Vogelperspektive als Inspiration: Komponist Martinů wuchs im Kirchturm auf

St. Jakobskirche (Foto: Autorin)

Er verfasste mehr als 400 Werke verschiedener Musikgattungen und Genres, die eine wichtige Stellung in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts einnehmen - von der Oper, über Ballett bis zur Kammermusik: Bohuslav Martinů. In der Heimatstadt des Komponisten, im ostböhmischen Polička, wurde im Gebäude des Stadtmuseums vor kurzem ein Zentrum eröffnet, das seinen Namen trägt. In Polička findet man jedoch noch einige andere Stellen, die an Martinů erinnern.

Mit dem Namen von Bohuslav Martinů ist ein einzigartiger Raum verbunden, der jedoch zum Leben nicht gerade praktisch ist: das Zimmer im Turm der Jakobskirche. Am 8. Dezember 1890 wurde hier der berühmte tschechische Komponist geboren. Die Atmosphäre des kleinen Zimmers, das sich 36 Meter über der Erde befindet, hat Martinů nie vergessen. So schrieb er 1934 in einer Erinnerung aus Paris:

„Ich meine, dass dieser Raum einer der größten Eindrücke aus meiner Kindheit ist. Er spielt eine große Rolle bei meinen Kompositionen. Es sind nicht die kleinen Interessen der Menschen, die Sorgen, Schmerzen und Freuden, die ich aus der großen Entfernung oder besser gesagt aus der Höhe gesehen habe. Sondern es ist dieser Raum, den ich immer vor den Augen habe, und nach dem ich in meinen Arbeiten suche. Den Raum und die Natur, nicht die Menschen.“

Um das Turmzimmer zu besichtigen, muss man zuerst die 192 Stufen der schmalen und steilen Treppe hinaufsteigen. Alena Knotková arbeitet im Informationszentrum der Stadt. Interessierte Besucher begleitet sie gern bis hinauf. Es könne schon vorkommen, dass sie die Treppentour auch 5 - 6 mal am Tag absolviere, erzählt sie:

„Familie Martinů ist 1889 hierher gezogen, als Ferdinand Martinů, der Vater des Komponisten, hier als Turmwärter zu arbeiten begann. Als Turmwärter musste er die Turmuhr aufziehen, Glocken läuten und jede zweite Stunde rund um den Turm gehen, um mögliche Brände in der Stadt zu entdecken.“

Foto: Autorin
Zwölf Jahre lang hat Bohuslav Martinůs Vater diese Arbeit gemacht. Danach zog er mit seiner Familie in jenes Haus auf dem Marktplatz, in dem sich heute das Stadtamt befindet. Während der zwölf Jahre auf dem Turm habe es Familie Martinů gar nicht einfach gehabt, berichtet Alena Knotková:

„Man muss sich vorstellen, wie schwer es ist, einen Eimer mit Wasser, das Holz und alles andere 192 Stufen hinauf zu schleppen. Die Familie versuchte es sich wenigstens ein wenig leichter zu machen, und zwar mit Hilfe eines Flaschenzuges. Dazu diente ein Schacht, der bis heute zu sehen ist. Der Seilzug führte allerdings nur bis auf die halbe Höhe des Turms, dann musste man wieder alles per Hand weiter tragen.“

Polička  (Foto: Autorin)
Die Treppe führt steil hinauf bis zu einer Ecke. Hier standen der Begleiterin zufolge einst Schränke und Truhen mit Bekleidung, weil das Zimmer oben im Turm dafür zu klein ist.

„Hinter dieser eisernen Tür befand sich der Dachboden, wo Frau Martinů Wäsche trocknete. Sie arbeitete als Wäscherin. Sie hängte die Hemden auch oben auf dem Turmumgang auf. Unter der Treppe hat Familie Martinů auch eine Ziege gehalten. Die Ziege lebte hier angeblich zwei Jahre lang. Dann endete sie in der Bratpfanne. Das gesamte Futter musste mit dem Flaschenzug hinauf gezogen werden. Der Mist wurde auf gleichem Weg nach unten befördert.“

Hinter einer Holztür befand sich früher angeblich ein kleiner Keller. Einen Keller würde man normalerweise unter dem Haus suchen, aber hier lag er ungefähr in der Höhe der 4. Etage. Im Keller hatte man Kartoffeln, Kohle und Holz gelagert, erzählt die Begleiterin. Wenn man weiter in den Glockenturm klettern will, muss man sehr vorsichtig sein, denn der Gang ist niedrig und die Treppe sehr schmal.

St. Jakobskirche  (Foto: Autorin)
Fünf Glocken hängen im Glockenturm von Polička. Die älteste von ihnen ist die Glocke Median aus dem Jahr 1511.

„Diese Glocke hat den Großbrand überlebt, dem im Jahre 1845 fast der ganze Stadtkern zum Opfer fiel. Von 237 Häusern sind nur vier unversehrt stehen geblieben. Auch die Kirche brannte damals aus und musste abgerissen werden. An ihrer Stelle wurde diese neogotische Kirche erbaut. Die übrigen vier Glocken stammen aus den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Am häufigsten wird immer noch die Marienglocke benutzt. Die größte Glocke namens Adalbert ist stumm, weil der Klöppel geplatzt ist. Die Engelsglocke kann man während der Weihnachtszeit hören. Die historische Glocke Median läutet nur bei besonderen Gelegenheiten – zum letzten Mal war es, als Papst Johannes Paul II. starb.“

Foto: Autorin
Einige Treppen weiter kommt man an einer Tür vorbei, hinter der sich das Uhrwerk verbirgt, um das sich Herr Martinů kümmern musste. Von hier aus kommt man schon zum Turmgang und man kann das kleine Zimmer betreten, wo einst die Martinůs gelebt haben:

„Bevor der Vater des Komponisten Turmwärter wurde, arbeitete er als Schuster. Dem Schusterhandwerk blieb er auch hier im Turm treu. Unter dem Fenster stand einst ein Schusterschemel. In diesem kleinen Zimmer hielten sich während des Tages oft acht Leute auf : neben fünf Mitgliedern der Familie waren hier auch der Schustergeselle, ein Helfer des Turmwärters und ein Kindermädchen. Sie haben nicht hier nicht alle übernachtet. Man sagt, dass Bohuslav Martinů, als er noch ganz klein war, sogar in der Schublade einer Kommode geschlafen hat.“

Bis zu seinem 6. Lebensjahr hat Bohuslav kaum die unten gelegene Stadt besucht. Da er klein und schwach war, wollten ihn die Eltern schonen. Er beobachtete die Welt aus der Vogelperspektive, und als er dann runter kam, war er sehr überrascht, dass die Leute so groß sind.

„Mit 3 Jahren begann Bohuslav Martinů Violine zu spielen, die ihm der Vater auf dem Markt kaufte. Als er mit 6 Jahren begann zur Schule zu gehen, hat bereits der hiesige Musiklehrer Černovský die Begabung des Jungen erkannt. Er forderte ihn von Anfang an auf, seine Melodien zu notieren. Mit acht Jahren schrieb Martinů dann seine erste kleine Komposition.“

Alena Knotková  (Foto: Autorin)
Martinů verließ seine Heimatstadt zum ersten Mal 1906, als er nach Prag zog, um dort am Konservatorium zu studieren. Nach Polička kehrte er 1916 wieder zurück, um dort Musik zu unterrichten. Er hatte jedoch ständig Kontakte in Prag. Seit 1918 war er Mitglied der Tschechischen Philharmonie, die ihm auch dies Gelegenheit zum Komponieren bot. 1923 reiste er nach Paris, wo er bis 1940 lebte. Polička besuchte er zum letzten Mal 1938.

Noch vor seiner Reise nach Paris entstand eine kleine Klavierkomposition, die erst in diesem Jahr gefunden wurde. Eine Dame hat die Handschrift im Januar dem Prager Martinů-Institut gebracht. Untersuchungen ergaben, dass das Werk wirklich von Martinů stammt. Es heißt der „Siegesmarsch des Sportklubs R.U.R. in Polička“. Die kurze witzige Komposition schrieb der Komponist, wie er selbst auf dem Titelblatt notierte, am 1. Juli 1921 anlässlich des Siegs des Fußballteams seiner Heimatstadt. Musikwissenschaftlern zufolge bestätigt der Marsch den sportlichen Geist des Komponisten, der drei Jahre später das Orchesterrondo „Half-Time“ schrieb. Der Siegermarsch der Kicker von Polička hatte seine Weltpremiere erst vorige Woche auf einer Pressekonferenz zum Musikfestival Prager Frühling. Am Klavier war der tschechische Klaviervirtuose Petr Jiříkovský.

Bohuslav Martinůs Grab  (Foto: Autorin)
Bohuslav Martinů konnte seine Heimat nicht wieder sehen. Er lebte bis zu seinem Tod im Exil. Während des Kriegs flüchtete er aus Frankreich in die USA, 1948 kehrte er nach Europa zurück, in der Tschechoslowakei hatten inzwischen aber die Kommunisten die Macht ergriffen. Der Komponist starb 1959 in Liestal in der Schweiz. Erst 20 Jahre nach seinem Tod wurden seine sterblichen Überreste nach Polička überführt, erzählt Alena Knotková.

„Bohuslav Martinů und seine Frau Charlotte sind auf dem hiesigen Friedhof bestattet. Die Gruft befindet sich an einem Ort, von dem aus man den Kirchturm sehen kann. Vom Turm wiederum ist die Gruft zu sehen. Martinů liebte Polička sehr und er erinnerte sich gern an sein Leben im Kirchturm.“

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