Von Pflanzen und anderen Lebewesen

Marek Šindelka (Foto: Pavel Hrdlička, Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0)
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33 neue Romane tschechischer Autoren sind pünktlich zur Leipziger Buchmesse erschienen. Einer davon ist „Der Fehler“ von Marek Šindelka – eine wilde Geschichte mit einer seltenen Pflanze in einer tragenden Rolle.

Marek Šindelka  (Foto: Pavel Hrdlička,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0)
Marek Šindelka gehört mit seinen 34 Jahren bereits zu den etablierten tschechischen Autoren. Der studierte Drehbuchautor und Kulturwissenschaftler veröffentlichte zuletzt gemeinsam mit Vojtěch Mašek und Marek Pokorný die Graphic Novel „Die heilige Barbora“ über einen rätselhaften Kriminalfall nach wahren Motiven. Mit seinem Roman „Materialermüdung“ (únava materiálu“) über junge Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Europa hat er 2016 ein sehr aktuelles Thema bearbeitet. 2017 erhielt er dafür den tschechischen Literaturpreis Magnesia Litera, auch für seine Lyrik wurde Šindelka bereits ausgezeichnet. Ins Deutsche übersetzt wurde aber nun Šindelkas Debutroman „Der Fehler“ (chyba) von 2008. Bei der ewigen Suche nach der richtigen Schublade schlägt er allen Schubladensuchern ein Schnippchen: Kriminalroman, phantastischer Roman, Liebesroman, Adoleszenzroman – all das ist „Der Fehler“ und dabei immer unterhaltsam.

Die Hauptfigur, der gerade mal 24-jährige Kryštof, stirbt bereits auf Seite eins. Er liegt tot in einem Feld voller Herkulesstauden neben dem Bahngleis auf der Strecke Prag-Breslau, auf dem Bauch eine rätselhafte Narbe. Wie es soweit kommen konnte, entwirrt sich nach und nach. Die Sache ist im Wortsinn verschlungen und überwachsen, denn Kryštof war Pflanzenschmuggler. Gemeinsam mit einem Kompagnon beschaffte er reichen Europäern exotische Gewächse aus fernen Ländern: „Einige von denen kannte ich nur von Schwarzweißfotos mit der Bildunterschrift ‚ausgestorben‘“, heißt es über die exquisite Pflanzensammlung des letzten Auftraggebers, einem Oligarchen aus St. Petersburg. Eigentlich wollte Kryštof sich zur Ruhe setzen. Die Skrupel, dass er sich an der Vernichtung der seltensten Pflanzen beteiligt, werden immer größer, und finanziell hat er bereits ausgesorgt. Nur eben noch dieses spezielle Gewächs von Japan nach St. Petersburg bringen, dann sollte es das gewesen sein. Doch die Pflanze scheint ein Eigenleben zu führen…

Nutzloses Gerede nutzloser Menschen

Foto: Residenz Verlag
Außerdem wird die Geschichte von allerlei skurrilen Menschengestalten bevölkert. Da ist zu Beispiel Nährer, ein alter Zausel und Lügner vor dem Herrn. Kryštof gießt bei ihm in Prag Smíchov die Blumen und wird langsam hineingezogen in die faszinierende Pflanzenwelt. Dann ist da Kriminalkommissar Brom. Eigentlich soll er Kryštofs Tod aufklären, dann stirbt er selbst nach kurzer Zeit. Genauso die drei russischen Kontaktmänner in Wien, Prag und Breslau. Und vor allem ist da Andrej, Kryštofs ältester Freund aus Kindertagen. Ein Rebell ist er wie Kryštof, früh gestählt und abgehärtet durch gewalttätige Eltern, mit einer großen Wut auf die Welt der Erwachsenen und Arrivierten. „Jeden Tag mussten sie ihr beschränktes Gehirn erneut dazu bringen, nur ja nicht an das Wesentliche oder gar an den Tod zu denken. Die einzige Überlebensmöglichkeit bestand darin, sich mit alltäglichem zu betäuben“, wütet Andrej einmal über das „nutzlose Gerede nutzloser Menschen“. Die Freundschaft von Kryštof und Andrej ist längst zerbrochen, denn beide verliebten sich in Nina, und Nina heiratete Andrej.

Marek Šindelka verwebt sehr geschickt verschiedene Handlungsstränge zu einem soghaften Ganzen und wechselt dabei zwischen den Perspektiven. An vielem wird nur gekratzt, zum Beispiel am Thema Tier- und Pflanzenrechte, und manche Nebenfigur verliert sich auch im Nirgendwo. Aber trotz der verschlungenen, organischen Erzählweise verliert er nie die Frage, was mit Kryštof passiert ist, aus den Augen, bis hin zum großen Finale in Prag während des Jahrhunderthochwassers 2002. In der molochartig beschriebenen Hauptstadt ist der Kontrast zwischen Natur und Zivilisation besonders deutlich. „Der Wenzelsplatz ist der kranke Teil Prags, der völlig unabhängig von der jeweiligen Tages- und Nachtzeit ein Eigenleben führt“, sagt der Erzähler einmal. Die Tages- und Nachtzeit, die Übergänge zwischen Traum und Realität, Schlaf und Wachheit sind ein weiteres wiederkehrendes Motiv. „Schneller noch als durch Hunger stirbt man durch zu langes Wachbleiben. Hat das Gehirn zu lange nicht geträumt, muss man sterben. Bleibt der Geist zu lange rational, muss man sterben. Erlebnisse im Traum sind nicht weniger wirklich als Erlebnisse im Wachzustand.“ Das sagt der Erzähler einmal und es könnte auch eine programmatische Aussage darüber sein, dass die phantastische und die realistische Seite in diesem Roman zusammengehören. Marek Šindelka ist eine überzeugende Mixtur gelungen. „Der Fehler“ ist eigenständige Literatur und macht neugierig auf weitere Werke des jungen Autors.


Marek Šindelka: Der Fehler, aus dem Tschechischen von Doris Kouba, Residenz Verlag, 293 Seiten, 22 Euro

Autor: Annette Kraus
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