„Sicherheit über die eigene Identität“ – Tomáš Lindner berichtet über den Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland

Tomáš Lindner (Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag)

Tschechische Medien bewerten den deutschen Umgang mit der Flüchtlingskrise überaus kritisch. Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Eritrea werden hierzulande häufig als Sicherheitsrisiko betrachtet, und nicht erst seit den Anschlägen von Paris werden Deutschland und Kanzlerin Merkel Naivität vorgeworfen. Eine Ausnahme im Mainstream ist die Wochenzeitschrift Respekt aus Prag. Der Journalist Tomáš Linder macht sich zumeist vor Ort ein Bild. Mit differenzierten Berichten vermittelt er deutschen Flüchtlingsalltag an tschechische Leser, die selbst kaum Erfahrungen mit Migranten haben.

Tomáš Lindner  (Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag)
Herr Lindner, sie waren vor kurzem auf einer Rundreise durch Deutschland. Dabei wollten sie der Frage auf den Grund gehen: Schafft es Deutschland die Flüchtlingskrise zu bewältigen. Zu welchem Schluss sind sie gekommen?

„Zu dem, dass es noch zu früh ist für Schlussfolgerungen. Doch ich bin Optimist, und es gibt zwei Gründe, warum ich es auch derzeit bin. Zum einen glaube ich, dass Deutschland eine sehr gute politische Elite hat – obwohl meine deutschen Freunde in meinem Alter vielleicht anderer Meinung sind. Gerade im Vergleich zum Spitzenpersonal verschiedener Parteien in Tschechien sind das kompetente Leute mit Weitblick, finde ich. Wer soll es denn schaffen, wenn nicht diese Politiker. Der zweite Grund, der mich optimistisch stimmt, ist die Zivilgesellschaft. Es ist wunderbar, dass sich in jedem kleinen Dorf in der Nähe eines Flüchtlingsheims Menschen engagieren und mithelfen. Das hat fast allen Menschen, mit denen ich gesprochen habe, Optimismus gegeben, dass es zu schaffen ist. Obwohl es eine riesige Herausforderung ist. Man muss sich natürlich fragen was es heißt, das zu schaffen. Zum einen müssen die Menschen, die bleiben, gut integriert werden. Zweitens muss die hohe Anzahl von Flüchtlingen, die nach Deutschland kommt, kleiner werden. Um eine europäische Lösung zu finden, müssen auch andere europäische Länder mithelfen.“

“Die Zivilgesellschaft in Deutschland stimmt mich optimistisch.“

Welche Orte haben sie besucht, und welche regionalen Unterschiede sind ihnen aufgefallen?

„Möglicherweise hätte ich ganz andere Eindrücke, wenn ich mir drei andere Orte angesehen hätte. Es ist schon sehr abhängig davon, welches Bundesland, welche Kommune man besucht. Ich war in Fischen an der bayerischen Grenze zu Baden-Württemberg. Dann war ich in Stuttgart, einer sehr liberalen, weltoffenen Stadt mit einem grünen Bürgermeister. Und in Halle an der Saale in Sachsen-Anhalt, also einer Stadt in der ehemaligen DDR. In Fischen, einer Kleinstadt mit 3000 Einwohnern im Allgäu, fand ich das Selbstbewusstsein der Menschen sehr beeindruckend. Sie sind sich ihrer eigenen Identität bewusst, sind dort verwurzelt. Dort kommen einfach neue Gäste an, denen man hilft. Man erklärt langsam, wie man bei ihnen lebt, und man schafft es als Gemeinde.

„In Halle muss man erst lernen wie man mit Migranten umgeht. In Stuttgart hat man jahrzehntelange Erfahrung.“

Stuttgart hingegen ist eine Stadt mit 600.000 Einwohnern, dort sind etwa 7000 Flüchtlinge - x-mal mehr als in ganz Tschechien. Dort fand ich interessant, dass jeder sagt: Die Flüchtlinge in der Stadt sind gar nicht zu spüren. Das Straßenbild hat sich nicht verändert, weil bereits viele Menschen mit Migrationshintergrund in der Stadt leben und gut integriert sind. Das fand ich interessant: Dass diese Krise nicht so zu sehen ist, wie man es sich oft vorstellt. In Halle war es genau umgekehrt. Dort hat mir jeder gesagt, dass sich das Stadtbild sofort verändert hat. Zuvor lebten dort nur wenige Ausländer mit außereuropäischem Hintergrund, und auf einmal sind ein paar Tausend Flüchtlinge auch im Zentrum der Stadt. Im Unterschied zu Stuttgart sind dort wenige Strukturen vorhanden. Man lernt erst, wie man mit dem Thema umgehen kann. In Stuttgart dagegen hat man schon jahrzehntelange Erfahrung mit Gastarbeitern, da ist viel Wissen über Integration vorhanden.“

Flüchtlinge auf der Grenzbrücke zwischen Österreich und Bayern  (Foto: Eweht,  CC BY-SA 4.0)
Sie haben selbst familiäre Wurzeln in der deutschen Minderheit in Tschechien und beschäftigen sich für Respekt seit Jahren mit Deutschland. Dennoch haben sie einen Blick von außen. Haben Sie nun Veränderungen in Deutschland wahrgenommen durch die Flüchtlingskrise?

„Überraschenderweise nicht. Ich habe meinen früheren Reisen schon eine Gelassenheit in der Gesellschaft gespürt – und nun wieder. Zum Beispiel habe ich im Juni verschiedene bayerische Dörfer besucht. Da gab es eine große Bereitschaft, den Neuankömmlingen zu helfen. Meinem Gefühl nach hat sich das nicht verändert. Auch die Menschen dort, oder diejenigen mit denen ich telefoniert habe, waren dieser Ansicht. Zwar sagen die Meinungsforscher, dass sich die Stimmung ändert. Doch vor Ort bekommt man wenig mit. Die meisten Freiwilligen, die vor einem halben Jahr aktiv waren, sind immer noch aktiv.“

“In Bayern geht man mit einer Sicherheit über die eigene Identität an die Flüchtlingskrise heran.“

Sie haben in einem Bericht danach Bayern und Tschechien auch ein wenig verglichen, die ländliche Struktur, und danach gefragt, warum die Wahrnehmung der Flüchtlingskrise in Tschechien dennoch ganz anders ist...

„Die ländliche Struktur vergleiche ich besser nicht. Ich denke, da wurde in den kommunistischen Jahrzehnten vieles kaputt gemacht. Es ging mir eher darum, dass man auf beiden Seiten eher konservativ ist, und auch vorsichtig gegenüber Fremden. In vielen Grundstimmungen sind sich Bayern, Böhmen und Österreich ziemlich ähnlich, denke ich. Bei meinem Besuch habe ich aber große Unterschiede festgestellt. Nämlich mit welchem Selbstbewusstsein die Bayern an das Thema herangegangen sind, mit welcher Sicherheit über die eigene Identität. Das war ein ziemlicher Kontrast zu der Angst, die in Tschechien präsent war und ist. Wir waren zum Beispiel bei einer Dorfversammlung in Gräfelfing. Da sollte ein Heim für Flüchtlinge gebaut werden, und die Bürger haben mit Vertretern der Verwaltung darüber diskutiert. Sie fragten einfach, wie sie praktisch mit anpacken können. Das fand ich sehr beeindruckend, und war für mich ein Zeichen von gesundem Selbstbewusstsein. Denn die Bürger dort waren keine jungen Multikulti-Idealisten. Das waren ältere, christliche geprägte Menschen mit einem Durchschnittsalter von etwa 60 Jahren.“

Foto: Rasande Tyskar,  CC BY-NC 2.0
In Deutschland kursiert gibt es ja das Wort Willkommenskultur. Denken Sie, dass sie tatsächlich existiert?

„Ich denke schon. Ich hoffe es. Natürlich ist es nur ein gewisser Ausschnitt der Bevölkerung. Wer als Journalist auf so eine Reise fährt, trifft natürlich mit größerer Wahrscheinlichkeit auf weltoffene, liberale Menschen. Die Unzufriedenen sieht man weniger, man kommt weniger ins Gespräch. Das ist ein gewisser Bias im Journalismus. Dennoch, wenn man sich die Zahlen der freiwilligen Helfer ansieht – das ist real. In Stuttgart gibt es 2000 bis 3000 Ehrenamtliche, die Migranten helfen wollen. Und auf der anderen Seite 7000 Flüchtlinge, das heißt, zwei bis drei Flüchtlinge kommen auf einen Helfer. Das ist für mich schon unglaublich, und ein Zeichen, dass diese Kultur etwas Reales ist.“

“Tschechien fehlt die alltägliche Erfahrung mit Migranten, die in Deutschland fast jeder hat.“

Woher kommt es, dass die tschechische Debatte so sehr bestimmt ist von Sicherheit? Und das nicht erst seit den Anschlägen von Paris.

„Tschechien ist ein sehr homogenes Land. Es war einmal ein kulturell reiches Land. Aber die Juden sind weg, die deutsche Minderheit ist weg. Heutzutage ist es eines der homogensten Länder in ganz Europa. Da fehlt natürlich viel von dieser alltäglichen Erfahrung mit Migranten, die in Deutschland fast jeder hat. Ich glaube, das spielt eine Rolle, dass dieses Thema auf die Sicherheits-dimension reduziert wird. Viele Menschen nehmen zum Thema Migration in Westeuropa eben nur diese TV-Bilder und Berichte über Probleme wahr, die oft mit Sicherheit zusammenhängen. Darum ist es leicht für Politiker, nur den Fokus darauf zu legen, finde ich.“

Illustrationsfoto: Europäische Kommission
Dabei hat Tschechien Erfahrungen mit Flüchtlingen. In den 1990ern während des Balkankrieges hat man das ja eigentlich in den Griff bekommen.

„Das stimmt. Aber die Zahlen der Flüchtlinge aus Bosnien und dem Kosovo waren nicht so hoch. Die Mehrheit der Gesellschaft ist gar nicht mit ihnen in Kontakt gekommen und hat sie nicht wahrgenommen. Es waren aber viel mehr als heute die vorgeschlagenen EU-Quoten für Tschechen. Ich glaube, in diesem Punkt haben wir ein Versagen der politischen Eliten, die den Menschen diese Zeit in Erinnerung rufen sollten. Dass man es eben schon einmal geschafft hat – und dass es damals auch Muslime waren. Aber hier fehlt eine Stimme, die das laut sagt.“