„Václav Havel hat die Mitverantwortung jedes Bürgers betont“

Vor zehn Jahren ist der tschechische Präsident, Dramatiker und Bürgerrechtler Václav Havel gestorben. Auch der heutige Prager Bischof Václav Malý war einer der bekanntesten tschechischen Dissidenten. Der Regimegegner bekam als Priester Berufsverbot, 1979 saß er im kommunistischen Gefängnis. Anfang der 1980er Jahre war Malý dann Sprecher der Charta 77. Während der Samtenen Revolution standen er und Václav Havel bei den Demonstrationen meist gemeinsam auf dem Podium. Der Bischof engagiert sich neben seiner Arbeit in der katholischen Kirche auch stark für politische Gefangene in Ländern mit totalitären Regimes. Martina Schneibergová hat mit dem Geistlichen über Václav Havel und dessen Vermächtnis gesprochen.

Václav Malý | Foto: Michal Krumphanzl,  ČTK

Herr Bischof Malý, wann haben Sie Václav Havel kennengelernt?

„Ich habe Václav Havel 1977 in der Wohnung von Václav Benda (Dissident und späterer konservativer Politiker, Anm. d. Red.) am Karlsplatz in Prag kennengelernt. Das war zum ersten Mal. Vorher kannte ich nur seine Schriften. Ich habe auch seinen sehr berühmten Brief an Staatspräsident Gustáv Husák gelesen. Das war 1975.“

Im Rahmen des Projektes „Zehn Jahre ohne Václav Havel“ werden Ihnen wie vielen anderen Persönlichkeiten aus Tschechien und dem Ausland einige Fragen gestellt. Dazu gehört auch die Frage: Was fällt Ihnen ein, wenn man den Namen „Václav Havel“ sagt?

Erinnerung an Václav Havel | Foto: David Taneček,  ČTK

„Er hat vor allem auch die geistliche Ebene des menschlichen Lebens hervorgehoben. Das war sehr bedeutend. Hinzu kommen die bürgerliche Verantwortung sowie die Frage des Gewissens. Diese Werte sind auch heutzutage wichtig, aber in der politischen Szene haben sie oft keinen Platz. Ich schätze Václav Havel sehr, weil er eben diese Werte in die Politik mitgebracht hat.“

In den letzten Jahren hat sich die Stimmung in der Gesellschaft gravierend verändert. Es scheint, als ob für viele Tschechen die Menschenrechte gar keine Rolle mehr spielen. Woran liegt das?

„Tschechische Politiker haben vergessen, dieser Problematik ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Es gibt natürlich Ausnahmen. Aber die offizielle politische Repräsentanz hat sehr lange dazu geschwiegen. Das ist nicht gut. Denn das Vermächtnis von Václav Havel ist ja, dass die Menschenrechtsfrage auch zur hohen Politik gehört. Hierzulande wächst zudem das Misstrauen gegenüber der Europäischen Union. Sie wird öffentlich kritisiert, dabei ist die einzige Chance für unsere Gesellschaft und unseren Staat, ein Teil der EU zu sein und die gegenseitigen Verbindungen innerhalb der Union zu vertiefen. Auch wird das Bewusstsein der Gesellschaft gestärkt, wenn man wahrnimmt, dass die EU so wichtig ist. Darüber muss häufiger objektiv gesprochen werden. Einen weiteren Mangel in der heutigen Gesellschaft sehe ich darin, dass die Fähigkeit zu diskutieren langsam verloren geht. Leider herrscht die schlechte Überzeugung vor, dass derjenige automatisch ein Feind ist, der anders denkt. Die Diskussion fehlt. Es gibt nur Menschen, die politische Meinungen vortragen und deuten, aber nicht die Lage und die politischen Aussichten besprechen. Ich finde, dass unsere Gesellschaft derzeit krank ist. Ich möchte dabei betonen, dass dies keine Tragödie ist. Aber trotzdem muss es geändert werden.“

Wie lässt sich dies ändern?

„Wir müssen den Politikern klar machen, dass wir von ihnen etwas Besseres hören wollen. Dass sie nicht nur über die wirtschaftliche Lage, sondern auch über die Werte und über die Lage in der Welt sprechen sollen. Wir sind keine isolierte Insel, sondern ein wichtiger Teil Europas. Der Gedanke der Zivilgesellschaft muss vertieft werden. Das beginnt schon auf dem Lande. Man darf die Verantwortung nicht nur auf die Politiker schieben. Es ist aber eine Aufgabe für das ganze Leben, immer zu ermutigen, immer zu erklären. Auch die Medien sind da gefordert. Ihre Arbeit sollte meiner Meinung nach mehr in die Tiefe gehen. Wir brauchen gute Kommentare und gut zusammengestellte Nachrichten – damit nicht nur nach Schlagzeilen darüber geurteilt wird, was gut und was schlecht ist.“

Meinen Sie, dass es zur Boulevardisierung der Medien gekommen ist?

Illustrationsfoto: Khalil Baalbaki,  Tschechischer Rundfunk

„Ja, die Medien sind boulevardisiert worden, natürlich aber nicht alle. Häufig wird nach Sensationen gesucht. So werden beispielsweise die Aufgaben der EU und ihre Strukturen nicht ausreichend erklärt. In diesem Bereich muss vieles nachgeholt werden. Hinzukommt, dass die Bevölkerung einigermaßen verwöhnt ist. Václav Havel würde vermutlich sagen: Wir müssen als Bürger die Mitverantwortung tragen. Wir können nicht nur passiv zusehen, was sich auf der politischen Szene abspielt. Wir sollten aktive Mitglieder der Zivilgesellschaft sein. Ich bin davon überzeugt, dass das heute das Thema von Václav Havel wäre, wenn er noch leben würde.“

Herr Bischof, Sie wurden vor kurzem für Ihren persönlichen Einsatz für die Menschenrechte mit der höchsten französischen Staatsauszeichnung – dem Orden der Ehrenlegion – geehrt. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Orden der Ehrenlegion | Foto: Josh Graciano,  Flickr,  CC BY-SA 2.0

„Ich habe mich über die Auszeichnung natürlich gefreut. Aber mein Leben entwickelt sich nicht in Abhängigkeit von verliehenen Auszeichnungen. Es war für mich eine Freude, aber ich bin sehr zurückhaltend.“

Sie sind oft auf Reisen – heutzutage wegen der Corona-Lage stärker in Tschechien als im Ausland. Für einen Teil der Bevölkerung sind Sie vermutlich immer noch vor allem derjenige, der die großen Demonstrationen im November 1989 moderiert hat, bei denen über 750.000 Menschen in Prag zusammenkamen. Wie sind Ihre jüngsten Erfahrungen aus den Diskussionen mit den Menschen?

„Ich habe eigentlich sehr gute Erfahrungen. Verhältnismäßig oft fahre ich aufs Land oder in kleinere Städte, ich werde oft zu Treffen und Debatten eingeladen. In jedem Dorf oder in jeder Kleinstadt findet sich jemand, der aktiv ist, der Kulturveranstaltungen organisiert und verschiedene Bürgerinitiativen unterstützt. Ich würde sagen, es ist nicht aussichtslos. Man muss mit den Menschen sprechen, ihnen die Dinge erklären, aber dabei bescheiden bleiben. Man darf nicht moralisieren, sondern muss sie ermutigen. Dank meinen Erfahrungen bin ich in dieser Hinsicht kein Pessimist.“