Unbekannte tschechisch-polnische Geschichte im Roman: „Die schiefe Kirche“
Fiktive Chronik einer verlorenen Stadt – so heißt der Untertitel des Romans „Šikmý kostel“ (auf Deutsch „Die schiefe Kirche“) von Karin Lednická. Die Autorin schildert darin die Schicksale mehrerer Generationen von Einwohnern der oberschlesischen Kohleregion. Lednická öffnet dabei ein für die meisten Leser eher unbekanntes Kapitel aus der tschechischen und polnischen Geschichte.
Die Kirche des heiligen Petrus von Alcantara, die in Folge des Untertagebaus 40 Meter tief eingesunken ist und schief steht – das ist alles, was von der heute nicht mehr existierenden Bergbaugemeinde Karvinná / Karwin geblieben ist. Eben dort spielt die Handlung der Romantrilogie „Šikmý kostel“ („Die schiefe Kirche“). Karin Lednická hat den ersten Band 2020 veröffentlicht und damit für eine Sensation sowohl bei Kritikern und als auch beim Publikum gesorgt. Gegenüber Radio Prag International charakterisiert die Autorin ihr Werk so:
„Es ist eine fiktive Chronik einer verlorenen Stadt. Die Stadt, die es heute nicht mehr gibt, ist sozusagen eine der Romanfiguren. Ich vermittle den Lesern die Geschichte dieser Stadt durch die Geschichten von Menschen, die dort gelebt haben. Ich schildere, wie sich ihr Leben im Laufe der Jahrzehnte verändert hat.“
Bergbaugemeinde Karwin von 1894 bis 1960
Das ehemalige Hirtendorf Karwin erlebte im 19. Jahrhundert dank der Kohleförderung einen enormen Aufschwung. Es wuchs zu einer Bergbaugemeinde mit 5000 Einwohnern an. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschwand der Ort – ebenfalls wegen des Bergbaus – von der Landkarte. Seine Einwohner wurden einige Kilometer weiter angesiedelt, so entstand die heutige Industriestadt Karviná. Eben dort wurde Karin Lednická 1969 geboren. In ihrem neuen Prosawerk hat sie daher eine Chronik ihrer oberschlesischen Heimatregion vorgelegt:
„Ich habe mir nicht vorgenommen, einen Roman zu schreiben. Ich wollte eine Erzählung über die Straße verfassen, die die schiefe Kirche vom Friedhof trennt. Es ist eigentlich eine Autobahn. Die Geschichte sollte davon handeln, wie schwer es ist, einen Menschen würdevoll zu begraben, wenn man den Sarg über eine vierspurige Autobahn tragen muss. Nachdem ich angefangen habe, Material zu sammeln und mit Leuten zu sprechen, stellte ich fest, dass es viel mehr Material gibt als für eine Kurzerzählung. Also habe ich angefangen, einen Roman zu schreiben. Und letztlich arbeite ich nun an einer Roman-Trilogie.“
Der Roman beginnt mit einem Bergunglück. 1894 wurden insgesamt 235 Menschen getötet, als es in den Gruben von Karwin zu einer Serie von Explosionen kam:
„Von Anfang an war mir klar, dass ich mit 1894 anfangen wollte. Dies war die größte Bergbaukatastrophe im Kohlerevier von Ostrava-Karviná, die es je gegeben hat. Ich wollte sie beschreiben, denn heute weiß man fast nichts mehr darüber.“
Barbora verliert beim Bergunglück ihren Mann und ihren Sohn und muss sich nun mit ihren drei Töchtern alleine durchschlagen. Mittels dieser Situation werden die Leser in die Handlung eingeführt. Am Schicksal der Witwe Barbora und ihrer Töchter sowie weiterer Familien aus Karwin erleben die Leser den Aufschwung der Bergkolonie sowie des nahen Kurortes Darkov mit, aber auch den Ersten Weltkrieg und die sich zuspitzenden nationalistischen Konflikte zwischen Tschechen und Polen in der Region. Der erste Teil der Trilogie endet mit dem siebentägigen Krieg zwischen der Tschechoslowakei und Polen 1921. Im zweiten Teil wird der Leser bis 1945 begleitet. Nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch das nationalsozialistische Deutschland müssen die Hauptfiguren nun nicht zwischen zwei, sondern sogar zwischen drei Nationalitäten wählen. Doch wie man sich entscheidet, geht man ins Verderben. Auf diejenigen, die sich als Deutsche anmelden, wartet die Front des Zweiten Weltkriegs. Die Polen müssen in Internierungslagern Zwangsarbeit für das Deutsche Reich leisten. Und die Tschechen werden aus der Gegend vertrieben, ohne Recht auf Rückkehr. Die neuen Staatsgrenzen beherrschen nicht nur die Landkarten, sondern auch die Familien und beeinflussen kompromisslos ihr Schicksal.
Unbekannte Geschichte des tschechisch-polnischen Grenzgebiets
Die Geschichte der oberschlesischen Region wurde in der Literatur bisher kaum bearbeitet und ist vielen Menschen nicht geläufig:
„Das liegt gewissermaßen daran, dass in jedem Jahrzehnt des 20. Jahrhundert ein Grund bestand, warum man über diese Dinge nicht sprechen sollte oder durfte. So wurde die Geschichte allmählich verwischt, und letztlich haben selbst die in der Region lebenden Menschen diese weitgehend vergessen. In der Schule wurde nichts davon unterrichtet, und das nicht einmal in der Region selbst. Wie hätte dann irgendjemand in Prag oder anderswo davon wissen können? Es wurde nicht darüber gesprochen, weil darüber nicht gesprochen werden durfte.“
Die Trilogie basiert auf authentischen Erinnerungen vieler Menschen aus der Gegend. Doch ein genaues Vorbild für die eine oder andere Figur hat Lednická nicht gehabt:
„Bei keinem der Charaktere habe ich den Lebenslauf einer konkreten Person von A bis Z übernommen. Dennoch verwende ich sehr viel Oral History. Ich wähle Fragmente aus mehreren Leben aus und verbinde sie, damit die Handlung gut funktioniert. Sie basiert auf wahren Geschichten. Interessanterweise passiert mir in letzter Zeit immer häufiger, dass ein Leser kommt und das, was reine Fiktion ist, als die Lebensgeschichte seiner Großmutter bezeichnet. Man fragt mich, wie ich davon erfahren habe. Und ich sage, ich habe es erfunden. Selbst so etwas kann passieren.“
Das Gerüst der Romane sei die wahre Geschichte, betont die Autorin. Sie plant, ihre Saga mit dem Jahr 1960 zu beenden:
„Die Handlung basiert auf realen Ereignissen, daher weiß ich ganz genau, was in meinen Büchern passieren wird. Ich weiß, dass im dritten Teil der Kommunismus kommt, dass die Stadt zusammenbricht, die Schauprozesse beginnen und Todesstrafen verhängt werden. Dass die 1960er Jahre für das alte Karvinná die Zeit von Zerstörung und Vernichtung bedeutet haben. Genau in dem Moment will ich abbrechen, denn danach gibt es nichts mehr zu schreiben.“
Letzter Band der Trilogie kommt noch
Die Lektüre des Romans ist sehr anspruchsvoll, die beschriebenen Schicksale düster und drückend. Immer wenn die Hoffnung auf bessere Zeiten aufkeimt, kommt ein weiterer Schicksalsschlag.
„Die Lektüre ist schwierig, aber das Schreiben vielleicht noch mehr. Manchmal muss ich eine Pause machen, um durchatmen zu können. Beim Verfassen des zweiten Teils wurde ich mir in einer Phase bewusst, dass ich bald eine schlimme Passage werde schreiben müssen, die ich wirklich nicht schreiben wollte. Da begann ich, mit mir selbst zu hadern. Ich könne dies den Figuren doch nicht antun, waren meine Gedanken. Ich habe dann versucht, mir das selbst auszureden. Aber es ist eine Chronik, da darf nichts Grundlegendes fehlen.“
„Die schiefe Kirche“ ist der Debütroman, den die Autorin mit 50 Jahren veröffentlicht hat. Aber auch schon vorher war sie im Literaturbetrieb tätig. Als Übersetzerin aus dem Englischen und Verlagsleiterin hat sie seit den 1990er Jahren das Schreibhandwerk erlernt.
„Ich habe einige hundert Bücher herausgegeben, was eine sehr gute Vorbereitung war. Ich habe so einen Einblick bekommen, wie verschiedene Autoren und Übersetzer arbeiten. Es wäre seltsam, wenn ich in diesen 25 Jahren Arbeit nichts mitbekommen hätte.“
Mit der Trilogie „Die schiefe Kirche“ beschäftigt sich Karin Lednická seit ungefähr sieben Jahren. Wann genau sie den letzten, dritten Band fertigschreibt, kann sie derzeit aber noch nicht sagen.
„Das ist schwierig abzuschätzen. Das Schreiben ist eine kreative Arbeit, die nicht auf Befehl funktioniert. Der dritte Teil wird zudem anspruchsvoller sein als die beiden früheren. Denn ich werde mit den Erinnerungen noch lebender Menschen arbeiten. Und ich habe viel mehr Material als zuvor zur Verfügung. Da muss ich mich dann durchbeißen und herausfinden, welchen Weg ich gehen soll. Im Moment habe ich ihn noch nicht im Kopf.“
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