Das alte Karwinna und seine schiefe Kirche

Kirche des hl. Petrus von Alcantara (Foto: Hellooo, Wikimedia Commons, CC0 1.0)

Im industriellen Ballungsraum von Ostrava / Ostrau und Karviná in Mährisch-Schlesien liegt das sogenannte „tschechische Pisa“. So wird die schiefe Kirche des hl. Petrus von Alcantara genannt. Sie ist das letzte architektonische „Überbleibsel“ einer Gemeinde, die es heute nicht mehr gibt.

Kirche des hl. Petrus von Alcantara  (Foto: Hellooo,  Wikimedia Commons,  CC0 1.0)

Bronislav Szyja  (Foto: Jitka Mládková)
Wer die Gegend nicht kennt, braucht zunächst sicher eine kleine Namenskunde.

„Hier befinden wir uns in der Kirche des hl. Petrus von Alcantara im ehemaligen Karvinná. Einst lebten hier weit über 20.000 Menschen“, so Bronislav Szyja zu Beginn seiner Führung durch die Geschichte des Ortes.

Die Kirche steht direkt neben einem Schlammsee im Grünen, in der Ferne sind die Fördertürme einiger Kohleschächte zu sehen. Es ist der praktisch menschenleere Stadtteil namens Karviná-Doly. Auf Deutsch bedeutet „Doly“ ganz einfach Kohlegruben. Knapp zwei Kilometer entfernt befindet sich die frühere Stadt Fryštát, einst Freistadt auf Deutsch und Frysztat auf Polnisch. Diese bis Mitte des 20. Jahrhunderts selbständige Kreisstadt mit überwiegend deutschsprachiger Bevölkerung wurde 1949 in Karviná umbenannt. Die Verwendung des Namens Fryštát war bis 1971 offiziell verboten. Er sollte wegen seiner deutschen Wurzeln in Vergessenheit geraten, wünschten sich die kommunistischen Machthaber. Dazu ist es aber nicht gekommen.

Kirche des hl. Petrus von Alcantara  (Foto: Ayame89,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0)
Für einen uneingeweihten Karviná-Besucher ist es aber manchmal ein Problem, sich in den Namen der Stadtteile zurechtzufinden. Das liegt nicht zuletzt an variierenden Schreibweisen.

An das frühere Karwinna erinnert also die alte Kirche, die den Namen des spanischen Heiligen Petrus von Alcantara trägt. Ihre Geschichte spiegelt sozusagen auch die der umliegenden Region. Bronislav Szyja ist Mitarbeiter der zuständigen Diözese Ostrava-Opava / Ostrau-Troppau:

„Laut der Forschung wurde der Name der früheren Gemeinde Karwinn vom altslawischen ‚karwa‘ abgeleitet. Auf Tschechisch bedeutet das ‚kráva‘ und auf Deutsch ‚Kuh‘. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts war es eine der Siedlungen, in der in dieser Region überwiegend Viehzucht betrieben wurde. Aber nicht nur. Der Überlieferung nach sammelten Mönche des Benediktinerklosters aus dem nahe gelegenen Orlová hier Kräuter. Und dabei fanden sie eine Salzquelle, die unter Tage entsprang. Damit erschloss sich der Weg zum Salzhandel, von dem auch die Mönche profitierten. Die Gegend lag damals an der sogenannten Bernsteinstraße, die die Ostsee mit der Adria verband. So wurde Karwinna nicht erst durch die Kohleförderung berühmt, sondern eben bereits durch den Salzhandel.“

Viehzucht, Salz und Steinkohle

Kirche des hl. Petrus von Alcantara in den 1930er Jahren  (Quelle: Staatliches Bezirksarchiv Karviná)
Der Aufstieg zur Montanregion begann allerdings erst 1776. Damals stieß man im Herrschaftsbereich von Graf Jan Erdmann Florian Larisch auf Kohle. Einer seiner Vorfahren war es, der mehrere Jahre zuvor bereits die Barockkirche in Karwinna erbauen ließ:

„Der Bau der Barockkirche des hl. Petrus von Alcantara begann 1736 im Auftrag von Franz Wilhelm Larisch. Zwölf Jahre später erhielt der vorherige Freiherr von Lhota und Karwinna die böhmische Grafenwürde, bestätigt durch ein kaiserliches Diplom. Der Neubau entstand am Ort der früheren Martinskirche, die aber aus Holz gewesen war. Von ihr ist als Einziges das steinerne gotische Taufbecken erhalten. Diese Martinskirche wurde 1447 erstmals erwähnt. Ob sie vielleicht einem Brand zum Opfer fiel, ist nicht bekannt. Um ihren Grundriss herum wurde der um einen Meter großzügigere Grundriss der neuen Barockkirche gezogen. Auch sie hieß zunächst Martinskirche. In den Fußboden wurde eine Familiengruft eingelassen. Die Weihe wurde 1759 vom Breslauer Bischof Philipp Gothard von Schaffgotsch vorgenommen. Zehn Jahre später jährte sich zum 100. Mal die Heiligsprechung des spanischen Franziskanerreformators Petrus von Alcantara durch Papst Gregor XV. Aus diesem Anlass erhielt die Kirche bei einer erneuten Weihe ihren heutigen Namen.“

Der Heilige sei damals offenbar in einigen Ländern Europas populär gewesen, meint Szyja. Heute gehöre er zu den bedeutendsten Schutzpatronen Brasiliens. In der Kirche von Karviná befindet sich allerdings keine Reliquie von ihm. Stattdessen trifft man dort logischerweise auf ein Gemälde der Märtyrerin Barbara. Sie gilt hierzulande vor allem als Schutzheilige der Bergleute und Stahlkocher.

Grube Gabriela  (Quelle: Staatliches Bezirksarchiv Karviná)
Für den Aufschwung der gesamten Region um Karviná sorgte in der Folge der älteste Sohn des Kirchenerbauers, Johann Josef Larisch, Geheimrat und Landeshauptmann des Fürstentums Těšín / Teschen. 1790 heiratete er Anna Freiin von Mönnich. Ihr Vater verfügte in seinem Testament, dass der Name und das Wappen seiner Familie mit jenem des Hauses Larisch verbunden werden sollten. Auch dafür benötigte man eine Bestätigung durch den Kaiser.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts betrieb die Familie Larisch-Mönnich eine der größten Förderfirmen im Kohlerevier von Ostrau und Karviná. Sie umfasste insgesamt 34 Schächte. Einer davon wurde in der Nähe der Kirche des hl. Petrus von Alcantara in den Boden getrieben. Es war die Grube Gabriela.

Kohleförderung unter der Kirche

Kirche des hl. Petrus von Alcantara  (Foto: Hellooo,  Wikimedia Commons,  CC0 1.0)
Die Steinkohle wurde zum Motor der Industrialisierung und Nordmähren zum wichtigsten industriellen Zentrum der Habsburger Monarchie. Dies lockte massenhaft Zuwanderer vor allem aus armen Regionen wie zum Beispiel dem östlichen Galizien in die Gegend. Der Bergbau prägte zunehmend Landschaft und Leben. Die Region verwandelte sich zu einem Schmelztiegel mit tschechisch-, deutsch- und polnischsprachiger Bevölkerung. Dazu kamen die negativen Auswirkungen extensiven Bergbaus, die auch Karwinna nicht verschonten. Die Barockkirche des hl. Petrus von Alcantara kann dafür als stummer Zeuge herhalten. Bronislav Szyja:

„1854 wurde auch in einem Schacht unter der Barockkirche die Kohleförderung aufgenommen. Damals lag die Erdoberfläche 40 Meter höher als heute. Wegen der Hohlräume unter Tage begann der Boden unter der Kirche, langsam abzusinken. Dabei neigte sie sich auch immer weiter zur Seite. In jedem Fall versuchte man, das Gewicht des Kirchenbaus zu reduzieren. Deswegen wurde die brüchige Ziegeldecke durch eine neue aus Holz ersetzt. Vor rund zwei Monaten haben hier Fachleute auch die seitliche Neigung der Kirche ermittelt, sie weicht um 6,8 Grad von der senkrechten Achse ab. Dies wurde sowohl auf klassische Weise festgestellt als auch mit modernster Lasertechnologie.“

Die Neigung des Turms von Pisa ist öffentlichen Angaben zufolge nur wenige Zehntelprozent größer. Ein guter Grund für Karvinás Einwohner, ihre alte Kirche als „tschechisches Pisa“ zu bezeichnen. Hätte man aber den Sakralbau vor mehr als 20 Jahren nicht saniert, gäbe es ihn heute bestimmt nicht mehr. Anfang der 1990er Jahre war seine Statik so ernsthaft beeinträchtigt, dass die Kirche einzustürzen drohte. Um die Sanierung musste aber hart gekämpft werden:

Kirche des hl. Petrus von Alcantara  (Foto: Qasinka,  Wikimedia Commons,  CC0 1.0)
„Anstatt sie zu sanieren wollten die offiziellen Stellen die Kirche wiederholt abreißen lassen. Dazu gab es auch bereits eine Genehmigung der zuständigen Behörde. In der ersten Phase wurde ein Teil des Turmmauerwerks entfernt. Der damalige Pfarrer der Kirche, Ernest Dostál, wollte aber den Abriss um jeden Preis verhindern. Er war unnachgiebig. In Zusammenarbeit mit einem Rechtsanwalt trat Dostál in einen Briefwechsel mit den Behörden. Er drohte sogar, sich an den internationalen Gerichtshof in Den Haag zu wenden. Letztlich verständigten sich zwei nahe gelegene Kohlebergwerke darauf, die Kirche auf eigene Kosten in Höhe von zehn Millionen Kronen zu retten.“

Sanierung statt Abriss

Kirche des hl. Heinrich  (Quelle: Staatliches Bezirksarchiv Karviná)
Die Sanierungsarbeiten begannen 1994 und dauerten ein Jahr lang. So wurden die Außenwände der Kirche mit Beton gestützt. In den Beton wurden auch sogenannte H-Anker eingelassen, um von außen ein Stahlseil um die Kirche zu spannen. Einige Jahre später mussten die Fundamente des Baus wegen aufsteigendem Grundwasser erneut freigelegt und isoliert werden.

Wer heute den Ort besucht, dem kommt die schief stehende Kirche wie eine Erscheinung vor inmitten der entvölkerten Gegend. Denn längst nicht jeder dürfte wissen, dass sich hier nicht nur Kohlegruben befanden, sondern eine ganze Stadt mit zahlreichen kunsthistorisch wertvollen Gebäuden. Doch die Kirche des hl. Heinrich mit Plätzen für insgesamt 4000 Gläubige, das Rathaus, die Stadtsparkasse, der Bahnhof, die Brauerei, die Kulturhäuser, die polnische Klosterschule und vieles mehr bestehen nur noch auf alten Fotos. All diese Bauten und viele mehr mussten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dem Bergbau weichen. Alt-Karvinná hatte damals fast 30.000 Einwohner und über 1800 Häuser unterschiedlicher Größe. Heute sind es fünf Mietshäuser mit rund 500 Bewohnern. Trotzdem ruft das Glockengeläute der sogenannten „Alten Kirche“ regelmäßig zur Messe.

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