Tschechisch-deutsches Miteinander im Glauben – zum Abschied von Pfarrer Kučera aus Aš
In Aš / Asch steht das einzige Martin-Luther-Denkmal Tschechiens. Der evangelische Glaube hat in der Stadt und ihrem Umland schon früh Wurzeln geschlagen. Heute wird er dort von der Evangelischen Kirchengemeinde der Böhmischen Brüder gepflegt. Bald nach der Grenzöffnung 1989 begann sich zwischen dieser und dem Evangelisch-Lutherischen Dekanatsbezirk Selb eine Kirchenpartnerschaft zu entwickeln. Tatkräftig begleitet wurde sie all die Jahre von Pfarrer Pavel Kučera. Nun tritt er in den Ruhestand, und seine Stelle wird nicht nachbesetzt. Ein herber Rückschlag für das Erreichte aus drei Jahrzehnten Zusammenwirken.
ZUM THEMA
1988 wurde Pavel Kučera zum Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde der Böhmischen Brüder in Aš gewählt. Zu dieser gehören ebenso die Orte Mokřiny / Nassengrub, Podhradí / Neuberg und Hranice / Roßbach. Die Kirchengemeinde an der Westgrenze betreute seit ihren Anfängen 1946 neben den tschechischen Gläubigen auch die dort noch ansässigen evangelisch-lutherischen Einwohner deutscher Nationalität. Das stellte Kučera vor ungewohnte Aufgaben:
„Was den deutschen Teil unserer Gemeinde angeht, so bestand dieser damals noch, heute gibt es ihn praktisch nicht mehr. Wir hielten hier deutsche und tschechische Gottesdienste ab. Und ich empfand es als eine Herausforderung, den hier verbliebenen deutschen evangelischen Christen zu dienen.“
Nach der Grenzöffnung begünstigte die zweisprachige Glaubenspraxis den Aufbau von Beziehungen zur evangelisch-lutherischen Kirche in Selb. Beide Seiten hätten dies gleichermaßen begrüßt, erinnert sich Pfarrer Kučera:
„Die Kontakte kamen ganz spontan zustande. Hier wie dort war der Wille dazu vorhanden, denn es herrschte eine große Freude über die Öffnung der Grenze. Sowohl am Dekanat in Selb als auch bei uns standen die Türen für alle weit offen, die von der anderen Seite der Grenze kamen. Diese Periode freudiger und spontaner Begegnungen hielt die gesamten 1990er Jahre hindurch an.“
Grenzöffnung und Kirchenpartnerschaft
Danach lief der Austausch in gewohnten Bahnen weiter, zeitweise schlummerte er auch ein. Neuen Auftrieb erhielt die Kooperation durch die schrittweise Sanierung von Kirchen in Ašsko / dem Ascher Zipfel. Die Renovierungen wurden zunächst von ehemaligen deutschen Einwohnern vorangetrieben. Die Kontakte zu vertriebenen Deutschen hätten von Anfang an zur Kirchenpartnerschaft dazugehört, betont der Pfarrer.
„Die meisten von ihnen haben uns verziehen. Und diese kamen gleich nach 1989, um uns zu unterstützen. Sie stellten während der letzten drei Jahrzehnte enorme Mittel für die Sanierung unserer Kirchen bereit. Gemeinsam mit uns haben sie die Kirche in Mokřiny vor dem Verfall bewahrt. Und das nicht nur mit Finanzhilfen, sondern auch durch wertvolle Arbeit, die in den 1990er Jahren in diese Kirche hineingesteckt wurde“, so Kučera.
Mittlerweile ist das Gotteshaus in Mokřiny / Nassengrub der orthodoxen Kirche überlassen worden. Die Probleme im früheren Zusammenleben von Deutschen und Tschechen auf dem Gebiet des heutigen Tschechiens habe man nicht untereinander diskutiert, sagt Kučera. Dies sei ein Tabuthema geblieben:
„Von den Gewalttaten, die Tschechen in der unmittelbaren Nachkriegszeit an den damals wehrlosen Deutschen verübten, erfuhr ich zum Beispiel erst durch meine deutschen Kollegen, denen die Vertriebenen das erzählten. Wir waren und sind dankbar dafür, dass die Grenze offen ist. Und obwohl wir verschiedene Sprachen sprechen und uns eine Vergangenheit trennt, die nicht glücklich war, glauben wir an den einen Herrn, Jesus Christus. Das verbindet uns weit mehr als alles, was uns trennt.“
Anfeindungen habe es unter Christen nicht gegeben. Ab 2007 beteiligten sich die evangelischen Kirchengemeinden von Aš und Selb auf der Basis eines gemeinsamen EU-Projekts an der Sanierung der Kirche Zum guten Hirten in Podhradí. Sie wurde im späten 15. Jahrhundert vom Grafen Heinz von Zedtwitz erbaut. 1542 wurde sie evangelisch und ist damit eine der ältesten evangelischen Kirchen im heutigen Tschechien. Die Renovierung habe der Partnerschaft mit Selb neuen Schwung verliehen, so Kučera.
„Von da an weitete sich die Zusammenarbeit mit dem Selber Dekanat aus. Sie blühte geradezu auf. Es ist ein bemerkenswertes Phänomen, dass die Kirche Zum guten Hirten von Podhradí somit das Bindeglied für das Wiederaufleben unser Beziehungen zu den Selber Christen darstellte“, erzählt der Pfarrer.
Mit der Zeit gewann die Kirchenpartnerschaft feste Konturen. In regelmäßigen Abständen fanden Begegnungen, Konzerte und Gottesdienste statt. Der Dekanatsbezirk Selb stand da bereits unter der Leitung von Dekan Volker Pröbstl. Er ist überzeugt, dass dadurch Vorurteile abgebaut würden:
„Wir erleben uns im Miteinander. Uns verbinden der christliche Glaube und die mitteleuropäische Kultur. Aber wir beobachten anderseits auch kulturelle Eigenheiten, und da lernen wir voneinander.“
Vergessene Gotteshäuser im Ascher Zipfel wurden durch das Zusammenwirken mit neuem Leben erfüllt. Einen Glanzpunkt stellen für Pröbstl die regelmäßigen musikalischen Andachten in der St.-Martin-Kirche von Hranice dar:
„In Hranice steht eine Schubert-Orgel aus dem 19. Jahrhundert in Memoriam Gottfried Silbermann. Das ist ein sehr wertvolles Denkmal. Sie ist bereits im Geist der Romantik, doch im Stil von Gottfried Silbermann geschaffen. Und das hier in diesem kleinen Zipfel, der so weit nach Sachsen und Bayern hineinragt.“
Diese Orgel erklang nun wieder bei der Abschiedsandacht für Pfarrer Kučera. Die Selber Dekanatskantorin Constanze Schweizer-Elser spielte darauf unter anderem ein Präludium von Johann Sebastian Bach.
Verabschiedung und Würdigung
Pröbstl verglich die Kirchenpartnerschaft mit Geschwistern, die sich trotz ihrer Ungleichheit nahestehen. Zahlreiche Vertreter weltlicher und kirchlicher Einrichtungen kamen in die St.-Martin-Kirche, um Pfarrer Kučera zu würdigen und ihm zu danken.
„Der Dank der Stadt Hranice gebührt Ihnen nicht nur für Ihr geistliches Wirken, sondern auch für den Dienst an der Gesellschaft durch zahlreiche Konzerte und andere Veranstaltungen.“, so der Bürgermeister von Hranice, Daniel Mašlár.
Das Musiker-Ehepaar Patrik Mestl, Klavier, und Magdalena Mestlová, Sopran, interpretierte neben zwei Rückert-Liedern von Gustav Mahler den zweiten und vierten biblischen Gesang von Antonín Dvořák.
Die Schubert-Orgel und die Sankt-Martin-Kirche werden von Gläubigen aus Aš und Selb mit vereinten Kräften instandgehalten. Eine Generalüberholung der Orgel, die dringend anstünde, übersteigt indessen ihre Möglichkeiten. Einprägsame Momente erlebten die Gläubigen in der Vergangenheit ebenso bei den Berggottesdiensten auf dem Háj / Hainberg. Sie fanden auf dieser Anhöhe bei Aš, auf der ein Bismarckturm aufragt, wiederholt bei besonderen Anlässen statt. Der Háj reiht sich damit als einziger tschechischer Ort zu sechs Fichtelgebirgsgipfeln, auf denen im Sommer Gottesdienste gehalten werden. Der Dankgottesdienst für offene Grenzen 2019 auf dem Háj sei für ihn persönlich einer von zwei Höhepunkten der Kirchenpartnerschaft über die Grenze hinweg gewesen, erzählt Volker Pröbstl:
„Wir hatten einen Gottesdienst auf dem Hainberg mit dem Synodalsenior der Böhmischen Brüder, Daniel Ženatý. Er hat gepredigt. Es war ein richtig heißer, sonniger Tag auf dem Hainberg. Und im gleichen Jahr hatten wir in Selb einen gemeinsamen Studientag. Wir hatten Hans-Hermann Pompe eingeladen. Das ist einer der führenden Theologen Deutschlands zum Thema Säkularisation und Mission. Und Magister Jan Nedvěd aus Karlovy Vary hat wiederum aus seiner Sicht eine Deutung der Säkularisation gegeben. Es war für mich ein ganz besonderes Ereignis, mit den Pfarrerinnen und Pfarrern des westböhmischen Seniorats zusammen hier in Selb Vorträge zu hören und zu diskutieren.“
Gemeinsame Andachten gab es außer auf dem Háj ebenso bei der 2007 eingeweihten Grenzkapelle am Liebensteiner Tor unweit von Líbá / Liebenstein sowie bei der Skulptur „Handreichung“. Dieses deutsch-tschechische Kunstwerk steht direkt auf der Grenzlinie zwischen Aš und Selb. Dauerhafte Strukturen erhielt die Kirchenpartnerschaft durch langfristige Projektreihen, aber auch durch eine Teilzeitstelle, die am Dekanat Selb dafür eingerichtet wurde.
„Bisher wurde der Freundeskreis der deutsch-tschechischen Verständigung durch diese – nunmehr – Viertelstelle organisiert. Es gab ganz viele Begegnungen und einen großartigen Austausch“, sagt Pröbstl.
Grenzüberschreitender Freundeskreis
Der Freundeskreis der deutsch-tschechischen Verständigung wurde 2003 ins Leben gerufen. Die damalige Pfarrerin der Kirchengemeinde Hohenberg an der Eger, Cordula Winzer-Chamrád, betreute ihn zusammen mit Pfarrer Kučera. Einmal monatlich trafen sich die Mitglieder zu Exkursionen, Vorträgen und Gesprächsrunden an wechselnden Orten in Oberfranken und Westböhmen. Inzwischen hat sich der Freundeskreis durch das fortschreitende Alter der Mitglieder und nicht zuletzt durch die Corona-Krise stark verkleinert.
Bei den Projektreihen wuchs die Kooperation über den Dekanatsbezirk Selb hinaus. So fanden in Marktredwitz rund zehn Kinderkirchentage statt. Bis zu 150 tschechische Kinder nahmen daran teil, viele davon aus nicht gläubigen Familien. Kučera denkt mit Freude daran zurück:
„Die Kinder fuhren ausnahmslos begeistert von den Kirchentagen nach Hause. Nicht gläubige Kinder hielten ihre nicht gläubigen Eltern sogar dazu an, vor dem Essen zu beten! Und von vielen Kindern hörten wir Fragen wie: ‚Wann ist der Kirchentag das nächste Mal? Schon nächsten Monat?‘“
Mit dem Evangelischen Jugendwerk des Dekanats Weiden zusammen wurden Jugendprojekte organisiert. Durchgeführt wurden sie unter anderem in der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Sie behandelten Themen wie totalitäre Systeme, ethnische Minderheiten und das Zusammenleben in Europa. Für die tschechische Seite kümmerte sich Pfarrfrau Libuše Kučerová darum:
„Die Projekte befassten sich mit Flossenbürg, aber auch mit Jáchymov und den Schicksalen von Tschechen im Arbeitslager dort. Und wir besuchten Berlin und Prag im Rahmen einer Recherche über Andersartigkeit. Die Jugendlichen befragten Passanten auf der Straße, was Anderssein für sie bedeutet.“
Es gab Pfadfindertreffen und eine Studienreise nach Israel. Und die Kinderoper Brundibár, von Hans Krása im Konzentrationslager Theresienstadt komponiert, wurde in Flossenbürg inszeniert und dann in Mokřiny aufgeführt. Die Corona-Pandemie hat die Jugendarbeit vorerst zum Erliegen gebracht. Ob sie in Zukunft fortgeführt werden kann, steht in den Sternen. Denn zum Jahresende scheidet Kučera aus dem Kirchendienst aus.
„Ich bin der letzte evangelische Pfarrer von Aš nach nahezu 500 Jahren. Die deutsche evangelisch-lutherische Reformation kam um das Jahr 1525 nach Ašsko. Von da an wirkten hier bis 1945 deutsche evangelisch-lutherische Pfarrer. Dann traten tschechische Geistliche an ihre Stelle, als hier eine Gemeinde der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder gegründet wurde. In diese wurden die hier verbliebenen deutschen evangelisch-lutherischen Gläubigen eingegliedert. Ich werde keinen Nachfolger mehr haben. Denn die Kirche in Tschechien schrumpft und altert ganz allgemein, und das gilt auch für Aš. In naher Zukunft wird unsere Gemeinde mit Cheb zusammengelegt“, sagt Pavel Kučera.
Doch in Cheb / Eger ist die Pfarrerstelle seit nahezu zwei Jahren vakant, daher werden die Böhmischen Brüder in Aš vorerst von Sokolov / Falkenau aus mitbetreut werden. Für die in drei Jahrzehnten aufgebaute Kirchenpartnerschaft bricht eine Zeit der Ungewissheit an. Wer soll den nächsten Berggottesdienst auf dem Háj organisieren? Und wer wird sich um die renovierten evangelischen Kirchen im Ascher Zipfel kümmern? Für Volker Pröbstl steht jedenfalls fest:
„Wir möchten ein gewisses Maß an musikalischen Andachten in Hranice und Podhradí aufrechterhalten, und geplant ist auch, dass wir am Weißen Sonntag das schöne Kirchweihfest in Podhradí weiterhin feiern.“
Die deutsch-tschechischen Kindersingtage, die in Selb von Constanze Schweizer-Elser und Jan Esterle aus Plzeň / Pilsen durchgeführt wurden, sollen ebenfalls nach Möglichkeit aufrechterhalten werden.
„Denn übers gemeinsame Musizieren und Singen versteht man sich auch ohne genaue Sprachkenntnis ausgezeichnet“, so der Dekan.
Wie die praktische Umsetzung erfolgen soll, ist noch unklar. Pröbstl blickt denn auch dankbar zurück, doch nachdenklich nach vorne:
„Was Pfarrer Kučera und seine Ehefrau zusammen geschaffen haben, das ist ein unglaublich schönes Werk. Da hat der Heilige Geist viel Kraft investiert. Wie das mit der Zukunft ist? Sie ist offen. Sie verlangt, dass wir immer wieder neu nachdenken und neu anfangen. Aber wenn ich den Mut und die Leistung spüre, die Pfarrer Kučera und seine Frau eingebracht haben, da haben wir etwas im Rücken, das uns in den nächsten Jahrzehnten stärken wird.“
Die Klänge der Schubert-Orgel in der Sankt-Martin-Kirche von Hranice unterstrichen seine Worte beim Abschiedskonzert für Pfarrer Pavel Kučera und seine Ehefrau Libuše Kučerová – mahnend und zuversichtlich zugleich.