dass der öffentlich-rechtliche Tschechische Rundfunk in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag feiert, sagte Generaldirektor René Zavoral im Interview mit Radio Prag International:

„Ein weiterer Grund war, dass der Tschechische Rundfunk nicht nur in der Europäischen Rundfunkunion, sondern allgemein in Europa als sehr aktiver Player angesehen wird. Zudem gilt er als eine Einrichtung, die historisch bereits einen langen Weg zurückgelegt hat. Dem Rundfunk wurde als Medium schon oft das Ende vorhergesagt, etwa als das Fernsehen aufkam. Dem ist aber nicht so. Ich glaube, und das ist nicht nur meine Meinung, dass das Radio und allgemein der Audiobereich immer noch eine große Zukunft vor sich haben. Nicht umsonst sagen wir ‚100 Jahre sind erst der Anfang‘.“

Foto: Daniela Honigmann,  Radio Prague International

Damit verweist Zavoral auf das Motto der diesjährigen Jubiläumsfeiern im Prager Rundfunkhaus.

Die Organisatoren der Radiodays Europe haben die Konferenz in diesem Jahr zum ersten Mal überhaupt in einem Land Mittel- und Osteuropas stattfinden lassen. Von Anfang an habe die Veranstaltung aber Radiomacher auf dem ganzen Kontinent angesprochen, betont Martin Liss. Der Audio-Unternehmer, Berater und Moderator ist als Mitglied der deutschen Radiozentrale seit mehreren Jahren an der Programmgestaltung der Radiodays Europe beteiligt:

„Es gab schon immer reichlich Teilnehmer aus Osteuropa. Vor dem Krieg in der Ukraine waren auch sehr viele Russen dabei und Ukrainer sowieso. Und aus den Balkanstaaten kommen ebenfalls immer schon einige Kolleginnen und Kollegen. Die Radiodays sind zu 70 Prozent eine Entscheiderveranstaltung. Hier springen vor allem Programmdirektoren, Vertriebsleiter, Geschäftsführer, Intendanten oder Abteilungsleiter herum. Und diese stammen auch aus den östlichen Ländern. Man spürt jetzt aber, dass manche nicht kommen, weil es diesen Krieg gibt. Das ist schlimm genug. Denn – wie man auf so einer Veranstaltung merkt – unsere Comunity leidet, wenn ein Teil von ihr nicht dabei sein kann.“

Andriy Taranov | Foto: Daniela Honigmann,  Radio Prague International
Foto: Daniela Honigmann,  Radio Prague International

In diesem Jahr dabei war aber Andriy Taranov. Das Vorstandsmitglied der ukrainischen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt Suspilne war bei den Radiodays Europe im vergangenen Jahr noch über Video aus dem Kiewer Luftschutzbunker zugeschaltet. Am Dienstag berichtete er dann persönlich auf großer Bühne anschaulich über die Arbeit der Radiomacher in Kriegszeiten und zeigte einige Fotos:

„Auf diesem Bild stehe ich vor dem zerstörten Sendemast in Cherson, der von den Russen bei ihrem Rückzug aus der Stadt gesprengt wurde. Sie griffen schon in den ersten Kriegstagen die TV- und Radioinfrastruktur an, der Hauptsendemast in Kiew wurde gleich am dritten Tag getroffen. Dabei waren zwei Raketen abgeschossen worden. Eine, die dem nahegelgenen Rundfunkhaus galt, ging daneben. Aber der Mast wurde getroffen, und dabei wurden fünf Menschen getötet, die gerade im Park spazieren gingen.“

Senden aus dem Luftschutzbunker

Foto: Daniela Honigmann,  Radio Prague International

Obwohl er persönlich noch vor dem 24. Februar 2022 nicht daran geglaubt habe, dass die russischen Truppen die Ukraine tatsächlich angreifen würden, seien bei Suspilne natürlich schon Notfallpläne ausgearbeitet worden, fuhr Taranov fort. Gleich in den ersten Kriegstagen habe man dann eine provisorische Ausrüstung in einen Luftschutzbunker in Kiew verlegt und ein Reservestudio in Lwiw eingerichtet. Die Hauptaktivitäten hätten sich auf die Dezentralisierung der Sendetechnik konzentriert, so Taranov:

„Wir haben während eines Jahres Studios für Fernseh- und Rundfunkübertragungen in den Bunkern fünf großer Städte eingerichtet. Wenn es Luftalarm gibt, schalten die Moderatoren im Sendehaus kurz Werbung ein, gehen in den Bunker und sind nach fünf Minuten wieder live auf Sendung.“

Foto: Daniela Honigmann,  Radio Prague International

Kiew sei inzwischen sicher genug, um dort wieder zu leben, fügt Taranov hinzu. Dennoch gebe es täglich zwei- bis dreimal Luftalarm, der jeweils eine halbe bis zu zwei Stunden dauere. Auch die Stromversorgung, die in den ersten Kriegsmonaten mehrmals am Tag unterbrochen wurde, sei nun wieder stabil. Das Mobilfunknetz sei in der ganzen Zeit hingegen nie zusammengebrochen und ermögliche die dauerhafte Sendung über Telefon-Apps und Digitalformate, erläutert der Ukrainer. Dennoch habe das klassische Radio in dieser Lage wieder an Bedeutung gewonnen:

„Das Radio ist in diesem Moment ein hervorragendes und wichtiges Medium. Vor dem Krieg gab es noch eine breite Diskussion über den AM-Rundfunk auf Mittelwellenband. Es gab Pläne, ihn abzuschalten, weil er von niemandem mehr gehört wurde. Jetzt steigt die Zahl der Mittelwellen-Empfänger wieder. AM-Rundfunk ist für mich mit einem Feuermelder vergleichbar: Man braucht ihn nicht, bis einmal ein Feuer ausbricht. Es mag sehr altmodisch scheinen, aber die Mittelwelle war jene Frequenz, mit der wir Millionen Menschen erreichen konnten, die auf der Flucht waren und nur eingeschränkte Möglichkeiten hatten, UKW-Rundfunk zu empfangen.“

Foto: Daniela Honigmann,  Radio Prague International

Immer stehe bei der Arbeit die persönliche Sicherheit der Mitarbeiter, vor allem die der Außenreporter, im Vordergrund, betont Taranov. Ebenso würde aber die Nachrichtenübermittlung eine lebenswichtige Rolle für die Sicherheit der Hörer darstellen. Denn man könne den Menschen mitteilen, welche Aufenthaltsorte zu meiden sind oder wie sie sich in Notfällen verhalten sollten. Zudem sei es nötig, die Moral in der Bevölkerung aufrechtzuerhalten:

„Ich war noch neu im öffentlichen Rundfunk und kam erst drei Wochen vor Kriegsbeginn dazu. Es hat mich sehr beeindruckt, wie das Team von hunderten Leuten zusammenhielt und weiter seinen Job machte. Niemand hat die Arbeit infrage gestellt und jeder tat, was er konnte. Inzwischen realisieren wir auch eine Menge kulturbezogener Projekte, um den Menschen zu zeigen, dass es weiter geht. Dabei gibt es viel Pop-Art und Kunst, die sich mit dem Krieg beschäftigt und die sogar witzig ist.“

Korrespondent in der Ukraine: Passiver Reporter oder Akteur?

Martin Dorazín in seiner Videobotschaft | Foto: Daniela Honigmann,  Radio Prague International
Martin Dorazín | Foto: Tschechischer Rundfunk

Eine ähnlich beeindruckende Arbeit wie das Team von Suspilne leistet Martin Dorazín. Seit Januar 2022 ist er der ständige Ukraine-Korrespondent des Tschechischen Rundfunks und liefert fast täglich Berichte aus den Kampfgebieten. Für die Radiodays Europe hatte Dorazín eine Videobotschaft vorbereitet. Seine Arbeit erlaube es ihm nicht, besonders oft in sein Heimatland zu reisen, so seine Entschuldigung. Die Umstände seiner Arbeit beschrieb er wie folgt:

„Die Frage lautet, wie sich ein Journalist in dieser Lage verhalten sollte. Wo verläuft die Grenze zwischen Objektivität und Propaganda – auch wenn die Propaganda eine gute Absicht hat? Dazu werden sicher einmal viele Bücher und wissenschaftliche Abhandlungen geschrieben werden. Aber wir müssen diese Frage sofort beantworten, denn die Redakteure und Radiohörer warten nicht auf eine Lösung. Ich versuche, objektiv zu sein. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht auf der Seite der leidenden Menschen und ihrem Land stünde. Denn sie verteidigen universelle Werte, die von Russland zerstört werden.“

Filip Nerad | Foto: Jana Přinosilová,  Tschechischer Rundfunk

Dies erläuterte Filip Nerad noch näher. Er ist der Chef der Auslandsredaktion des Tschechischen Rundfunks:

„Die neue Herausforderung für uns ist die Definition der Rolle des Kriegsberichterstatters. Denn es gibt viel Leiden in diesem Konflikt, und der Journalist ist ein direkter Zeuge davon. Soll er also ein passiver Reporter bleiben oder zum Akteur werden? Martin Dorazín wurde in einem Beispiel zum Beteiligten, als er die Bombardierung eines Hauses direkt miterlebte. Mit seinen Kollegen begann er, das Gebäude zu durchsuchen, um möglichen Opfern zu helfen. Bei der Frage nach dem richtigen Verhalten nimmt Martin jetzt beide Rollen ein: In der einen Hand hält er das Aufnahmegerät, mit der anderen Hand leistet er Hilfe.“

Die Berichterstattung aus dem Land selbst sei aber noch nicht alles, womit die Ukraine und ihre Menschen beim Tschechischen Rundfunk vertreten seien, unterstreicht Generaldirektor Zavoral:

„Wir helfen seit Kriegsbeginn, etwa durch die Verbreitung der Sendungen des ukrainischen Rundfunks. Zudem wurden spezielle Podcasts erstellt. Und im Mai wird unser Auslandssender Radio Prague International eine Webseite auf Ukrainisch einrichten für jene Menschen, die jetzt in Tschechien leben. Außerdem haben wir den ukrainischen Rundfunk mit Technik ausgestattet, damit er in diesen schweren Zeiten weiter senden kann.“

Foto: Daniela Honigmann,  Radio Prague International

Um diese Kooperation zu formalisieren, haben Zavoral und Taranov bei den Radiodays Europe am Montag eine Vereinbarung unterschrieben…

„Dies ist aber nicht nur eine Formalität. Wir haben mit der Führung des ukrainischen Rundfunks auch einen Austausch von Nachrichten und publizistischen Beiträgen verabredet. Außerdem soll die ukrainische Kultur stärker in Tschechien vorgestellt werden. Die hiesige Gesellschaft soll die Ukraine nicht nur durch den kriegerischen Konflikt kennenlernen, sondern auch durch die reiche Kultur und die große Geschichte des Landes.“

Und auch bei Radio Prag International wird das Thema Ukraine präsent bleiben. Denn wie uns Rundfunk-Profi Martin Liss im Interview bestätigte, würden wir beim deutschsprachigen Publikum damit einen Nerv treffen:

„Ich glaube schon, dass der Krieg in der Ukraine ein großes Thema ist, zu dem es immer noch ein riesiges Informationsbedürfnis gibt. Die Entwicklungen betreffen ja nicht nur den Krieg an sich, sondern auch alles, was drum herum passiert. Dies sind etwa die Diskussionen zu Waffenlieferungen oder – gerade vor ein paar Tagen – die angebliche Stationierung von Atomwaffen in Belarus. Da dies alles so nah an uns dran ist, gibt es nach wie vor auch ein großes Interesse zu erfahren, wie es bei jenen aussieht, die noch näher dran sind als die Deutschen selbst. Und das ist eben die Nachbarschaft. Man will einfach wissen, was bei den Nachbarn los ist.“

Das nehmen wir uns bei Radio Prag International gern zu Herzen.

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