Unbegreiflich, dieses Verhalten

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Letztens war meine Mutter zu Besuch in Prag. Und da gibt es immer eine Sache, die sie besonders freut. Kaum bin ich in der Straßenbahn, sagt sie, steht schon jemand auf und macht mir Platz. In Deutschland erlebe sie das nicht, da fläzten sich die Jugendlichen ungerührt auf den Sitzen, anstatt ebendiese den älteren Leuten anzubieten.

Es stimmt, mir ist der Unterschied auch schon vor Jahren aufgefallen. Und vor kurzem habe ich mich erneut davon überzeugen können. Hamburg, volles Linienboot auf der Elbe. Blauer Himmel, alle tummeln sich auf dem Sonnendeck, nur wenige Leute haben einen der begehrten Stühle an einem der runden Tische bekommen. Ich gehöre dazu. In Richtung Övelgönne wird es immer voller. Irgendwo zwischen zwei Stationen lasse ich meinen Blick über die Leute auf dem Deck wandern. Ich sehe, was die anderen nicht zu sehen scheinen: Da steht eine schwangere Frau. Unbegreiflich: Das darf natürlich nicht sein. Mehr als zehn Jahre Tschechien sind in dieser Hinsicht eine Schule: Selbstverständlich räume ich meinen Platz. In Prag wären die Leute schon längst aufgesprungen! Alles andere gilt als unhöflich.

Diese Galanterie fehlt in Deutschland. Aber ein Fehler wäre, nun einen allgemeinen Schluss über die Gesellschaft beider Länder zu ziehen. Denn wehe dem, der in der tschechischen Hauptstadt aus Bus, Metro oder Straßenbahn steigt. Wenige Schritte weiter wandelt sich das Bild zur Gänze: Dr. Jekyll und Mr. Hyde, from Dusk till Dawn, die Verwandlung.

Am Straßenrand steht man sich die Beine in den Bauch. Hier herrscht das Recht des Stärkeren und die Schwächeren haben das Nachsehen. Jeden Tag werde ich darüber erneut belehrt. Tote Fußgänger auf dem Zebrastreifen sind in Tschechien keine Seltenheit. Auch das: unbegreiflich!

Zum Glück weiß ich von den Toten nur aus der Zeitung. Auch ist bisher keiner meiner Freunde im Krankenhaus gelandet ist, weil sein Vorrecht als Fußgänger unter die Räder gekommen wäre. Aber einer meiner Bekannten hat sich mal einem Autofahrer auf die Motorhaube geschmissen. Aus Protest, weil der Wagen nur Zentimeter vor seinen Beinen zum Stehen gekommen war.

Es sind nur zwei kleine Ausschnitte aus dem Leben in dem einen und in dem anderen Land. Es scheint jedoch, als ob es einiges zu lernen gibt –auf der einen wie auf der anderen Seite: Deutsche von Tschechen und Tschechen von Deutschen.