Tschechien in der Verfassungskrise: Rückblicke und Auswege
Seitdem im März, mitten während der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft, die Regierung gestürzt ist, kommt die Innenpolitik in Tschechien nicht zur Ruhe. Derzeit regiert in Prag ein Übergangskabinett aus parteilosen Ministern, für den 9. und 10. Oktober waren vorgezogene Neuwahlen geplant. Seit 1. September ist aber wieder alles anders: Das tschechische Verfassungsgericht hat die Entscheidung über die Verkürzung der laufenden Legislaturperiode vorerst ausgesetzt. Im Augenblick weiß niemand, wann nun eigentlich gewählt wird.
Der Kern der Verfassungskrise in Tschechien liegt gewissermaßen in der Verfassung selbst. Diese sieht nämlich nur sehr wenige Möglichkeiten vor, wie sich das Parlament, oder genauer gesagt das Abgeordnetenhaus, vorzeitig auflösen kann, wie also eine Legislaturperiode verkürzt werden kann, um den Weg zu vorgezogenen Wahlen freizumachen. Diese wenigen Möglichkeiten sind noch dazu verbunden mit langen Fristen. So kann das Abgeordnetenhaus etwa dann aufgelöst werden, wenn es eine laufende Sitzung für mehr als 120 Tage unterbricht. Für den Fall, dass es schnell gehen sollte, gibt es jedoch kaum eine Handhabe. Und so haben die Politiker nach dem Sturz der Regierung im Frühjahr schnell ein einmalig wirksames Verfassungsgesetz beschlossen, das die Legislaturperiode, nur für dieses eine Mal, vorzeitig beendet.
Genau das ist nun der Stein des Anstoßes. Der parteilose Abgeordnete Miloš Melčák hat beim Verfassungsgericht Beschwerde eingelegt. Sein Argument: Man habe ihm sein Recht genommen, die volle Legislaturperiode lang Abgeordneter zu sein. Der Knalleffekt Anfang voriger Woche: Das Verfassungsgericht gab Melčák zwar noch nicht Recht, setze aber den Wahltermin vorerst aus, um die Klage genauer zu prüfen.Die Folge war ein hierzulande seltener Schulterschluss aller großen Parteien, die die Entscheidung des Gerichts heftig kritisierten und nun andere Wege zu einem möglichst frühen Wahltermin suchen. Auch einige Verfassungsexperten schlossen sich der Kritik an, wie zum Beispiel Jan Kudrna von der Juristischen Fakultät der Karlsuniversität Prag:
„Meiner Meinung nach war es das Verfassungsgericht selbst, das die Verfassung nicht respektiert und sich außerhalb des Verfassungsbogens gestellt hat. Alle Versuche, die Angelegenheit im Rahmen einer politischen Entscheidung zu reparieren, bewegen sich nun notgedrungen selbst wiederum außerhalb des Verfassungsbogens. In den 30 oder 40 Tagen, die bis zum Wahltermin noch bleiben, ist das anders kaum zu schaffen.“
Der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Pavel Rychetský, zeigte sich am Sonntag im Tschechischen Fernsehen von den heftigen Vorwürfen verwundert:
„Mir war klar, dass das eine ungewöhnliche Entscheidung ist, die natürlich auch Reaktionen hervorrufen wird. Aber ich muss sagen, dass mich das Maß an Emotionen und an Unbesonnenheit doch überrascht hat. Das gilt nicht nur für die Reaktionen von Politikern, sondern auch für die der Medien. In den kulturell fest verankerten Demokratien westlich unserer Grenzen könnte so etwas wirklich nicht passieren. Aber das alles bedeutet nicht, dass das tschechische Verfassungsgericht seine Unabhängigkeit nicht verteidigen könnte, oder dass es dem Druck der öffentlichen Meinung nachgeben würde.“
Was Rychetský am meisten ärgert ist der Vorwurf, das Verfassungsgericht handle nicht im „öffentlichen Interesse“. Es sei gerade im öffentlichen Interesse, dass die bestehende Verfassung nicht durch Einweg-Verfassungsgesetze ausgehebelt werden kann. Schon einmal, im Jahr 1998, war ein ähnlicher Fall eingetreten. Damals hatte die Strategie mit dem einmaligen Verfassungsgesetz funktioniert – aber nur unter der Bedingung, dass es eben kein zweites Mal passiert. Pavel Rychetský:
„Die meisten Medien sagen nun, das Verfassungsgericht hätte sich zwischen zwei Interessen entschieden: dem individuellen Interesse des Abgeordneten Melčák, bis zum ursprünglich vorgesehenen Ende der Legislaturperiode im Amt zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an der Abhaltung vorgezogener Wahlen. Das ist aber ein fataler Irrtum! Gerade das öffentliche Interesse an den vorgezogenen Wahlen war dominant bei der Entscheidung des Verfassungsgerichts. Die Rolle des Verfassungsgerichts ist es, die Verfassung zu schützen, also die Grundregeln, nach denen der Staat funktionieren soll. Die Bürger müssen sich darauf verlassen können, dass sie in einem Staat leben, in dem gewisse Regeln gelten, und dass es nicht möglich ist, diese Regeln einfach zu brechen. Daher besteht natürlich ein Interesse daran, dass vorgezogene Wahlen ohne jeden Zweifel legitim sind. Schon allein deshalb, damit niemand die Bürger zum Narren halten und später sagen kann, dass die Wahlen ungültig sind, weil sie nicht verfassungskonform waren.“Was sagen eigentlich die Tschechinnen und Tschechen zu den aktuellen Ereignissen? Am Sonntag veröffentlichte das Tschechische Fernsehen eine Umfrage der Agentur Focus. Demnach stehen 40 Prozent dem Vorgehen des Verfassungsgerichts positiv gegenüber, 40 Prozent negativ – ein ausgeglichenes Verhältnis also. Mehr als die Hälfte der Menschen gibt außerdem an, mit der Thematik vertraut zu sein. Vermutlich wurde über die Machtbalance im Staat, über das Verhältnis von Parlament, Regierung und Verfassungsgericht, also Legislative, Exekutive und Justiz, noch nie so intensiv diskutiert wie in diesen Tagen. Einigkeit herrscht dabei nicht einmal unter Experten. So wird derzeit eine intensive Debatte darüber geführt, ob die Verfassungsrichter überhaupt befugt sind, ein Verfassungsgesetz auszuhebeln. Manche sagen nein. Andere sind der Ansicht, dass die Verfassungsrichter das durchaus können, und zwar dann, wenn der „materielle Kern“ der Verfassung berührt wird.
Wie geht es jetzt weiter? Das Schlüsseldatum ist Donnerstag, der 10. September. An diesem Tag wird das Verfassungsgericht über Melčáks Klage beraten. Allerdings weiß niemand, ob bereits am Donnerstag ein endgültiges Urteil fällt. Deshalb gibt es im Wesentlichen zwei Szenarien: Sollte das Verfassungsgericht Melčáks Beschwerde am Donnerstag abweisen, dann gibt es Wahlen zum ursprünglichen Termin, also am 9. und 10. Oktober. Sollte es der Klage stattgeben oder zu keinem Ergebnis gelangen, dann haben die politischen Parteien des Landes eine Strategie, wie Ende Oktober oder Anfang November gewählt werden könnte. Noch gibt es einige Streitigkeiten über den genauen Termin, aber die grundsätzliche Einigung besteht: Eine dauerhafte Verfassungsänderung muss her, nach der sich das Abgeordnetenhaus mit Dreifünftelmehrheit selbst auflösen kann. Verfassungsgesetze zum Einmalgebrauch wären dann in Zukunft nicht mehr nötig.