Schaukelnder Ponton und Friedensbotschaft: Wie die neue Prager Gedächtnisglocke entstand
Am Sonntag wurde auf einem Ponton auf der Moldau in Prag eine Gedächtnisglocke feierlich enthüllt. Sie erinnert an mehrere Tausend Glocken, die vor 80 Jahren von den Deutschen beschlagnahmt und eingeschmolzen wurden. Bei der feierlichen Präsentation der neuen Glocke zugegen waren auch der Glöckner Kryštof Čižinský, der die Glockengestaltung entworfen hat, und Peter Grassmayr, in dessen Werkstatt in Innsbruck die Glocke für Prag gegossen wurde. Martina Schneibergová hat sich mit beiden unterhalten. Das Gespräch mit dem Glöckner Čižinský und mit dem Glockengießer Grassmayr hören Sie in der folgenden Ausgabe des Schauplatzes.
Herr Čižinský, wie haben Sie sich an der Entstehung der Gedächtnisglocke beteiligt?
„Ich habe zwei Rollen gehabt: Erstens bin ich Mitglied des Vereins Sanctus Castullus, der der Initiator war. Zweitens habe ich mich an dem finalen Entwurf für die Verzierung der Glocke beteiligt.“
Wie wurde die Glocke verziert?
„Es ging um den Sinn der Glocke. Sie soll an die während des Zweiten Weltkrieges eingeschmolzenen Glocken erinnern. Sie ist also eine Art von Mahnglocke. Ähnlich große Glocken, die ebenfalls draußen installiert sind, gibt es auch anderswo in der Welt, insbesondere in den Alpen. Es ist eine Friedensglocke, deren Klang zum Frieden aufrufen soll. Die Verzierung besteht aus zwei Teilen: Der erste Teil – ich nennen ihn den ,alten Teil‘ – beinhaltet Fragmente von Darstellungen, die sich auf jenen Glocken befanden, die zerstört wurden. Wir haben im Archiv gesucht und deswegen Fotos zur Verfügung gehabt. Man kann die einzelnen auf der Glocke dargestellten Fragmente konkreten Glocken zuordnen. Der zweite Teil ist sozusagen neu und verbindet das Ganze. Die alten Bruchstücke sind traditionell gestaltet, der neue Teil ist eher schlicht. Zu sehen ist dort eine Abbildung der Libeň-Brücke. Diese Brücke befindet sich in der Nähe der Rohan-Insel, auf der damals die beschlagnahmten Glocken gesammelt wurden. Sie ist also eine Zeitzeugin. Zudem hat die Glocke eine Inschrift und einen Friedensaufruf – den alten ambrosianischen Wechselgesang ‚Pax in celo, pax in terra‘.“
Waren Sie dabei, als die Glocke gegossen wurde? Haben Sie den Entstehungsprozess in der Werkstatt mitbeobachten können?
„Ja. Ich war zwischendurch dreimal in der Werkstatt. Einmal haben wir den Glockengießern anhand von Bildern und Entwürfen unseren Auftrag erklärt. Das zweite Mal fuhren wir dort hin, als die Verzierungen aus Wachs auf die falsche Glocke – falsche Glocke ist ein Fachausdruck – geklebt wurden. Das dritte Mal waren wir beim Guss dabei. Aber der Guss ist bereits ein feierlicher Moment, der das Ganze abschließt. Und das vierte Mal waren wir beim Öffnen der Form. Das war sehr spannend. Meine Rolle endete natürlich mit den Wachsverzierungen auf der falschen Glocke.“
Wo in Prag sind Sie als Glöckner tätig?
„Ich gehöre zu einer Glöcknergruppe. Wir nennen uns Altstädter Glöckner, wobei wir in der Teynkirche, der Gallus-Kirche, der Castullus-Kirche sowie ab und zu in der Hl.-Geist-Kirche und der St.-Ägidius-Kirche läuten. Es gibt natürlich auch weitere Gruppen, beispielsweise eine große im Veitsdom. Diese beiden sind die größten Gruppen in Prag. Ich läute Glocken, wenn ich dran bin. Wir haben eine Liste zusammengestellt, wo, wann und wer läuten soll. Es ist ein Super-Hobby.“
Was muss man mitbringen, um Glöckner zu werden?
„Man sollte erstens Glocken gern haben. Zweitens ist es gut, wenn man Zeit hat und nicht allzu weit weg wohnt. Denn manchmal muss man schnell läuten gehen. Zudem ist es von Vorteil, wenn man musikalisch ist und Sinn für Rhythmus und Ton hat. Denn ein Glöckner muss die ganze Zeit der Glocke gut zuhören. Beim Läuten geht es außerdem um die Sicherheit – dass man das Läuten überlebt. Und es geht um das Überleben der Glocke. Wenn jemand falsch läutet, kann er sie zerstören.“
Wie war es heute, die Gedächtnisglocke auf einem Ponton auf der Moldau zu läuten? War das schwieriger als in einer Kirche?
„Es war ein bisschen ein Rätsel und ein Abenteuer. Wir wussten im Voraus wirklich nicht, ob die Glocke wirklich klingen wird, ob der Klöppel ankommt. Das war die Frage. Normalerweise ist die Glocke in einem Glockenstuhl gesichert, das kann man gut berechnen. Aber auf einem Ponton zu läuten hat niemand vor uns ausprobiert, soviel wir wissen. Das Resultat ist, dass das Wasser dem Klöppel ein bisschen hilft, das heißt, der Klöppel kommt sehr gut heran, die Glocke klingt gut, aber sie bewegt sich wesentlich weniger. Der Läutewinkel ist viel kleiner, als er für diese Glocke kalkuliert worden ist. Wenn man stärker am Glockenseil zieht, schwingt nicht die Glocke mehr, sondern der Ponton beginnt zu schaukeln – und zwar ein Meter nach links und rechts bei jedem Schwung. Aber Gott sei Dank läutet die Glocke, und sie klingt gut. Man muss nur schauen, das man das Gleichgewicht bewahrt.“
Hatten Sie überhaupt die Möglichkeit, das vorher zu testen?
„Wir haben es einmal nur ganz kurz in den Docks in Mělník getestet, wo der ganze Glockenstuhl auf den Ponton gestellt wurde.“
Die Glöckner haben sich beim Läuten auf dem Ponton abgewechselt. War das schon vorher so vereinbart?
„Durchaus. Wir wollten zehn Minuten lang läuten. Wenn man eine so große Glocke zum Schwingen bringt, ist das eine physische Leistung, die müde macht. Es ist immer gut, wenn man sich abwechseln kann.“
Wird die Öffentlichkeit auch in den nächsten Tagen die Möglichkeit haben, die Glocke zu hören?
„Am heutigen Tag (Sonntag, Anm. d. Red.) wurde schon zweimal geläutet. Am 2. September ist ein öffentliches Konzert zur tschechischen EU-Ratspräsidentschaft geplant, und wir sollen dieses mit Glockengeläut eröffnen. Die Vertreter der EU-Länder haben also auch die Möglichkeit, die Stimme der Friedensglocke zu hören.“
Herr Grassmayr, diese Gedächtnisglocke ist nicht die erste Glocke, die in Ihrer Werkstatt für Prag gegossen wurde. Wann haben Sie von diesem Auftrag erfahren?
„Wir haben schon vor mehreren Jahren einige Glocken nach Prag geliefert. Mittlerweile läuten bereits sechs Glocken von uns in Prag, die nach dem Zweiten Weltkrieg gegossen worden sind. Vor dem Ersten Weltkrieg haben mehrere Glocken aus unserer Werkstatt in Prag geläutet, aber diese wurden dann im Krieg zerstört. Wegen der großen Rohan-Glocke führte mein Bruder vor etwa einem Jahr Gespräche mit den Auftraggebern. Das ist dann alles sehr schnell gegangen, weil genau heute (28. August, Anm. d. Red.) vor 80 Jahren ist die letzte Glocke aus Prag deportiert worden, um einzuschmelzen. Es ist ganz speziell, dass die neue Glocke heute zur Erinnerung an die zerstörten 9801 Glocken eingeweiht wurde.“
Was waren die Forderungen der Prager an Sie – wie sollte die Glocke aussehen?
„Den Entwurf hat Kryštof Čižinský aus Prag gemacht, der Glöckner ist. Zusammen mit Ondřej Boháč, dem Hauptinitiator, hat er uns Entwürfe vorgelegt. Wir haben bei uns drei Bildhauer beschäftigt, und die haben genau nach diesen Vorgaben die Verzierungen gestaltet. Auf einem Teil der Glocke gibt es Verzierungen, die nach Originalbildern von einigen der zerstörten Glocken modelliert wurden. Bei dieser großen Glocke bedeutete dies mehrere Monate Arbeit – vom Beginn bis zur Auslieferung. Die Glocke hat zwei Seiten: eine mit historischen Verzierungen und eine sozusagen neue Seite mit einem Text. Dabei ist der Text ‚Pax in terra‘ – Friede auf Erden – hinzugekommen, als der Ukraine-Krieg begann. Er wurde als Symbol eingefügt. Denn es gibt nichts Wichtigeres als Frieden.“
Was bedeutet das Wappen auf der Glocke?
„Das ist das Grassmayr-Familienwappen, auf dem ein Drache ein Grasbüschel und eine Glocke in der Hand hält. Auf Tschechisch steht dort, dass die Glocke im Jahre 2022 in Innsbruck gegossen wurde. Auf der anderen Seite der Glocke ist das Hauptbild – der Heilige Wenzel, der optisch aus Bruchstücken zusammengesetzt wurde. Links oben steht PP 9801. Die Abkürzung bedeutet ,Distrikt Prag‘. Da die Nazis alles katalogisiert haben, heißt das, dass sie im Distrikt Prag 9801 Glocken zerstört haben. Auf der rechten Seite ist Jan Hus, der für Prag sehr prägend war. Ganz oben ist auf der neuen Seite die Brücke abgebildet, in deren Nähe damals die Glocken gelagert waren, bevor sie dann abtransportiert wurden. Ganz nett ist, dass über die Brücke auch eine Straßenbahn fährt, es sind also einige kleine Gags mit eingebaut. Der Klöppel ist geschmiedet. Es wurde berechnet, dass er genau zu dieser Glocke passt und schön läutet.“
Sie haben die Glocke bestimmt nicht hier zum ersten Mal gehört…
„Wir haben sie natürlich schon in der Firma angeschlagen, weil ich den Ton genau analysieren musste. Es ist ungewöhnlich, dass die Glocke auf dem Fluss installiert ist, das war eine zusätzliche Herausforderung. Das Allerwichtigste ist, dass dieser Klang rund um den Erdball schwingen und für Frieden und Freiheit läuten soll.“
Die Friedensglocke ist bis Ende September auf einem Ponton am Smetana-Kai am rechten Moldauufer zu sehen. Künftig soll sie auf der Rohan-Insel platziert werden.