Spalten und Geld verdienen: Die Desinformationsszene in Tschechien
Die Themen Desinformation und Fake News beschäftigen die Öffentlichkeit vor allem seit der Corona-Pandemie – und das auch in Tschechien. Hierzulande wurde vor zwei Jahren noch gegen Maskenpflicht und Impfkampagne demonstriert. Heute richten sich die sogenannten regierungskritischen Proteste gegen die Sparpolitik oder die Ukraine-Hilfe. Oftmals handelt es sich aber um dieselben Personenkreise, die lautstark den Rücktritt von Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) fordern, antidemokratisch auftreten und die Authentizität seriöser Medien anzweifeln. Wir groß ist in Tschechien eigentlich die Bevölkerungsgruppe derer, die ihre Überzeugungen mit Fake News belegen? Und wie geht etwa der öffentlich-rechtliche Tschechische Rundfunk mit Desinformationen um?
Petr Jan Vinš beschäftigt sich aus einem eher ungewöhnlichen Hintergrund heraus mit dem Thema Desinformation. Als studierter Theologe und katholischer Priester befasste er sich zunächst mit religiösem Fundamentalismus. Später war Vinš beim Think Tank European Values tätig und ist nun Analytiker beim Prague Security Studies Institute (PSSI). Dort wertet er systematisch Fake News aus, die im tschechischen Raum verbreitet werden. Gegenüber Radio Prag International erläutert Vinš die aktuellen Trends:
„Es gibt zwei wichtige Themengruppen. Die Erste ist seit anderthalb Jahren der Krieg in der Ukraine. Die Zweite bewegt sich an der Grenze zwischen legitimer politischer Debatte und Desinformation: Dies sind die Aktivitäten, die sich gegen unsere Regierung richten. Beide Themen überschneiden sich teilweise.“
Im Gegensatz zur sogenannten regierungskritischen Bewegung seien die Desinformationen zum Ukraine-Krieg besser koordiniert, so die Analyse von Vinš:
„Wir können ganz klar sagen, dass zumindest ein Teil von diesen desinformatorischen Inhalten direkt oder indirekt aus Russland stammt und von dort koordiniert wird. Letztes Jahr haben wir in einem Projekt gemeinsam mit anderen Organisationen Desinformationen in Mittel- und Osteuropa ausgewertet. Da haben wir ganz klar gesehen, dass diese Inhalte nicht nur in Tschechien, sondern in der ganzen Region gezielt und koordiniert verbreitet werden. Das war zum Beispiel der Fall bei der Sprengung von Nord Stream 2. Diese Aktion war begleitet von einer Welle gezielter desinformatorischer Inhalte. Vor allem wurde da verbreitet, dass der Anschlag von US-amerikanischen Soldaten durchgeführt worden war.“
Nachrichten wie diese genauer zu recherchieren und Fake News mit Fakten zu widerlegen, ist die Aufgabe einer Gruppe von Redakteuren beim Onlineportal iRozhlas des öffentlich-rechtlichen Tschechischen Rundfunks. Jakub Grim ist einer von ihnen:
„Die Rubrik heißt ‚Ověřovna‘, was ich als Verifizierungsprojekt übersetzen würde. Es wird seit 2021 bei iRozhlas betrieben. Unser Chefredakteur hatte damals das Gefühl, dass es vor der Parlamentswahl im September des Jahres viele Desinformationen gab. Das Projekt begann mit gewissen Informationen in der Inlandspolitik während des Wahlkampfes. Am Anfang haben wir die Aussagen von Politikern überprüft. Weitere Anlässe gab es im Zusammenhang mit der Corona-Krise, und seit Februar 2022 auch mit dem russischen Krieg in der Ukraine.“
Dem Team von iRozhlas mangelt es an Themen nicht. Die Journalisten griffen entweder selbst Fake News auf, die ihnen im Internet begegnen, so Grim weiter. Oder sie würden durch Leserzuschriften auf bestimmte Desinformationen aufmerksam gemacht.
Zehn Prozent der Menschen sind antisystemisch
Inwiefern fallen Desinformationen nun aber in der tschechischen Gesellschaft auf fruchtbaren Boden? Umfangreiche soziologische Studien gibt es dazu noch nicht. Vielmehr arbeiten die verschiedenen Institutionen mit Schätzungen. Jakub Grim fasst die Erkenntnisse seiner Redaktion zusammen:
„Ungefähr zehn Prozent der Menschen in Tschechien sind stark antisystemisch. Weitere zehn Prozent sind leicht antisystemisch. Diese zweite Gruppe nutzt einerseits Fake-News-Medien, andererseits aber auch traditionelle und vertrauenswürdige Medien. Es lässt sich allerdings nicht sagen, welche Art von Menschen Fake News verbreiten oder lesen. Aus unserem Forschungsprojekt ‚Společnost nedůvěry‘ (Gesellschaft des Misstrauens) wissen wir nur, dass reichere Leute dies weniger tun.“
Jene Gruppe, die Grim leicht antisystemisch nennt, bezeichnen die Analysten des PSSI wiederum als gefährdet. Petr Jan Vinš schätzt die Zahl dieser Menschen größer ein als Grim:
„Man muss unterscheiden zwischen der Gruppe, die gefährdet ist und Fake News potentiell glaubt, und den Leuten, die auch wirklich regelmäßig Fake News konsumieren. Die erste Gruppe kann man auf ein Viertel oder ein Drittel der Bevölkerung schätzen. Bei jenen, die regelmäßig Desinformation konsumieren, kann es sich um zehn Prozent der Bevölkerung handeln. Das ist ja schon relativ viel. Denn selbst wenn diese Leute nicht demonstrieren gehen, haben sie immerhin das Wahlrecht und können dann auch die politische Situation beeinflussen.“
Allerdings gehen aber einige Tausend dieser Menschen regelmäßig auf die sogenannten regierungskritischen Demonstrationen, die hauptsächlich auf dem Wenzelsplatz in Prag stattfinden. Unter dem Motto „Česko proti bídě“ (Tschechien gegen das Elend) ertönt dort der mehr oder weniger freundliche Aufruf zum Rücktritt der Regierung, werden Reporter feindselig angegangen und Russland-Fahnen geschwenkt. Am Rande einer dieser Veranstaltungen im März versuchte eine Gruppe von Teilnehmern, sich Zugang zum Nationalmuseum zu verschaffen, um die dort hängende Ukrainefahne zu entfernen. Die Parallelen zum Sturm auf das Kapitol in Washington im Januar 2021 waren deutlich.
Eine kohärente politische Vision verbinde diese Demonstranten aber eher nicht, meint Analytiker Vinš:
„Das ist eine bunte Gruppe. Es wäre ein Fehler, sie einfach mit dem Label Desinformation zu markieren. Man muss versuchen, diese Leute zu verstehen, denn es steht teilweise auch ein legitimer politischer Diskurs dahinter. Natürlich muss man auch sagen, dass die Leute, die diese Ereignisse organisieren, ganz pragmatisch sind. Sie haben diesen regierungskritischen Protest quasi als ein Businessmodel erfunden. Man kann gut beobachten, wie sie mit diesen Aktivitäten Geld verdienen. Und das sind die gleichen Personen, die auch Protestaktionen in der Zeit der Corona-Pandemie organisiert haben, also gegen die Impfung und die Maßnahmen der Regierung. Bezüglich der Organisatoren habe ich kaum Sorge, sie als Desinformatoren zu bezeichnen. Bei den Teilnehmern hingegen ist das viel schwieriger.“
Ein ausgeprägtes politisches Interesse sehe er auf der Seite der Organisatoren nicht, fährt Vinš fort und verweist darauf, dass bisher keine etablierte Partei in die Proteste einbezogen sei. Vielmehr brächte das Anmelden von Demonstrationen durch Crowdfunding, T-Shirt-Verkauf oder direkte Spenden Geld ein. Und ähnlich verhalte es sich mit dem Betreiben entsprechender Webseiten und dem Schalten von Werbung, schildert der Analytiker.
Mit Desinformation die Gesellschaft spalten
Ob politische Ambitionen oder nicht – das Verbreiten von Desinformationen könne schwerwiegende Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt nach sich ziehen, warnt Jakub Grim:
„Das Schlimmste ist, dass Desinformationen das Vertrauen in die Demokratie und in das staatliche Establishment bedrohen können. Die Menschen schenken dann Institutionen wie dem Parlament und der Regierung oder auch Wissenschaftlern keinen Glauben mehr. Das ist die größte Gefahr.“
So lange eine Falschmeldung nur in einem geschlossenen Personenkreis kursiere, stelle sie eigentlich kein allzu großes Risiko dar, räumt Petr Jan Vinš ein. Wenn sie aber von Pseudomedien mit größerer Reichweite oder auch populistisch gesinnten Politikern weiterverbreitet wird, dann werde es wirklich gefährlich. Ein Ziel von Desinformatoren sei es nämlich, so viel Spaltung in der Gesellschaft wie möglich zu verursachen. Und weiter sagt Vinš:
„Eine Absicht ist auch, in der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, dass eigentlich alles Fake News sei und es überhaupt keine Wahrheit gebe. Diese komme also weder aus Russland, noch von unserer Regierung und auch nicht aus den Vereinigten Staaten. Alles sei einfach gelogen, und Einer sei wie der Andere. Und das ist das eigentlich Gefährliche. Wenn man nämlich in Resignation verfällt und glaubt, alles sei Propaganda und Lüge, dann gibt man die Wahrheit auf. Und das darf nicht passieren.“
Pläne für einen Regierungsbeauftragten wurden zurückgezogen
Nun stellt sich die Frage, welche Gegenstrategien wirksam sind und was die Verbreitung von Desinformationen tatsächlich eindämmt. In Tschechien etwa wurde bereits die Webseite „Sputnik News“ abgeschaltet, die Kreml-freundliche Nachrichten veröffentlichte. Dazu meint Analytiker Vinš:
„Ob das funktioniert, ist fraglich. Denn erstens werden dann neue Webseiten erstellt oder weiter auf Telegram kommuniziert. Und zweitens gibt dies den Desinformatoren eine Trumpfkarte in die Hand. Denn sie behaupten dann, ihre Meinungsfreiheit sei nicht respektiert worden und der Staat würde Zensur betreiben. Das ist natürlich nicht der Fall. Aber wir beobachten, dass diese Rhetorik von Freiheit paradoxerweise von den Desinformatoren ganz stark betrieben wird.“
Um im Bilde über die Aktivitäten der Desinformationsszene zu bleiben, brauche es vor allem ein systematisches Monitoring, betont Vinš. Dann könne man frühzeitig in Trends eingreifen und selbst Themen setzen. Denn das Tempo spiele bei der Bekämpfung von Desinformationen eine wichtige Rolle…
„Das zeigt etwa ein Beispiel angewandter Praxis aus Taiwan. Dort gibt es auf der Ebene von Regierung und Armee ein großes Zentrum, in dem Desinformationen analysiert werden, die vor allem aus China kommen. Oft schaffen sie es, einen Gegeninhalt zu verbreiten, noch bevor die Falschmeldung die Leute erreicht. Sie haben soziologische Studien erstellt. Wenn der Gegeninhalt zuerst und danach die Fake News gelesen wird, dann ist demnach die Resistenz viel größer als umgekehrt. Aber das braucht natürlich ein Monitoring und eine Einsatzbereitschaft rund um die Uhr. Und das haben wir im Moment hierzulande nicht. Es gibt nicht einmal eine ernstgemeinte strategische Kommunikation des tschechischen Staates.“
Der Analytiker verweist damit auf die gescheiterten Pläne eines Regierungsbeauftragten für Medien und Desinformation. Dieser sollte eigentlich im Frühjahr 2022 sein Amt antreten. Nachdem dessen Aktionsplan vor Verabschiedung im Kabinett an die Öffentlichkeit gelangte, nahm die Regierung von dem Vorhaben wieder Abstand. Derzeit fällt der betreffende Arbeitsbereich in die Kompetenz des Nationalen Sicherheitsberaters.
Für seriöse Medien werden somit Faktenchecks immer wichtiger. Der Tschechische Rundfunk hat in dieser Woche ein zweites Projekt namens „Společnost nedůvěry“ (Gesellschaft des Misstrauens) gestartet. Es geht einen Schritt weiter als die bestehende Rubrik „Ověřovna“ und zeigt auf, inwiefern Fake News und Konspirationstheorien in der tschechischen Gesellschaft verbreitet sind und welche Folgen sie haben. Im Team arbeiten auch Datenanalytiker und Soziologen der tschechischen Akademie der Wissenschaften mit. Redakteur Jakub Grim hat zudem eine klare Meinung dazu, was Journalisten und Medien ansonsten gegen Desinformationen tun können:
„Dafür habe ich drei Worte: verifizieren, überprüfen und erklären.“
Das Thema Desinformation greifen wir auch in drei öffentlichen Debatten auf, die Radio Prag International gemeinsam mit den Tschechischen Zentren in Berlin, München und Wien veranstaltet. Kommen Sie am Montag, den 19. Juni, in die Berliner Landeszentrale für politische Bildung oder am Mittwoch, den 28. Juni, in den PresseClub München und diskutieren Sie mit! Moderiert werden beide Veranstaltungen von Daniela Honigmann. Die Debatte in Wien wird im September stattfinden, über den genauen Termin informieren wir Sie.