„Verschwörer hinter den Kulissen der Sozialdemokratie“ – Tschechischer Antisemitismus zu Ende des 19. Jahrhunderts
Der Antisemitismus in Europa betritt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die politische Bühne und wird zu einem Instrument der Nationalbewegungen. In den böhmischen Ländern wurde der Antisemitismus bisher immer als Nebenprodukt des Nationalitätenkampfes zwischen Deutschen und Tschechen beschrieben. Der Prager Historiker Michal Frankl hat nun mit seiner Dissertation eine Studie vorgelegt, die den tschechischen Antisemitismus näher untersucht und ihn in die europäische Entwicklung einordnet.
Herr Frankl, Sie sind Historiker, Politikwissenschaftler und arbeiten am Jüdischen Museum Prag. Vor kurzem ist ihre Doktorarbeit auf Deutsch erschienen, Sie heißt „Prag ist nunmehr antisemitisch“. Tschechischer Antisemitismus am Ende des 19. Jahrhunderts. Wie viele Juden lebten in den böhmischen Ländern am Ende des 19. Jahrhunderts und wie lässt sich ihre Lebenswelt beschreiben?
„In den böhmischen Ländern lebten um 1900 etwa 90.000 Juden in Böhmen und rund 40.000 in Mähren. Ihre Lebenswelt lässt sich sicher nicht einfach beschreiben, aber es eine Zeit der Änderungen. Diese Änderungen kann man teilweise als Integration in die nicht-jüdische Gesellschaft beschreiben, teilweise als Säkularisierung, vor allem in Böhmen. Daneben lässt sich auch ein sprachlicher Wandel beobachten. Vor allem in Böhmen wenden sich einige Juden der tschechischen Sprache zu, obwohl die meisten Juden beide Landessprachen, das Tschechische und das Deutsche beherrscht haben. Sehr wichtig war für sie die sich immer weiter verschärfende Trennung zwischen der sprachlich-national tschechischen und deutschen Gesellschaft. Man kann zwar nicht davon sprechen, dass die Juden zwischen den beiden Gesellschaften lebten oder von beiden angegriffen wurden, aber es war sehr bedeutend, dass die Juden sich einen Weg durch diese Nationalisierung der Deutschen und Tschechen suchen mussten.“
Warum betonen Sie im Titel den tschechischen Antisemitismus?„Es wurde bisher sehr wenig über den tschechischen Antisemitismus geforscht und geschrieben. Es herrschte und herrscht auch jetzt noch die Vorstellung, dass es zwar einen solchen gab, der tschechische Antisemitismus sich jedoch vom deutschen, französischen oder polnischen dieser Zeit unterschied. Man dachte immer, beim tschechischen Antisemitismus habe es sich um einen Ausdruck des Konflikts zwischen den Tschechen und Deutschen gehandelt. Es war mir ein Anliegen zu zeigen, dass sich der tschechische Antisemitismus, trotz manchen Unterschieden, aus ähnlichen Ursprüngen entwickelte wie der deutsche oder der deutsch-österreichische Antisemitismus. Es hat sich, vor allem in den 1880er Jahren, um eine Bewegung gehandelt, die sich gegen den Liberalismus wendete, nach internen Feinden suchte und dabei mit Verschwörungstheorien arbeitete. Natürlich ist es ein Phänomen, das man in Mitteleuropa sehr gut vergleichen kann und damit ich das zeigen konnte, musste ich den tschechischen Antisemitismus separat beschreiben.“
Sie nennen ihn einen „modernen Antisemitismus“. Wo ist der Unterschied zum „nicht-modernen“?
„Eine der gängigsten Antworten, die auch in vielerlei Hinsicht richtig ist, besagt, dass der moderne Antisemitismus die Juden nicht mehr als Anhänger einer Religion ansieht, sondern als eine Rasse und es sich damit zunehmend um einen biologischen Antisemitismus handelt.“
Lässt sich das dann auch für den tschechischen Antisemitismus feststellen?
„Beim tschechischen Antisemitismus handelt es sich nicht immer um einen biologischen Antisemitismus, übrigens zu dieser Zeit oft auch beim deutschen nicht. Die ersten Antisemiten, antisemitische Agitatoren, Politiker und Journalisten, die Mitte der 1880er Jahre in der tschechischen Gesellschaft tätig waren, wendeten sich gegen die Integration der Juden in die nationale Gesellschaft. Vorher war es zwar so, dass die tschechischen Journalisten fast tagtäglich über die Juden schimpften, wie sie die deutsche Sprache gebrauchten und nicht die tschechische, es gab jedoch immer die Perspektive der nationalen Integration der Juden. Es wurde ihnen versprochen, falls sie tschechisch sprächen, würden sie aufgenommen werden. Das hörte mit dem Antisemitismus auf. Deswegen lässt sich auch sagen, dass die Antisemiten die Juden als eine definitiv separate, nicht assimilierbare Gruppe betrachteten. Das ist schon eine Art von Rassismus, auch wenn er oft ohne den Begriff „Rasse“ auskommt.
Wie genau äußert sich denn dann Antisemitismus in den böhmischen Ländern?„Von antisemitischer Propaganda über Boykottaufrufe und antisemitische politische Parteien und Bewegungen bis hin zu antijüdischer Gewalt. Der tschechische Antisemitismus agierte in den 1880er Jahren, trotz vieler Gruppen, die sich als antisemitisch profilierten, am Rande des politischen Diskurses. Und im Vergleich zu Wien, nicht zu sprechen über Deutschland, war er ein verspäteter Antisemitismus. Ein Grund dafür war meiner Meinung nach, dass es bis zum Ende der 1880er Jahre hierzulande nur eine politische Bewegung gab. Sie bestand aus zwei Parteien, den so genannten Alttschechen und den demokratischeren, aber auch radikaleren Jungtschechen. Beide waren liberale Parteien und der Antisemitismus kam erst auf, als sich diese Dominanz einer gesamtnationalen politischen Bewegung langsam auflöst. Das passiert in den 1890er Jahren, als sich die katholischen politischen Parteien und die Sozialdemokratie viel intensiver entwickelten. Dazu kamen noch verschiedene radikal-nationalistische Parteien, wie die National-Sozialen und die Staatsrechtspartei.“
Es geht also um die Mobilisierung eines Feindbildes, um die eigenen Kräfte zur Einigung aufzurufen?„Ja, absolut. Das ist etwas, was wir ab den 1860er Jahren bis zum Ende der Monarchie beobachten können. Die politische Sprache wird immer radikaler und vor allem in den 1890er Jahren wird sehr intensiv mit Feindbildern gearbeitet, dass sind aber nicht unbedingt nur Juden. Die Frage ist dann aber, warum die Juden in der Mitte der 1890er Jahre zum Feindbild Nummer 1, oder zumindest zum Feindbild Nummer 2 nach den Deutschen, werden. Entgegen der gängigen Interpretation, dass sich der tschechische Antisemitismus als ein Nebenprodukt des nationalen Konflikts zwischen Deutschen und Tschechen entwickelte, wurde er ein essentieller Bestandteil des tschechischen politischen Diskurses im Rahmen der Wahlen in den Reichsrat 1897. Bei diesen Wahlen durfte zum ersten Mal ein Teil der Abgeordneten durch allgemeine Wahlen bestimmt werden und deswegen gelangten auch einige sozialdemokratische Abgeordnete nach Wien. Das hatte wiederum zur Folge, dass sowohl die katholischen Politiker als auch die tschechischen Nationalisten gegen die Sozialdemokratie mobilisierten, und zwar mit Hilfe des Antisemitismus. Das bedeutet, die Juden wurden als die Verschwörer, die Wortführer hinter den Kulissen der Sozialdemokratie dargestellt. Sie sollen versucht haben, durch den Sozialismus die Integrität der tschechischen nationalen Bewegung zu unterminieren und zu zerstören, um die Welt besser beherrschen zu können. So etablierte sich Antisemitismus wirklich im Zentrum des politischen Diskurses. Der Erfolg einer Ritualmordbeschuldigung, wie 1899 in Polná, der so genannten „Hilsner-Affäre“, lässt sich auch gar nicht begreifen, ohne die lange Existenz und den Einfluss des politischen Antisemitismus zu verstehen.“
Wurden Sie, als Sie ihre Forschungsergebnisse vorgestellt haben, angegriffen?
„Mir sind keine sehr negativen Reaktionen auf mein Buch bekannt, als es auf Tschechisch erschienen ist. Allerdings bin ich auch nicht sicher, ob die Schlussfolgerungen meiner Forschungen auch wirklich aufgenommen wurden. Das hängt alles damit zusammen, dass die Forschung über die tschechische Geschichte dieser Zeit relativ schwach ist und das Thema des nationalen Konflikts zwischen Tschechen und Deutschen noch immer die zentrale Rolle einnimmt. Die Geschichte des tschechischen Antisemitismus ist wahrscheinlich noch immer eine empfindliche Frage. Man kann das meistens an Diskussionen über bekannte Persönlichkeiten feststellen. Ich habe zum Beispiel einen Workshop über den Antisemitismus des bekannten tschechischen Schriftstellers Jan Neruda organisiert. Wir haben dabei versucht, seine Ideen aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und haben sicherlich nicht zu primitiv mit dem Begriff Antisemitismus gearbeitet – aber das hat dann relativ viele negative Reaktionen ausgelöst.“
Michal Frankls Dissertation ist im vergangenen Jahr als erstes Werk der Reihe „Studien zum Antisemitismus in Europa“ in Berlin erschienen.