Streit um die Rolle der Bürgergesellschaft / Reaktionen auf die Wahlen in NRW
In den tschechischen Medien wird seit einigen Tagen eine erhitzte Diskussion über die Rolle der Bürgergesellschaft geführt. Ausgelöst hatte sie der tschechische Präsident Vaclav Klaus. Auf der Europaratstagung in Warschau Mitte Mai warnte er vor der so genannten "Postdemokratie", zu der auch Nicht-Regierungsorganisationen gehörten, die Einfluss nehmen, ohne ein demokratisches Mandat zu besitzen. Auf diese Äußerung des Präsidenten reagierten einige führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, ausnahmslos ehemalige Dissidenten. In einem Brief warfen sie dem Präsidenten vor, das Engagement von Bürgern zu missachten und grund legende demokratische Prinzipien anzugreifen. Klaus wiederum hielt den Kritikern vor, sie würden die heutige Zeit nicht verstehen und seien unfähig, in einer freien Gesellschaft zu leben. Er habe mit seiner Äußerung nicht pauschal alle Nichtregierungsorganisationen gemeint. Das alles spielte sich auf den Meinungs- und Kommentarseiten der tschechischen Presse ab, und wir möchten Ihnen im folgenden zwei Standpunkte aus der Diskussion vorstellen - aus einer Diskussion, die allem Anschein nach noch längst nicht abgeschlossen ist.
"Die Feindseligkeit gegenüber nichtstaatlichen Organisationen ist nur ein Ausdruck dafür, dass sowohl rechte als auch linke Politiker keine allzu gut informierten und aktiven Bürger wollen. Es ist typisch, dass es äußerst schwierig war, in Tschechien das sogenannte Abkommen von Aarhus durchzusetzen, in dem den Bürgern das Recht auf Informationen über die Umwelt garantiert wird. Die linken Regierungsparteien betrachteten es als Bedrohung für die industrielle Entwicklung, die Rechte behauptete, es schränke die Unternehmensfreiheit ein. Und obwohl das Abkommen letztlich von der tschechischen Regierung akzeptiert wurde, ist der öffentliche Zugang zu Informationen immer noch eine sehr schwache Seite unserer Demokratie. Darin liegt der Kern des ganzen Problems. Die Politiker, mit dem Präsidenten an der Spitze warnen vor allem deshalb vor einer Bedrohung der Demokratie, weil sie selbst diejenigen sein wollen, die das ausschließliche Recht auf Einfluss und Information haben."
Als "Dialog von Tauben" charakterisiere Petr Vasek die Debatte am Mittwoch auf den Internetseiten des Medienservers"ceskamedia.cz" und führt weiter aus:
"Es ist nur eine weitere Epoche des 15 Jahre andauernden Streites über das Verständnis von Bürgergesellschaft, der sich seit der politischen Wende zwischen Vaclav Klaus und einem großen Teil der tschechischen Intellektuellen abspielt. Ein großes Problem dieses Streits ist, dass die einzelnen Seiten zwar aufeinander reagieren, sich aber nie einig werden. Denn beide messen der Bürgergesellschaft einfach eine unterschiedliche Bedeutung bei."
Beiden Seiten wirft der Autor mangelnde Bereitschaft zum Dialog vor und kommt am Ende des Kommentars zu dem Schluss:
"Dabei bräuchten wir eine sachliche Diskussion über zwei wesentliche Auffassungen der tschechischen Bürgergesellschaft so nötig wie das Salz zum Leben. Statt sinnloser Beleidigungen sollten wir z.B. darüber diskutieren, ob einige Institutionen aus dem dritten Sektor Geld vom Staat erhalten sollten oder ob einige Gewerkschaften ihre Kräfte nicht missbrauchen, indem sie den Rest der Gesellschaft erpressen. Diese und viele andere Fragen hängen schließlich direkt mit dem Niveau der tschechischen Bürgergesellschaft zusammen. Viel mehr als missverstandene Äußerungen und mürrische Reaktionen."
Themenwechsel: Das Wahldebakel der Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen vom vergangenen Wochenende hat auch für Tschechien eine gewisse Signalwirkung. Worin sie besteht, erläutert im Folgenden der Journalist Lubos Palata, Außenpolitikchef der Zeitung "Lidove Noviny". Er hat die Wahlen direkt vor Ort miterlebt."Das Wahlergebnis ist natürlich unerfreulich für die tschechischen Sozialdemokraten, die gerade die deutschen Sozialdemokraten als einen der engsten Verbündeten in der europäischen Politik betrachtet haben. Das zweite Signal ist, dass man Reformen zu einem Zeitpunkt einleiten muss, wo es dem Land wirtschaftlich gut geht, wo scheinbar alles in Ordnung ist. Und nicht erst dann, wenn bereits die Krise ins Haus steht. Deutschland hat zu spät mit den Reformen begonnen, als die Konjunktur bereits vorbei war. In so einer Situation ist es sehr schwer, Reformen durchzuführen und sich gleichzeitig die Wählergunst zu erhalten. Die Hauptbotschaft ist also - und zwar nicht nur für die Sozialdemokraten, sondern im Grunde für jede Regierungspartei: Mit Reformen muss man rechtzeitig kommen und nicht erst dann, wenn sie schon unbedingt nötig sind."
Sowohl die deutschen als auch die tschechischen Sozialdemokraten sehen sich mit dem Phänomen neuer linker Strömungen innerhalb der eigenen Partei konfrontiert. Prominentestes Beispiel in Deutschland: der langjährige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine, der kürzlich seinen Austritt aus der SPD und die Gründung einer neuen Linkspartei bekanntgab. Auch in Tschechien hat sich in diesen Tagen eine neue Linksplattform gegründet, allerdings innerhalb der Sozialdemokratischen Partei. Ist die Suche nach linken Alternativen ein gesamteuropäischer Trend? Lubos Palata:
"Für die Sozialdemokratie ist es natürlich ein Problem, dass das nach dem Krieg entstandene Modell des Sozialstaats momentan eine gewisse Krise erlebt. Damit verlieren die Sozialdemokraten ihre ideelle Grundlage und müssen eine neue Form von Sozial- und Gesellschaftspolitik für Europa anbieten. Ein Weg, der in meinen Augen sowohl für Deutschland als auch für Tschechien denkbar wäre, ist der Weg der britischen Labour-Partei. Und wie sich zeigt, muss dieser Weg nicht unbedingt unpopulär sein."
Die SPD hat nach dem Wahldebakel in Nordrhein-Westfalen Neuwahlen angekündigt - ein Schritt, den die tschechischen Sozialdemokraten tunlichst meiden - obwohl bzw. gerade weil sie in der Wählergunst ebenfalls dramatisch gesunken sind und laut Umfragen keine Chancen hätte, aus Neuwahlen als Sieger hervorzugehen. Auch in Deutschland steht zu erwarten, dass es nach den Neuwahlen zu einem Regierungswechsel kommt. Nach seinen möglichen Auswirkungen auf das deutsch-tschechische Verhältnis fragte ich abschließend den Ressortchef für Außenpolitik von der Zeitung Lidove noviny, Lubos Palata:
"Zunächst einmal ist es meiner Meinung nach keineswegs ausgeschlossen, dass eine große Reformkoalition entsteht. Das würde bedeuten, dass sich in den deutsch-tschechischen Beziehungen nichts Wesentliches ändert. Und wenn es tatsächlich eine schwarz-gelbe Regierung geben sollte, wird das gegenseitige Verhältnis in einigen Punkten sicherlich komplizierter werden. Vor allem weil insbesondere gewisse Kreise innerhalb der CSU andere Vorstellungen von den tschechisch-deutschen Beziehungen haben als der jetzige Bundeskanzler Gerhard Schröder und seine Partei. Auf der anderen Seite wird das Außenministerium mit großer Wahrscheinlichkeit an die FDP gehen. Und ich denke, die FDP bleibt ihrer langjährigen Tradition treu und geht hier einen Weg, der sich nicht sehr von dem jetzigen unterscheidet. Kurz: Ich glaube, die Neuwahlen werden keine dramatischen Folgen haben. Möglicherweise wird sich das deutsch-tschechische Verhältnis sogar noch ein wenig verbessern."