Rettung vor Säurefraß für Bücher der Nationalbibliothek

Foto: ČTK Roman Vondrouš

Viele Bücher in der Tschechischen Nationalbibliothek sind in ihrer Existenz bedroht. Denn durch die sogenannte saure Hydrolyse sinkt der pH-Wert ihres Papiers. Dann wird es brüchig und kann zerfallen. Deswegen lässt die Nationalbibliothek die Werke nun gezielt entsäuern. Dafür muss sie diese aber ins bayerische Aschau schicken.

Foto: ČTK Roman Vondrouš

In den Archiven in Tschechien lagern Abermillionen Bände, und die absolute Mehrheit von ihnen ist nicht älter als 200 Jahre. Genau das macht sie aber zu einer gefährdeten Art. Martin Kocanda ist Direktor der Tschechischen Nationalbibliothek in Prag:

Martin Kocanda  (Foto: Martina Schneibergová)
„Es handelt sich praktisch um die ganze moderne Produktion an Schriften, beginnend mit dem 19. Jahrhundert. Paradoxerweise sind die älteren Bücher nicht so sehr gefährdet wegen der anderen Struktur ihres Papiers.“

In der Nationalbibliothek selbst gehören 7,3 Millionen Bücher zum sogenannten neuzeitlichen Bestand, davon sind 90 Prozent vom Säurefraß bedroht. Einige seien schon nicht mehr zu retten, sagt der Direktor. Das haben die neuesten internen Erhebungen ergeben.

„Die Kollegen von der Abteilung zum Schutz der Bücherfonds messen regelmäßig den Säuregrad des Papiers in unseren Beständen. In den vergangenen Monaten haben sie festgestellt, dass die Lage sehr viel schlimmer ist, als wir bisher angenommen hatten. Das heißt, die ph-Werte liegen um einiges niedriger als erwartet. Deswegen mussten wir sofort handeln“, so Kocanda.

Wenn der ph-Wert sinkt

Doch wie wird der ph-Wert ermittelt? Petra Vávrová leitet die Abteilung zum Schutz der Bücherfonds. Gegenüber dem Tschechischen Fernsehen erläuterte sie das Vorgehen:

Foto: ČTK Roman Vondrouš
„Man braucht dafür etwas destilliertes Wasser, dann legen wir eine ph-Elektrode an das Papier. Und auf dem ph-Meter verfolgen wir, wo sich der Wert einpegelt.“

Es ist eine Ortschronik aus dem Jahr 1931, die Vávrová gerade überprüft. Und der ph-Wert sinkt immer weiter ab…

„Das heißt, dass wir hier schon in einem sehr sauren Bereich angelangt sind. Der ph-Wert liegt unter vier. Das Buch muss also zur Entsäuerung“, sagt Vávrová.

Bei mehr als 10.000 Büchern in der Nationalbibliothek erreicht der ph-Wert des Papiers nicht einmal mehr 3,5. Deswegen hat diese Institution vor kurzem Alarm geschlagen. Dadurch gewährte das Kulturministerium eine zusätzliche Finanzspritze. Damit können zumindest die derzeit bedrohten Bände gerettet werden. Sie sind vergangene Woche nach Deutschland zur Massenentsäuerung geschickt worden.

Warum aber sind ältere Bücher längst nicht so sehr vom Zerfall bedroht? Das liegt daran, dass Papier von früher nicht viel zu tun hatte mit der heute gängigen Vorstellung von dem Produkt. Es wurde nämlich aus Lumpen hergestellt, den Hadern. Diese waren aus Leinen, Flachs oder Schafwolle. Aber schon im 18. Jahrhundert ließ der Bildungseifer die Nachfrage nach Papier stark ansteigen. Die Hadern wurden ein äußerst knappes Gut. Deswegen suchte man nach neuen Möglichkeiten der Fertigung des wichtigsten Schreibutensils. Der Durchbruch kam 1843. Da erfand Friedrich Gottlob Keller den sogenannten Holzschliff. Sein Verfahren erwies sich als billig, und die Bestände der Wälder galten praktisch als unerschöpflich. Allerdings hatte man ab da die Selbstzerstörung direkt im Bücherschrank – und heute auch in den Archiven. Martin Kocanda:

Foto: ČTK Roman Vondrouš
„Gerade im 19. Jahrhundert wurde mit einem anderen Verfahren zur Papierherstellung begonnen. Nach und nach wurden dem Produkt mehr Holzbestandteile zugeführt. Dadurch kommt es aber zur sogenannten sauren Hydrolyse. Falls dieser Prozess nicht gestoppt wird, zerfällt am Ende das Papier komplett, so dass nur noch Staub übrigbleibt. Diese Entwicklung kann unterschiedlich lang sein. Manchmal sind es mehrere Jahrzehnte, aber bei den Büchern aus dem 19. Jahrhundert eben auch 200 Jahre.“

Allerdings zerfallen eigentlich auch zum Beispiel Leinenfasern. Bis ins 18. Jahrhundert wurden die Lumpen aber vor der Verarbeitung noch kräftig in Kalk und Wasser eingelegt. Das hatte erst einmal hygienische Gründe, entzog jedoch auch die Säure. Spätestens im 19. Jahrhundert verzichtete man darauf, und selbst das Hadernpapier wurde damit schon schlechter. Im Holz wiederum ist das sogenannte Lignin die saure Komponente. Dazu kommen weitere Beimischungen wie Alaun, die die Lebensdauer des Papiers reduzieren.

Vergängliche Holzfasern

Um ihre Bestände zu retten, muss die Tschechische Nationalbibliothek diese derzeit noch ins Ausland schicken. Denn hierzulande ist eine Entsäuerung bestenfalls im Einzelblattverfahren möglich. Bei der Nitrochemie AG im bayerischen Aschau wird man aber auch mit großen Ladungen fertig, wie der Bibliotheksdirektor erläutert:

„Für den Auftrag in diesem Jahr zahlen wir ungefähr sechs Millionen Kronen. Dafür werden 4,5 Tonnen Bücher entsäuert. Natürlich ist es etwas ungewöhnlich, bei diesen das Gewicht zu messen. Aber der Preis ist je Kilogramm festgesetzt. Die Bände, die wir jetzt nach Deutschland geschickt haben, sollten wir Anfang Oktober wieder zurückerhalten. Und zwar entsäuert, getrocknet und unversehrt.“

Sechs Millionen Kronen sind umgerechnet 235.000 Euro. Das zugehörige Verfahren nennt sich Massenentsäuerung. Bedeutet dies, dass die Bücher stapelweise in einer Flüssigkeit gewaschen und nachher getrocknet werden?

„Erstaunlicherweise kommt dies der Realität sehr nahe. Natürlich ist es nicht ganz so einfach, aber im Grunde handelt es sich um einen Prozess, den wir aus dem Chemieunterricht an der Schule noch kennen. Er nennt sich Neutralisierung. Das heißt, dass saure Papier muss in eine spezielle Lösung gelegt werden, die die Säureanteile darin neutralisiert. Das Wichtige ist, eine ausreichende Reserve an basischen Stoffen zu bilden, so dass es auch in die Zukunft hineinreicht. Denn die saure Hydrolyse in den nach 1800 gedruckten Büchern schreitet schleichend voran“, so Martin Kocanda.

Foto: StockSnap / Pixabay,  CC0
Im Übrigen sind hierzulande nicht nur die Bestände in der Nationalbibliothek bedroht. Ähnliche Sorgen quälen die Chefs von praktisch allen Büchersammlungen. Auch die meisten Einlagerungen im Nationalarchiv könnten in Zukunft zerfallen. Gerade deswegen gibt es mittlerweile Überlegungen, sich unabhängig zu machen vom Ausland.

„Wir haben einen Plan und wollen erreichen, dass wir in Zukunft wahrscheinlich zusammen mit unseren Kollegen aus der Slowakei eine eigene Entsäuerungsanlage aufbauen. Diese wäre dann für die Bedürfnisse von Institutionen sowohl in der Tschechischen als auch in der Slowakischen Republik da. Das würde nicht nur den ganzen Prozess billiger machen, sondern auch die Planungen vereinfachen. Zudem könnten wir mehr Bücher entsäuern.“

Außerdem wird bei der Entsäuerung der Zerfall nur für eine gewisse Zeit gestoppt. Tendenziell dürfte also irgendwann in der Zukunft eine weitere Behandlung notwendig werden – falls das dann überhaupt noch machbar ist…