Weihnachtsgeschichte aus dem früheren Prager Arbeiterviertel: Die Krippe von Žižkov
Es gibt sie aus Holz, Papier oder etwa Eis, genauso wie mit lebendigen Tieren. Die Rede ist von Weihnachtskrippen. Das Prager Viertel Žižkov hat jedoch sogar seine eigene, in der sich die biblische Weihnachtsgeschichte und die Historie dieses Teils der tschechischen Hauptstadt miteinander vermischen.
Die Žižkover Weihnachtskrippe ist mittlerweile für viele Prager schon ein Begriff. Dabei ist sie eine Neuerfindung und entstand erst 2018. Doch sie zeichnet sich dadurch aus, dass nicht die typischen Figuren zu sehen sind, sondern 30 Zentimeter hohe Stilisierungen von realen und erdachten Persönlichkeiten dieses Teils der Stadt an der Moldau. Und kein anderes Viertel Prags kann sich mit etwas Ähnlichem rühmen. Genau das sei auch das Ziel gewesen, schildert die Kunsthistorikerin Vlaďka Holzapfelová:
„Der Gedanke entstand schon vor mehr als zehn Jahren, als die damalige Bürgermeisterin des dritten Prager Stadtbezirks, Vladislava Hujová, für Žižkov etwas sehr Ungewöhnliches herstellen lassen wollte – etwas, das kein anderer Teil der Stadt hatte. Deswegen wandte sie sich an die Fachhochschule und Mittelschule für Kunstgewerbe in Žižkov, und das bereits mit der Idee einer Weihnachtskrippe. Die dortigen Lehrkräfte am Fachbereich Schnitzerei und Holzbildhauerei mit Richard Pešek an der Spitze kamen ihr entgegen. So entstand der erste Teil der Krippe.“
Insgesamt 36 Figuren wurden angefertigt. Dabei wurde die Szenerie aus Bethlehem eben nach Žižkov verlagert. Michal Vronský (Top 09) ist seit 2022 der Bürgermeister des Stadtteils und sagte gegenüber Radio Prag International:
„Da es die Žižkover Weihnachtskrippe ist, sind die Figuren alle irgendwie mit unserem Stadtteil verbunden. Und zeitlich wurde dies ungefähr auf die Epoche der Ersten Tschechoslowakischen Republik eingegrenzt.“
Konkret bedeutet dies, dass sich die Figuren auf Menschen beziehen, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gelebt haben und dementsprechend auch gekleidet sind. Damals handelte es sich um ein Arbeiterviertel, heute gilt dieser Teil Prags als besonders bunt – mit zahlreichen Roma-Familien, die hier leben, sowie mittlerweile ebenso Ausländern. Und Žižkov ist für seine Kneipenszene bekannt, unter anderem mit der legendären Underground-Pinte U Vystřelenýho voka (Zum ausgeschossenen Auge).
Heilige drei Könige mit Masaryk
Doch zurück zur Weihnachtskrippe. Noch bis Ende Januar ist sie im Informationszentrum des dritten Stadtbezirks ausgestellt. Dabei hat sie nicht hauptsächlich mit der Bibel zu tun.
„Ab 2014 entstanden die ersten Figuren – und zwar die heilige Familie und die heiligen drei Könige. Letztere werden vom ersten Bürgermeister der damaligen neuen Prager Vorstadt, Karel Hartig, dem tschechoslowakischen Staatsgründer Tomáš Garrigue Masaryk sowie vom Habsburger Kaiser Franz Joseph I. gebildet“, so Eva Slezáková, die Leiterin des Infozentrums.
Die heilige Familie ist auch im Geist der Zeit gehalten – Josef mit Arbeiterkappe, Maria mit einem Damenhut der 1920er Jahre und der kleine Jesus im Kinderwagen damaliger Mode.
An den heiligen drei Königen ist wiederum zu sehen, dass die Krippe eine doppelte Symbolik hat. Dies sei der Grundgedanke gewesen bei ihrer Fertigung, greift Holzapfelová den Gedanken auf…
„Die Idee war ja eine Krippe mit Figuren, die historische, literarische oder legendäre Persönlichkeiten darstellen, die etwas mit Žižkov zu tun haben. Eines ist daher die geschichtliche Ebene. Doch die zweite Ebene ist das Geschehen aus der Bibel, das mit der Geburt Jesu und den Umständen dieses Ereignisses den Hintergrund bildet“, schildert die Kunsthistorikerin.
Und so können unterschiedliche Figuren gewissen Personen aus dem Neuen Testament zugeordnet werden:
„Darin besteht eben gerade das Doppelschichtige. So haben wir in der Krippe einen Metzger mit einem Schweinskopf, der sogenannte Unschuldswürste im Angebot hat. Er stellt den Herrscher Herodes dar. Des Weiteren gibt es hier den braven Soldaten Schwejk, der den biblischen Lazarus abbilden soll. Zudem findet sich hier ein Polizist, der den heiligen Longinus verkörpert.“
Weitere Figuren zeigen zum Beispiel den Schriftsteller Jaroslav Hašek, die Malerin Toyen, die übrigens ihre Beine über den Rand der Krippe baumeln lässt und hinausschaut, den Musiker und Komponisten Jaroslav Ježek oder etwa den legendären fiktiven Erfinder Jára Cimrman.
Sie alle sind in eine Szenerie von Häusern des Stadtteils eingepasst, die Gebäude wurden aus Spanplatten geschnitten. Als Kulisse im Hintergrund dient ein zeitgenössisches Schwarz-Weiß-Foto der Silhouette von Žižkov. Auch die Krippe selbst ist in einem leichten Braunstich gehalten, der an alte Fotografien erinnert.
Die Figuren stammen aus der Werkstatt von Richard Pešek. Sie seien allerdings keine Holzschnitzereien, betont er:
„Die Figuren werden zunächst aus Lehm geformt. Dann wird daraus eine Gussform aus Silikon hergestellt. Das hat zum einen den Vorteil, dass diese Form auch mehrfach eingesetzt werden kann. Wir haben das etwa bei der Pfadfindergruppe ‚Rychlé šípy‘ (Schnelle Pfeile, Anm. d. Red.) genutzt, außerdem lässt sich so die entsprechende Figur ersetzen, falls sie kaputtgehen sollte. Zum anderen kann ich mit der Gussform dann eine Figur aus Kunstharz gießen. Dieses Material ist sehr beständig und robust. Und es lässt sich zum Schluss gut mit Ölfarben bemalen.“
Für eine Figur brauche er rund 16 Stunden, so Pešek.
Jedes Jahr neue Figuren
Ursprünglich nicht als solches geplant, ist die Žižkover Weihnachtskrippe mittlerweile ein „Work in Progress“. Denn jedes Jahr kommen neue Figuren hinzu. Die Anregung dazu kam von Bürgermeister Vronský, und dieser schildert:
„Als ich mein Amt antrat, galt die Weihnachtskrippe vonseiten des Autors als abgeschlossene Sache. Er wollte keine Figuren hinzufügen. Ich sagte ihm aber, dass ich das schade fände und froh wäre, jedes Jahr wenigstens eine Figur hinzuzufügen. Ich dachte mir, dass das zu so etwas wie einem Familienritual werden könnte – dass also die Menschen immer im Advent im Informationszentrum vorbeikommen, um sich die neue Figur und die ganze Krippe anzuschauen.“
Im vergangenen Jahr wurde beispielsweise die Figur der tschechischen Widerstandskämpferin Marie Moravcová hinzugefügt. Sie hat während der deutschen Besatzung den beiden Attentätern auf Reinhard Heydrich geholfen. Nach ihrer Verhaftung durch die Gestapo schluckte sie am 18. Juni 1942 eine Kapsel mit Zyankali und beging so Selbstmord.
Die neue Figur für dieses Jahr knüpft an Moravcová an. Denn es handelt sich um die eines mutigen Mannes: des evangelischen Theologen und Pazifisten Přemysl Pitter. Der gebürtige Prager war nach seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg in der internationalen Bewegung der Kriegsdienstverweigerer aktiv. Im Stadtteil Žižkov wurde er zum Bevollmächtigten für die Kinderfürsorge. Dazu ließ er eine Tagesstätte bauen, das sogenannte Milič-Haus. Der Vorschlag für die Figur kam von Magdaléna Faltusová. Sie ist Historikerin beim Přemysl-Pitter-Archiv in Prag und sagt:
„Přemysl Pitter und seine Freunde waren alle ehrenamtlich tätig und engagierten sich nach der Arbeit. Zunächst kümmerten sie sich in angemieteten Räumen um die Kinder des Stadtteils. In den 1920er Jahren sammelten sie aber von Privatspendern dann Geld, um das Milič-Haus zu bauen. Es dauerte jedoch lange, bis sie die nötige Summe beieinander hatten. Das Haus wurde erst an Heiligabend 1933 eröffnet.“
Auch während des Zweiten Weltkriegs, also zu Zeiten des „Protektorats Böhmen und Mähren“, kümmerte sich Pitter weiter um Kinder. Dabei unterstützten er und seine Helfer heimlich auch verfolgte jüdische Familien. Und er schmiedete den Plan, später jenen Kindern zu helfen, die aus den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern wieder heimkehren würden.
„Schon 1944 begann er mit diesen Plänen. Als dann der Krieg zu Ende war, gelang es ihm sehr schnell, auf Schlössern um Prag herum Erholungseinrichtungen für Kinder aus den KZs aufzubauen. Wegen seines Charismas hatte Pitter die Gabe, viele Menschen für seine Wohltätigkeitsprojekte zu gewinnen. All diese Leute waren wie er mit ganzem Herzen dabei“, so Magdaléna Faltusová.
Doch Přemysl Pitter griff ebenfalls ein, als es den Kindern deutschsprachiger Familien schlecht ging:
„Als die Aussiedlung der Deutschen beschlossen war, kamen auch viele Kinder zusammen mit ihren Familien in Internierungslager. Da Pitter davon ausging, dass der Nachwuchs nichts für die Schuld seiner Eltern konnte, nahm er ebenso die deutschsprachigen Kinder in seine Erholungseinrichtungen auf den Schlössern auf. Das führte zu hässlichen Kommentaren in der zeitgenössischen Presse der Tschechoslowakei und von vielen Menschen hierzulande. Ihm gelang es dennoch, die Behörden und weitere Institutionen davon zu überzeugen, dass er die deutschen Kinder in sein Programm aufnehmen darf.“
Nach der kommunistischen Machtüberahme vom Februar 1948 geriet Pitter mit seinem christlichen Hintergrund unter Druck. Er emigrierte zunächst nach Westdeutschland und kümmerte sich dort um Flüchtlinge. 1962 zog er in die Schweiz, wo er beispielsweise ab 1968 emigrierten Tschechoslowaken half. Přemysl Pitter starb 1976.
Nun findet sich seine Figur in der Žižkover Weihnachtskrippe, natürlich ebenfalls gefertigt von Richard Pešek. Und Kunsthistorikerin Holzapfelová ist stolz auf diesen Zuwachs:
„Die Geschichte von Přemysl Pitter lässt sich mit der von Nicholas Winton vergleichen. Sie zeugt vom Heldentum eines Menschen, der beharrlich Gutes tat. Nicht nur in der heutigen Zeit, sondern immer wieder sollte an solche Geschichten von Wohltätern erinnert werden – und das besonders in der Weihnachtszeit.“
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