Vysoké Mýto: Neues Leben in alten Kasernen
Am 21. August 1468 zog der böhmische König Georg von Podiebrad durch die Stadt Vysoké Mýto in Ostböhmen. Wer konnte damals ahnen, was auf den Tag genau ein halbes Jahrtausend später hier passieren sollte. Am 21. August 1968 wurde die Tschechoslowakei von den Armeen des Warschauer Paktes besetzt. Die sowjetischen Soldaten kamen auch nach Vysoké Mýto, bleiben bis zur Wende und verließen das Land erst Anfang der neunziger Jahre. Vielerorts erinnern in Tschechien bis heute verwüstete Kasernen an die Einquartierung der sowjetischen Armee. In Vysoké Mýto ist das aber anders. Die ehemaligen Kasernen dienen heute der Öffentlichkeit.
Natascha musste sehr lange warten. Fast zweiundzwanzig Jahre lang. Denn Iwan blieb bis zum Jahre 1990. Laut Berichten aus dem Jahre 1968 hatten die sowjetischen Soldaten nur vorübergehend in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik stationiert werden sollen – Anlass für zahlreiche Witze über das Wort vorübergehend, tschechisch “dočasně“. Vorübergehend waren die Russen auch im ostböhmischen Vysoké Mýto. Die Stadt hat und hatte auch damals zirka zehntausend Einwohner. Seit Ende der sechziger Jahre war hier die gleiche Anzahl von Soldaten stationiert – ebenfalls etwa zehntausend, schätzt der Direktor des Regionalmuseums in Vysoké Mýto, Jiří Junek:
„Das sind Angaben, die schwer festzustellen sind. Es sind eher Schätzungen. Die Sowjets haben diese Informationen nie freigegeben. Man geht von den Angaben bei dem Abzug in den neunziger Jahren aus. Demnach ist das Verhältnis zwischen Soldaten und Einwohnern eins zu eins gewesen. Mir kommt die Zahl ziemlich hoch vor. Aber noch vor dem Jahr 1968 waren hier fünftausend tschechoslowakische Soldaten stationiert. Also waren mindestens fünftausend Russen da, aber es ist wahrscheinlich, dass es mehr waren.“Die Kasernen standen hier schon seit der Zeit der österreichischen Monarchie. Eine Soldatenstadt war Vysoké Mýto, zu Deutsch Hohenmaut, fast zweihundert Jahre lang. Heute erinnert an die Anwesenheit des Heeres noch die Straße “V Kasárnách“ („In den Kasernen“), die zwei Supermärkte voneinander trennt. Zwar haben auch hier die Supermärkte ihre Gegner, aber besser als verwüstete Kasernen sehen die Einkaufsmärkte allemal aus. An das Desaster, das die Anwesenheit der Truppen für die Stadtbürger bedeutete, erinnert sich auch der heutige Bürgermeister von Vysoké Mýto, Martin Krejza.
„Es bedeutete eine allmähliche Zerstörung der militärischen Objekte, ökologische Schäden, die Plünderung der Wälder in der Umgebung usw. usw. Ich sehe bis heute nicht Positives. Nur schlechte Erfahrungen. Nie mehr!“
Heute lebt die Stadt ihr eigenes Leben. Aus einem Teil der Kaserne sind zwei Supermärkte, ein Altersheim, eine Grundschule, ein Sportareal, eine Bäckerei, ein Spritzenhaus und Niederlassungen privater Firmen entstanden. Vor der Besatzung 1968 dienten die militärischen Objekte der Tschechoslowakischen Armee. In der Euphorie über den Abzug der russischen Truppe wurden sie aber an die Stadt übergeben, erklärt Jiří Junek vom Museum in Vysoké Mýto.„Das russische Kulturhaus dient einem privaten Unternehmen, das es als Firmensitz nutzt. Das ist eigentlich das Schicksal der meisten Kasernenobjekte, die heute vor allem Unternehmern dienen. In einem Teil ist außerdem das Stadtamt untergebracht und in manchen Kasernen ist heute die Feuerwehr untergekommen.“
Achtzig Menschen, Senioren und Behinderte, leben heute in dem Heim, das am Rande der Stadt auf dem Kasernengelände entstanden ist. Das Heim entstand schon Anfang der neunziger Jahre, als die sowjetische Armee wegging, in einem Haus, das hier die Soldaten gebaut haben. Dieses Haus ist, wie andere Plattenbauten in der Siedlung, mit Baugenehmigung entstanden. Für die Sowjets war das aber keine Selbstverständlichkeit, sagt Jiří Junek.
„Es entstand eine Reihe von Bauten, z.B. wurde dort eine Bäckerei für die Truppen und vieles mehr gebaut. Aber das haben alles die sowjetischen Soldaten gebaut und es waren Schwarzbauten. Sie haben die örtlichen Behörden nicht gefragt. Kurz gesagt: das Gebiet der Kaserne haben sie für ihr eigenes gehalten und dort eben schwarz gebaut. Was die Plattenbauten angeht, das musste schon in Kooperation mit dem örtlichen Nationalausschuss sein. Aber was die Kaserne angeht, dort haben sie gebaut, was sie wollten und was ihnen eingefallen ist.“
Die Stadt Vysoké Mýto ist stolz auf den größten quadratischen Stadtplatz in Tschechien, obwohl man sich mit demselben Rekord auch in Budweis schmückt. Die historische Stadt, die seit dem Jahre 1307 zum Besitztum der böhmischen Königinnen gehörte, ist heute eine Industriestadt. Schon Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts wurde hier die Firma Sodomka Karosserie gegründet, die Karosserien für Autos herstellte. Heute gehört die Firma zum Iveco-Konzern und es werden hier Busse produziert.
Die Stadt wird von der breiten Hauptstraße Nr. 35 in zwei Hälften zerschnitten. Ist diese Straße auf Wunsch der Russen gebaut worden? Eine weitere Frage an den Historiker Jiří Junek.
„Was die Straße betrifft, da meine ich, dass es hier kein Druck seitens der sowjetischen Armee gegeben hat. Aber wahr ist, dass die Anwesenheit der Armee sich bestimmt in dem Aussehen der Stadt niedergeschlagen hat. Denn die Truppen brauchten neue Gebäude, zum Beispiel für die Unterkunft der Zivilisten und der Familienmitglieder. Sie haben also neue Wohnhäuser, neue Plattenbauten gebaut.“
Sagt Junek. Die Russen hatten eigene Schulen, Ärzte, Geschäfte. In der Stadt konnte man zwar Angehörige der russischen Truppen treffen, aber russische Aufschriften gab es hier nicht. Die hiesigen Einwohner begegneten den Soldaten oft.
„Sie gingen in die Kneipe um die Ecke, heute wird dort Kleidung verkauft. Sie gingen auch hier in die Kneipe zum Leitomischler Tor.“
„Ich wohne hier auf dem Hauptplatz. Hier waren sie oft, sie hatten hier das Kommando.“
Es gab ab und zu auch Zwischenfälle zwischen Tschechen und den Soldaten. Wenn aber Russen Probleme machten, mussten sie mit Strafen von ihren Offizieren rechnen. Der Bürgermeister von Vysoké Mýto Martin Krejza beschreibt das strenge Regime, das in der sowjetischen Armee herrschte.„Die gewöhnlichen Soldaten standen unter einem strengen Regime. Sie durften überhaupt nicht raus aus der Kaserne. Und wenn sie weggelaufen sind und erwischt wurden, wurden sie dafür auch hart bestraft. Also zu solchen Zwischenfällen kam es selten.“
Anderseits haben Tschechen mit den Soldaten Geschäfte gemacht. Kanister voller Benzin, Äxte und anderes Werkzeug, das in der sozialistischen Tschechoslowakei schwer zu bekommen war, haben Tschechen oft gegen Alkohol oder tschechoslowakisches Geld getauscht. Kurz vor der Wende öffneten sich die sowjetischen Geschäfte auch den tschechoslowakischen Bürgern. Die konnten sich hier zum Beispiel ihre ersten Videospiele kaufen.
Das Regionalmuseum in Vysoké Mýto ist jetzt auf der Suche nach Leuten, die sich an das alltägliche Leben in der russisch-tschechischen Stadt an dem Fluss Loučna erinnern, die spöttisch auch Loučnograd oder Iwanowo genannt wurde. Denn im kommenden Jahr jährt sich der 21. August 1968 bereits zum vierzigsten Mal.