Aus für Printjournalismus: Traditionsreiche Tageszeitung Lidové noviny erscheint nicht mehr gedruckt

Nach 131 Jahren ist Schluss: Die Tageszeitung Lidové noviny erscheint am morgigen Samstag zum letzten Mal in gedruckter Form. Während manche dem traditionsreichen Blatt nostalgisch nachtrauern und den kompletten Niedergang des Printjournalismus befürchten, blicken andere nach vorn und freuen sich auf die schöne neue, multimodale KI-Medienwelt.

Das Geräusch von raschelndem Zeitungspapier ist in Tschechien selten geworden. Und auch das Geruchsgemisch aus Druckerschwärze und Papier vernimmt man nicht mehr so oft. Denn wie auch anderswo in der Welt lesen hierzulande immer weniger Menschen gedruckte Zeitungen. Stattdessen sind digitale Medien auf dem Vormarsch.

Die „Entwicklung auf dem Markt“ ist es dann auch, die den Medienkonzern Mafra eigenen Angaben zufolge dazu bewegt hat, die traditionsreiche Zeitung Lidové noviny in gedruckter Form einzustampfen. Schade, findet Jiří Peňás. Der Schriftsteller war in der Vergangenheit Redakteur der „lidovky“ – wie die Zeitung im Volksmund genannt wird. Heute schreibt Peňás für das Wochenblatt Echo. Warum trauert er dem Blatt nach?

„Vielleicht, weil dieses Bild eines Mannes oder einer Dame am Cafétisch, die eine Zeitung vor sich ausgebreitet haben, nun ins Museum gehört. Aber ins Museum gehören eben viele schöne Dinge, von denen wir uns lossagen, und dann wird die Welt ein Stück ärmer.“

Jakub Zelenka und Jiří Peňás | Foto: Tschechischer Rundfunk

Jakub Zelenka sieht das anders. Er ist zweieinhalb Jahrzehnte jünger als Peňás. Und auch er hat in der Vergangenheit für die „Volkszeitung“, wie man den Namen „Lidové noviny“ wörtlich übersetzen könnte, geschrieben. Heute wirkt Zelenka in der Redaktion der Tageszeitung E15 mit. Und er ist einer der beiden Chefredakteure des neugegründeten Onlinemagazins Page not found. Zelenka weint der Lidové noviny und dem Printjournalismus generell nicht nach:

„Meine Generation kauft keine Zeitungen mehr. Und sie aus einer Nostalgie heraus zu subventionieren, macht wirtschaftlich keinen Sinn“, meinte der Journalist im Doppelinterview mit Jiří Peňás im Juli im Tschechischen Rundfunk.

Dass die beiden so innig über das Ende gedruckter Zeitungen diskutieren, hängt wohl auch damit zusammen, dass die Lidové noviny nicht irgendeine Zeitung ist oder war – sondern das älteste noch erscheinende Periodikum Tschechiens.

Geschichtsträchtiges Blatt

Am 16. Dezember 1893 erschien die erste Ausgabe des Blattes in Brno / Brünn. Mit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 begann die Blütezeit der Lidové noviny. Man eröffnete eine Redaktion in Prag und später auch in weiteren tschechischen und slowakischen Städten. 1937 erreichte die Zeitung werktags eine Auflage von 44.000 Exemplaren.

Das Blatt hatte damals politisch eine große Nähe zur Prager Burg, die beiden Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk und Edvard Beneš schrieben regelmäßig Beiträge. Und der Schriftsteller Karel Čapek war fester Mitarbeiter. Nach dem Einmarsch der deutschen Nationalsozialisten wurde die Lidové noviny der Zensur unterworfen, der damalige Chefredakteur wurde 1942 hingerichtet. Und auch weitere Journalisten wurden von der Gestapo festgenommen.

Unter den Kommunisten mussten in der Lidové noviny Oden auf Stalin und Gottwald abgedruckt werden, 1952 erschien die Zeitung vorerst zum letzten Mal. Wiederbelebt wurde sie zwei Jahre vor der Samtenen Revolution, und verdient darum machte sich auch niemand geringerer als der spätere Präsident Václav Havel. Nach 1989 musste die Zeitung nicht mehr illegal im Untergrund gedruckt und verteilt werden, sondern konnte offiziell erscheinen. Es folgten mehrere Besitzerwechsel. Als 2001 die erste Farbausgabe erschien, gehörte das Blatt gerade der Rheinisch-Bergischen Verlagsgesellschaft.

2013 übernahm Babiš die „lidovky“

2010 wurden die „lidovky“ vom Medienhaus Mafra übernommen, das drei Jahre darauf von der Agrofert-Holding von Ano-Politiker Andrej Babiš aufgekauft wurde. Der spätere tschechische Premier schwor damals hoch und heilig, nicht in die inhaltlichen Darstellungen des Medienhauses eingreifen zu wollen. Doch nicht nur, dass im Folgenden immer wieder gegenteilige Informationen auftauchten. Die Lidové noviny schien auch nicht mehr die gewünschten Erträge einzufahren. Zuletzt wurden nur noch 17.000 Exemplare pro Tag verkauft.

Foto: Lidové noviny

Im Februar 2024 stimmte das tschechische Kartellamt dem erneuten Verkauf der Mafra-Gruppe zu. Mafra und damit die Lidové noviny gehören seitdem dem Konzern Kaprain des Milliardärs Karel Pražák. Beobachter stellten nach der Übernahme nicht die Frage, ob der Unternehmer das Medienhaus wieder verkauft, sondern wann und an wen.

Fest steht: Mit der Aufgabe des Druckgeschäfts dürfte das Minus im verlustigen Mafra-Geschäft schrumpfen. Die Marke „Lidové noviny“ soll dabei vorerst erhalten bleiben. Auf der Online-Plattform will man weiterhin Artikel veröffentlichen, die Wochenendbeilage Orientace wird in die verbrüderte Zeitung Mladá fronta Dnes eingegliedert.

„Das Ende des Printjournalismus ist ein unumkehrbarer Prozess“

Dass das Blatt Lidové noviny nur die erste Tageszeitung ist, die in Tschechien nicht mehr regelmäßig in gedruckter Form erscheint, scheint kaum jemand anzuzweifeln. Aber sollte man dagegen etwas tun? Und wenn ja: Was? Jiří Peňás sagt:

„Ich weiß, dass man nichts dagegen tun kann. Für die junge Generation, also Menschen unter 40 Jahre, ist es unvorstellbar, sich eine Zeitung zu kaufen. Oder wenn, dann ist das etwas Exklusives. Womöglich könnten sie sie auch gar nicht mehr richtig lesen oder wären überrascht über den Inhalt. Aber all das muss ja nicht heißen, dass dieser Wandel nicht traurig ist. Es gibt verschiedene Dinge, die die Zivilisation hervorgebracht hat und die verschwunden sind. Ich würde das mit Pferden vergleichen. Man muss sich die Frage stellen, ob der Automobilismus wirklich besser ist. Ich verstehe also, dass das Ende des Printjournalismus ein unumkehrbarer Prozess ist, will aber darauf hinweisen, was wir verlieren.“

Illustrationsfoto: StockSnap,  Pixabay,  Pixabay License

Zu diesen Dingen gehöre auch die Strukturiertheit klassischer Zeitungen, meint der Publizist:

„Es gibt eine in Zeit und Raum fixierte Struktur mit festen Genres. Das kann das Internet nicht bieten, denn es ist viel amorpher. Und online kommt es stärker zur Bildung von Blasen und Gruppen mit gleichen Meinungen. Klassische Zeitungen haben hingegen den fantastischen Vorteil, dass man dort auch auf Artikel stößt, die man sonst nie lesen würde.“

Zudem wirft Peňás die Frage auf, wer im Internet eigentlich noch Geld für kulturelle Beiträge ausgeben würde.

„Das sind Themen für eine Minderheit. Im Internet rutschen sie ganz nach unten. Das merkt auch der Verleger und stellt dann fest, dass man ja eigentlich keine Redakteure mehr bezahlen muss, die Rezensionen über Theater oder Kunst schreiben.“

Mit einer gedruckten Zeitung hingegen habe man zumeist ein Gesamtpaket in der Hand, zu dem eben auch das Feuilleton hinzugehöre, ergänzt Peňás.

Jakub Zelenka will diese Argumente nicht gelten lassen:

„Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir jeden Tag Inhalte auf Papier drucken wollen, die in dem Moment vielleicht schon gar nicht mehr aktuell sind“, meint der Journalist stattdessen und hinterfragt, warum man Zeitungen eigentlich immer „lesen“ müsse:

„Ich denke, in Zukunft werden wir immer öfter eine konkrete Geschichte haben, und der Leser oder Zuschauer wird sich dann auswählen können, wie er sie konsumieren will. Dabei kann die Künstliche Intelligenz helfen. Es wird also Texte geben, die man sich mit einem Klick vorlesen lassen kann, so wie ein Hörbuch. Man kann diese Quelle aber auch in ein Video umwandeln. Darin können dann entweder Illustrationsaufnahmen zu sehen sein oder eine mit KI erstellte Person, die den Text vorträgt. Die Information ist also das eigentlich Wichtige und nicht, über welche Kanäle sie verbreitet und konsumiert wird. Und die Tageszeitung ist einfach kein relevanter Kanal mehr.“

Entschleunigter Online-Journalismus als Lösung?

Auch Peňás’ Argument, dass das Zeitunglesen und Nachrichtenkonsumieren im Internet zu schnelllebig und hektisch sei, will Zelenka nicht gelten lassen – und bringt seine eigene Plattform ins Spiel, die er im Mai dieses Jahres gemeinsam mit der Journalistin Apolena Rychlíková gegründet hat:

Foto: Archiv Radio Prag

„Bei Page not found veröffentlichen wir auf einen Schlag eine Serie von Artikeln zu einem Thema, ähnlich wie in einer Zeitung. Die Texte bleiben dann eine Woche lang auf der Seite. Wir wollen die Leser dazu bringen, sich im Verlaufe dieser Woche im Idealfall alle Inhalte nacheinander durchzulesen.“

Entschleunigter Journalismus oder „slow journalism“ heißt dieses Konzept, bei dem statt Eilmeldungen und Kurznachrichten aufwendig recherchierte Analysen und Texte mit Hintergrund vermittelt werden – die dann auch ihre entsprechende Länge haben. Und ob man diese Inhalte auf einem Tablet, einem eBook-Reader oder eben auf Papier konsumiere, mache für ihn keinen Unterschied, meint Zelenka. Viel wichtiger sei hingegen, nicht die Algorithmen – etwa die von sozialen Netzwerken – über das entscheiden zu lassen, was man lese, höre oder sehe.

Auch wenn die klassische Tageszeitung bald der Vergangenheit angehören mag – ganz werden gedruckte Medien wohl vorerst nicht verschwinden. So hegt Jiří Peňás die Hoffnung, dass es irgendwann zu einer Renaissance der traditionellen Presse kommen könnte:

„Schauen Sie sich mal die Pferde an. Wenn man vor 20 Jahren in Tschechien aufs Land gefahren ist, hat man nicht so viele Pferde gesehen wie heute. Viele Menschen gehen weg aus der Stadt und lassen sich auf dem Land nieder, um dort eine Pferdefarm zu eröffnen – einfach, weil sie das schön finden. Vielleicht kann so etwas ja auch eines Tages mit gedruckten Zeitungen passieren, und sie kommen zurück.“

Und Jakub Zelenka? Dessen Online-Zeitung Page not found wird durch die Spenden der Leser finanziert. Den Preis für das Abo-Modell kann man selbst auswählen. Für die vier Ausgaben pro Monat bezahlt man 99, 249 oder 1000 Kronen (3,95 / 9,95 / 39,90 Euro). Entscheidet man sich für den höchsten Tarif, bekommt man nicht nur Zugang zu allen Texten. Man erhält auch Eintrittskarten zu sämtlichen Veranstaltungen des Journalistenkollektivs und kann sich über exklusive Merchandising-Artikel freuen. Und zweimal im Jahr kann man sich je nach Wunsch zehn Texte bestellen, die dann zuhause im Briefkasten landen – ausgedruckt auf Papier und eigenhändig unterschrieben von den jeweiligen Journalisten, die hinter der Geschichte stehen.

Autoren: Ferdinand Hauser , Lukáš Matoška
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