Thriller, Mindrák und tschechische Tränen für „Quelle“
Zeit für den Medienspiegel mit dem Neuesten aus den tschechischen Kommentarspalten. Diesmal geht es um Tschechien, wie es leibt und dahinsiecht, ein bisschen Regierungserklärung, eine Prise Mautgebühr für Städte und eine kleine tschechische Träne für das Versandhaus Quelle.
Christian Rühmkorf: Jan Jandourek zum Beispiel meint in seiner Kommentarüberschrift in der „Mladá Fronta Dnes“: „Dies ist kein Staat, das ist eher ein Thriller.“ Jandourek steigt in sein umfassendes Lamento mit dem Skandal an der Pilsener Uni ein, wo ja Doktor- und Magistertitel geradezu verscheuert wurden. Aber das gesamte Jahr 2009 sei eine Verwüstung des staatlichen Organismus. Jandourek schreibt:
„Wenn man zur tschechischen EU-Ratspräsidentschaft über uns gesagt hat, dass die Tschechen eindeutig nicht langweilen, dann gilt jetzt, dass wir uns selbst nicht langweilen. Der überflüssige Sturz der Regierung, der vergebliche Versuch von vorgezogenen Neuwahlen, das Ende des US-Radars, Politiker, die bereit sind für Schmiergeld Gesetze zu ändern, die kanadischen Visa. Der russische Imperialismus ist wieder erwacht, unser Präsident bekommt die Puschkin-Medaille und streut ein bisschen Sand in das Getriebe der EU.“
Moderatorin: Also ein Rundumschlag.
C.R.: Ja. Eine Art Amok-Kommentar, den Jan Jandourek hier verfasst hat. Später kommt er dann noch mal auf die „Lügendoktores“ aus Pilsen zurück, stellt aber fest, das ganze Staatssystem sei infiziert:
„Wozu Wahlen, wenn nicht die Gewählten regieren? Wozu ein Abgeordnetenhaus, dem Ende September nur 14 Prozent der Bevölkerung vertrauten? Das sind weniger Prozent, als an Reinkarnation glauben. Ist es wirklich egal, dass nur 47 Prozent dem Verfassungsgericht vertrauen? – Weniger als die Hälfte? Da glaubt ja bei uns schon an Gott allein ein Viertel der Menschen, und dabei haben sie ihn noch nicht mal selbst gewählt.“
Moderatorin: Jan Jandourek ist sauer. Man merkt es.
C.R.: Ein bisschen ähnlich geht es Petr Drulák. Er ist kein Journalist, sondern Direktor des Instituts für internationale Beziehungen. Auch er legt wie Jandourek den Finger in die Wunde des Landes – wenn auch nur in eine Wunde. Es geht um das Gezerre um den Lissabon-Vertrag. „Der kleine Tscheche geht in die Welt“, heißt sein Kommentar „Hospodářské Noviny“. Drulák schreibt:
„Zwei Minderwertigkeitskomplexe (Tschechen haben dafür bezeichnenderweise einen Germanismus in Gebrauch: mindrák) sind immer zur Hand: Deutschland und Russland. Wir finden kaum eine internationale Frage, die tschechische Politiker nicht mit der Germanophobie oder Russophobie eines Teils der Gesellschaft zu verbinden imstande sind. Klaus´ Angstmacherei, dass mit dem Lissabon-Vertrag die Deutschen kommen, ist genauso lächerlich wie Topoláneks Angstmacherei, dass ohne Lissabon die Russen kommen.“
Moderatorin: Der ehemalige Premier Topolánek ist ja auch nicht gerade ein Lissabon-Liebhaber. Sein größtes Argument gegen den Vertrag ist die Gefahr eines imperialistischen Kremls.
Kommen wir mal zu einem anderen Thema. Übergangspremier Premier Fischer hat eine Regierungserklärung für das kommende halbe Jahr abgegeben. Denn die vorgezogenen Neuwahlen haben ja nicht stattgefunden. Er muss also bis zum Frühjahr weitermachen. Wie bewerten die Kommentatoren diese Regierungserklärung?C.R.: Sie bewerten vor allem, dass Fischer auf ein Vertrauensvotum verzichtet hat. Karel Steigerwald meint in der „Mladá Fronta Dnes“, die ganze Situation dieser in der Öffentlichkeit ungewöhnlich respektierten Regierung sei eigenartig. Er schreibt:
„Muss der Premier einige Minister austauschen? Muss er auf den Druck der politischen Parteien hören? Aufrichtig gesagt: Er muss gar nichts. Er weiß vielmehr, dass die Parteien ihn brauchen samt seiner Regierung, sie selbst aber können für nicht nützlich sein. Premier Fischer genießt einen außergewöhnlichen Grad an Freiheit und Unabhängigkeit. Ihm nicht das Vertrauen zu geben, würde eine hundert Mal größere Krise bedeuten (…).“ So Steigerwald.
Dass dieser parteilose Premier dem Land einigermaßen gut zu tun scheint, das bestätigt auch der Kommentar von Alexandr Mitrofanov in der „Právo“. Er hielt die Regierungserklärung beinahe für märchenhaft. Ebenso die 80-prozentige Unterstützung, die Fischer in der Bevölkerung hat.
„Premier Fischer war in der Rolle des weisen Mannes, der weiß, was er will und was er kann. Und einige Worte klangen so sanft wie bei einer liebenwürdigen Märchenstunde. Nach Jahren verbaler und sogar physischer Scharmützel im Reiche der Paroubeks und Topoláneks, wie soll es da auch anders sein bei Sätzen wie: ´Ich möchte eine Regierung führen, welche unsere Gesellschaft vereint und nicht teilt´. Schreibt Alexandr Mitrofanov.
Moderatorin: Christian, Du hast noch die Städte-Maut am Anfang erwähnt. In Prag soll es in fünf Jahren eine Gebühr für die Fahrt mit dem Auto ins Stadtzentrum geben. Wie in London oder einigen anderen europäischen Städten. Eine ziemlich teure Studie hat die Möglichkeiten in der engen Stadt Prag ermittelt.
C.R.: Lenka Zlámalová lobt in der „Hospodářské Noviny“ diese Pläne, denn die Menschen würden die nicht mehr lebenswerte Innenstadt verlassen und Prag damit zu einem leblosen Freilichtmuseum, meint Zlámalová und schreibt:
„Selbst Provinzstädte haben das, was Prag fehlt – einen äußeren und einen inneren Ring. Dem, der in Prag von Nord nach Süd gelangen will, bleibt nichts anderes übrig als über den Wenzelsplatz zu fahren. (…) Wenn Prag erst seine Ringstraßen, seine Schnellzüge und seine Park-und-Ride-Systeme hat – und die Stadträte denken sich ein sinnvolles Gebührensystem aus für die, die dort leben und arbeiten– dann wird es schwer sein, Argumente gegen eine Mautgebühr in der Stadt zu finden.“ So Kommentatorin Zlámalová
Zum Abschluss noch ein anderes Thema. Ein hauptsächlich deutsches Thema, sollte man meinen: nämlich der Niedergang der Versandhauses Quelle. Dieses Versandhaus hat anscheinend mehr Spuren in Tschechien hinterlassen, als man sich vorstellt. Zbyněk Petráček ist es einen langen Kommentar in der „Lidové Noviny“ wert. Er spricht von einer tschechischen „Generation Quelle“, die sich zur kommunistischen Zeit gebildet habe. Diejenigen, die heute so um die 50 und älter seien. Petráček schreibt:„Wie viele Leute haben damals hier die Samizdat-Literatur (Anm. d. Red.: der Dissidenten gelesen? Ein winziges Prozent. Wie viele haben den Sender ´Die Stimme Amerikas´ oder die BBC gehört? Vielleicht ein Zehntel. Aber die bunten Versandkataloge kannte die absolute Mehrheit. Sie kreisten in Akademikerfamilien, unter den Arbeitern und selbst unter eisenharten Kommunisten. Sie alle wollten ´in´ sein mit diesem im Prinzip tolerierten Bild vom Westen. Quelle zeigte ein Bild, das sich bei einem bedeutenden Teil der tschechischen Gesellschaft eingebrannt hat.“ So Kommentator Zbyněk Petráček.
Moderatorin: Christian Rühmkorf mit dem Medienspiegel – vielen Dank!