Südvorstadt von Pilsen: Vom Funktionalismus zur puristischen Fassade

Puristische Fassade (Foto: Martina Schneibergová)

Die europäische Kulturhauptstadt Plzeň / Pilsen ist eigentlich als Industrie- und Biermetropole bekannt. Aber sie kann auch architektonisch einiges bieten, und das nicht nur im Zentrum. In der vergangenen Ausgabe der Sendereihe „Reiseland Tschechien“ haben wir Sie bereits durch einen Teil der Pilsener Südvorstadt geführt. Diesen Spaziergang werden wir heute fortsetzen.

Regionalstudio des öffentlich-rechtlichen Tschechischen Rundfunks  (Foto: Martina Schneibergová)
Vom Pilsner Stadtzentrum – vom Boulevard Sady Pětatřicátníků – sind es fünf Haltestellen mit der Straßenbahn, dann gelangt man zum Platz Náměstí Míru. Die Hauptverkehrsader Klatovská führt hier vorbei. An der Nordseite des Platzes stehen zwei Häuser mit verzierten Fassaden, deren Eigentümer die renommierte Pilsener Baufirma Müller-Kapsa war. Die Ostseite des Platzes wird von einem weißen Gebäude dominiert, in dem das Regionalstudio des öffentlich-rechtlichen Tschechischen Rundfunks untergebracht ist. Es sei eines der besten Beispiele der tschechischen funktionalistischen Architektur der Nachkriegszeit, sagt Anna Šubrtová. Sie organisiert Stadtführungen in Pilsen.

„Das Rundfunkgebäude in Pilsen hat Architekt Karel Tasenau (1898-1970, Anm. d. Red.) mit seinem Team entworfen. Sein Projekt siegte 1946 in einem Wettbewerb zur Gestaltung des Funkhauses. Das Gebäude wurde in drei Etappen errichtet. Beendet wurde der Bau erst 1956. Zu dieser Zeit wurden an anderen Orten Pilsens schon Neubausiedlungen im Stil des sozialistischen Realismus erbaut. Das Funkhaus wurde aber noch in der funktionalistischen Tradition gestaltet, die aus der Zwischenkriegszeit bekannt ist. Diesem Baustil entsprechen das Flachdach, die typische Verkleidung aus Kacheln sowie die Form der Fenster. Bemerkenswert ist das Funkhaus aber nicht nur wegen seiner wertvollen Gestaltung, sondern auch wegen der hervorragenden Akustik der Säle. Die Architekten haben bei der Gestaltung der Aufnahmestudios sogenannte ‚schwimmende Wände‘ genutzt: Ein Vakuum zwischen den Doppelwänden und Doppeldecken trägt zu den guten akustischen Bedingungen bei.“

Purkyně-Pavillon  (Foto: Martina Schneibergová)
Ein weiteres funktionalistisches Gebäude steht gleich neben dem Rundfunk. Der Architekt ist angeblich unbekannt, weil die gesamte Dokumentation zu dem Haus verloren gegangen ist. In dem blaugrauen Gebäude ist heute der Purkyně-Pavillon untergebracht, in dem das Impfungszentrum der Stadt seinen Sitz hat. Erbaut wurde das Gebäude in den 1930er Jahren jedoch als Heim für taubstumme Kinder. Die funktionalistische Architektur ist vor kurzem bei der Abdichtung des Hauses beschädigt worden. Auch die neu gestalteten breiten roten Streifen auf der Fassade wirken störend.

Luxuswohnungen und Architektur des Zweijahresplans

Vom Platz Náměstí Míru, auf dessen Ostseite das Funkhaus steht, geht es beim Spaziergang durch die Südvorstadt weiter durch die Straße Klostermannova, die den Platz mit der Edvard-Beneš-Straße verbindet. In dieser stark befahrenen Straße steht eine Reihe von Mietshäusern aus den 1930er Jahren. Dies sei ein gelungenes Projekt des Pilsener Bauunternehmers Václav Haišman, erzählt Anna Šubrtová:

Anna Šubrtová  (Foto: Martina Schneibergová)
„Da die Mietshäuser für einen einzigen Bauherrn und zur selben Zeit erbaut wurden, stellte das Bauamt damals die Bedingung, dass die Fassaden der einzelnen Häuser nicht miteinander verbunden werden dürfen. Der ganze Block sollte nicht zu monumental aussehen. Dies ist gelungen. Die einzelnen Häuser sind gut voneinander zu unterscheiden, der Häuserblock wirkt nicht monoton. Die Fassaden sind abwechselnd durch Risalite, also hervorspringende Gebäudeteile, und Loggien gegliedert. In dem Häuserblock wurden sowohl kleine Einzimmerwohnungen, als auch große Wohnungen mit Zimmern für Dienstmädchen, Badezimmern und Toiletten eingerichtet. Es gab dort sogar auch Garagen. Für die damalige Zeit waren es Luxuswohnungen.“

Etwa zehn Jahre jünger als dieser Hausblock sind die Miethäuser gleich um die Ecke, in der Arbesova-Straße. Sie seien ein gutes Beispiel für die Architektur gemäß dem Zweijahresplan aus den Jahren 1947 bis 1948, erzählt die Expertin:

Architektur des Zweijahresplans  (Foto: Martina Schneibergová)
„Der Bau dieser Miethäuser wurde erst 1950 beendet. Die Architektur des sogenannten Zweijahresplans knüpfte in gewissen Maßen an den funktionalistischen Baustil der Zwischenkriegszeit an. Trotzdem sind die Gebäude viel robuster und wirken etwas schwerfällig. Einige Details wie beispielsweise die Rohrgeländer erinnern noch an den Funktionalismus.“

Häuser der Wohnbaugenossenschaften

Von der Arbesova-Straße geht es weiter nach links, nach etwa 100 Metern erreicht man die Straße Vrchlického. Die Häuser an beiden Seiten der Straße dokumentieren die Aktivitäten der Wohnbaugenossenschaften in Pilsen aus den 1920er Jahren.

Häuser der Wohnbaugenossenschaften  (Foto: Martina Schneibergová)
„Es gibt da Häuser der Wohnbaugenossenschaft Zádruha sowie der Volkswohnbaugenossenschaft LBD. Deutlich zu sehen ist, dass die Häuser der beiden Baugenossenschaften unterschiedlich gestaltet wurden. Die Baugenossenschaft Zádruha bevorzugte eher einfache Architektur, die von der geometrischen Moderne aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ausgeht. Die Häuser der LBD-Genossenschaft sind etwas lustiger gestaltet und verziert, an den Fassaden befinden sich kubistische Elemente.“

Am Ende der Straße mit den Häusern der Wohnbaugenossenschaften geht es nach rechts bis zur Edvard-Beneš-Straße. Beachtenswert ist der Häuserblock auf der linken Seite. Er wurde in den 1920er Jahren für Staatsbeamten erbaut. Der Entwurf stammte von Karel Říha (1893-1970), einem Schüler des namhaften Architekten Jan Kotěra. Říha spezialisierte sich auf den Bau von Mietshäusern, die er damals in der ganzen Tschechoslowakei errichten ließ. Anna Šubrtová:

Puristische Fassade  (Foto: Martina Schneibergová)
„Diese drei Häuser wurden 1924 erbaut, also nur zwei Jahre später als die Häuser der Wohnbaugenossenschaften. Ihre Architektur ist jedoch bedeutend fortschrittlicher. Hier wurden die ersten puristischen Fassaden in Pilsen gestaltet. Das einzige Element, das die Häuser gliedert, sind die mächtigen Simse. Im Hof des Hausblocks befand sich ursprünglich ein Garten, den die Bewohner aller Häuser nutzen konnten. Dieser Wohnblock wurde damals in zeitgenössischen Fachzeitschriften abgebildet und beschrieben. Sonst findet man in Fachmagazinen kaum eine Erwähnung der Pilsener Architektur, bis auf die Artikel über das Funkhaus in Pilsen, das aber viel später erbaut wurde.“

Leo Meisls Haus mit nautischen Bauelementen

An dem imposanten Eckhaus im Wohnblock von Architekt Říha vorbei geht es auf die Pilsener Hauptverkehrsader Klatovská. Diese führt geradeaus bis zum Platz Chodské náměstí, der von der Johannes-Nepomuk-Kirche dominiert wird. Die Kirche wurde im pseudoromanischen Stil für den Redemptoristenorden errichtet. Mit dem Bau beauftragt wurde die renommierte Firma Müller-Kapsa. Geweiht wurde die Kirche 1911. Durch die Klatovská geht es noch etwa 50 Meter weiter. Nach rechts biegt man in die Gasse Na Belánce ab. Das Haus Nr. 6 gehörte Leo Meisl, einem Architekten jüdischer Abstammung (1901-1944). Anna Šubrtová:

Das Haus Nr. 6 mit viele sogenannte ´nautische´ Elemente  (Foto: Martina Schneibergová)
„Ich glaube, dass es eines der schönsten Beispiele funktionalistischer Architektur in Pilsen ist. Zudem wurden bei der Gestaltung viele sogenannte ´nautische´ Elemente genutzt. Der Architekt suchte nach Inspiration bei den Ozeanschiffen und entwarf verschiedene runde Fenster, Geländer und Leiter in dem Haus sowie auf der Fassade.“

Leo Meisl wohnte nur zwei Jahre lang in seinem Haus, von 1939 bis 1941. Den Zeitzeugen zufolge versteckte er sich eine Zeit lang in Prag, wurde jedoch von den Nationalsozialisten verhaftet und starb am 18. November 1944 im KZ Theresienstadt.

Vom Haus von Architekt Leo Meisl ist es nicht mehr weit zum Haus in der Straße Bendova Nr. 10, in dem sich eine von Architekt Adolf Loos gestaltete Wohnung befindet. Durch diese kann man sich – nach vorheriger Absprache – bei einer Besichtigung führen lassen.

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